Dieser Essay wurde von Benedikt Köhler als Bewerbung für das Young Professionals Seminar „How to strengthen the Eurozone“ erstellt, das am 17. und 18. Oktober 2019 in Lissabon stattfindet. Weitere Bewerbungstexte veröffentlichen wir in den nächsten Wochen in unserer Rubrik „Young Euroepan Voices“.
In einer gemeinsamen Erklärung von 2004 betonten die europäischen Staats- und Regierungschefs, dass
[…] ein nach schmerzlichen Erfahrungen nunmehr geeintes Europa auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Grundlage seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will […].
Schon damals, vor 15 Jahren, hätte das gemeinsame Streben nach Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität als idealistisch angesehen werden können. Heute hat sich die Europäische Union noch weiter davon entfernt, mit einer Stimme zu sprechen, und ist daher noch weniger in der Lage, sich den unvermeidlichen Herausforderungen auf dem eingeschlagenen Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zu stellen.
Die Europäische Union ist mit zahlreichen externen Herausforderungen konfrontiert, einige von ihnen gehören zu den größten, denen sich die Menschheit jemals stellen musste. Themen wie der Klimawandel, die Ernährung zukünftiger Generationen oder der Aufstieg der künstlichen Intelligenz und ihre Auswirkungen auf Leben und Gesellschaft erfordern hohe Aufmerksamkeit und koordiniertes, durchdachtes Handeln. Darüber hinaus schreit die geopolitische Situation nach einem vereinten Europa, das als globaler Akteur agiert: Chinas Streben nach geopolitischer Dominanz und wirtschaftlicher Führung durch die Belt and Road Initiative scheint die Mitglieder der EU zu überfordern. Sie präsentieren sich als Flickenteppich mit halbgaren Strategien und bilateralem Vorgehen: Einige Nationen kooperieren bereits, einige verweigern sich, andere fordern Reziprozität. Die Schwächung des transatlantischen Bündnisses gibt uns die Möglichkeit, unsere Rolle in der Welt neu zu definieren, doch aktuell sind wir hauptsächlich mit uns selbst beschäftigt und riskieren, machtlos und abhängig zu werden, ohne unser Schicksal selbst in der Hand zu haben.
Intern leidet die EU unter der Illoyalität einiger ihrer Mitglieder; Populisten in verschiedenen Nationen spielen das alte Spiel, externe Akteure für innenpolitische Probleme verantwortlich zu machen. Die Wähler in Italien, Ungarn, Polen usw. sind darauf hereingefallen, da die Union die aus der Krise resultierenden sozialen und wirtschaftlichen Fragen nicht zufriedenstellend beantworten konnte. So dringen nun Skeptiker und Schwarzseher in die inneren Kreise der Union ein. Dies führt zu zunehmenden Meinungsverschiedenheiten in den wichtigen Organen der EU (Rat und Parlament) und behindert deren Entscheidungsprozess, der, insbesondere bei wichtigen Entscheidungen im Rat, oft Einstimmigkeit erfordert.
Wie so oft kann uns der Blick in die Vergangenheit eine Lehre sein: Die Lage ist in gewissem Maße vergleichbar mit der Situation in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre: Die Wirtschaftskrise hatte zu sozialer Not und einem instabilen, radikalen politischen Umfeld geführt, das eine umsetzungsstarke Regierung erfordert hätte. Leider führte die Gestaltung der Institutionen und Verwaltungsprozesse zu Stagnation und schließlich zu politischem Stillstand, der es populistischen Parteien leicht machte, die herrschende Elite anzuprangern und somit zunächst Akzeptanz und anschließend Wähler zu gewinnen.
Wenn die EU dem Schicksal entkommen will, ihre Macht an ihre inneren Feinde zu verlieren und von der Gunst anderer abhängig zu werden, muss sie die Flucht nach vorn antreten und den Weg zurück zu einer echten Union finden, die sich ihres gemeinsamen Schicksals bewusst ist. Wenn wir die Zukunft der Welt mitgestalten wollen und auf Mitsprache bestehen, wenn die eingangs genannten Herausforderungen der Menschheit angegangen werden, müssen wir zusammenstehen und mit einer Stimme sprechen. Mehr Macht muss von den nationalen Regierungen auf die Union übertragen werden, damit sie sich auf Augenhöhe mit anderen großen Akteuren wie China und den USA treffen kann, ohne nur ein Unterhändler der nationalen Regierungen zu sein.
Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ist idealistisch, aber meiner Meinung nach muss sie das Ziel, der Zweck der Europäischen Union sein. Das am Anfang dieses Textes verwendete Zitat ist ein Ausschnitt aus der Präambel des Vertrags über eine Verfassung für Europa, der Teil der Bemühungen war, der Europäischen Union eine gemeinsame Verfassung zu geben. Die gemeinsame Nutzung einer Verfassung führt zu mehr gegenseitigem Vertrauen, einer gemeinsamen Vision und gemeinsamen Werten. Leider wurde der Vertrag nicht ratifiziert, da das Referendum in zwei Ländern scheiterte.
Meiner Meinung nach sollte dieses Projekt wiederbelebt und eine gemeinsame Verfassung geschaffen werden, die schließlich die nationalen Verfassungen ersetzen könnte. Die Neudefinition der gemeinsamen Nenner wird eine Diskussion über die Grundidee und die Werte der Union eröffnen und eine langfristige Vision bekräftigen. Natürlich kann eine gemeinsame Verfassung den Mitgliedern nicht in einem Top-down-Ansatz auferlegt werden, und kein nicht zustimmendes Mitglied ließe sich zur Teilnahme zwingen. Um ein erneutes Scheitern des Ratifizierungsprozesses zu verhindern, sollte die gemeinsame Verfassung vielmehr genauso eingeführt werden wie der Euro: Jeder, der an dieses gemeinsame Projekt glaubt, darf teilnehmen. Nationen, die von Anfang an mitwirken, haben die Möglichkeit, die Inhalte zu beeinflussen – Nachzügler können später beitreten. Eine gemeinsame Verfassung würde die europäische Gesetzgebung erleichtern, die nationalen Gesetze ließen sich mehr und mehr angleichen. Es könnte ein Neuanfang für eine Bewegung sein, die die Trennung überwindet und sich auf die Integration konzentriert.
Im Zuge der Neudefinition der Grundregeln der europäischen Zusammenarbeit könnten auch die Mängel der derzeitigen institutionellen Architektur behoben werden. Bei der Neubesetzung des Präsidenten der Europäischen Kommission konnten wir bezeugen, wie wenig Mitspracherecht bei der Machtverteilung die Bürger Europas noch immer haben. Wir werden durch ein Parlament vertreten, das seine Macht hauptsächlich reaktiv ausüben darf: Gesetzesvorschläge und der Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten können nur gebilligt, nicht vorgeschlagen werden. Dies ist eine erhebliche Einschränkung, der größte Teil der Macht liegt bei der Kommission und dem Ministerrat.
Die Nichteinhaltung des Versprechens, das Votum der Bürger zu respektieren, führt zu Frustration, die letztlich die Union schwächt. Als zweite Maßnahme, um die EU zukunftsfähig zu machen, schlage ich die Umsetzung demokratischerer Prozesse innerhalb der Institutionen vor. Analog zum deutschen politischen System sollte das Vorschlags- und Akzeptanzrecht umgekehrt werden: Das zentrale, direkt gewählte Parlament hat die aktive Rolle bei der Verhandlung und dem Vorschlag von Gesetzen, der Rat der regionalen (oder im Falle Europas der nationalen) Vertreter das Recht auf Ablehnung und Akzeptanz. Dieser Ansatz würde die Stimme der Bürger und ihre Akzeptanz der Union stärken, die Gesetzgebung wäre demokratischer und weniger von individuellen, nationalen Interessen geprägt. Dennoch würden die Nationen eine Aufsichtsfunktion behalten, da kein Gesetz gegen ihren Willen erlassen werden könnte. Auch das Konzept der Einstimmigkeit sollte überdacht werden; um die Benachteiligung einzelner Länder zu verhindern, könnte die Schwelle für die erforderliche Mehrheit besonders hoch gesetzt werden, z.B. auf 75%.
Auch hier kann die Union nur dann an Macht gewinnen, wenn die Mitglieder sie abtreten. Der Europäische Rat ist dafür zuständig, eine solche Regeländerung einzuleiten, die seine eigene Macht einschränken würde. Im Laufe der Geschichte wurden große Restrukturierungsmaßnahmen von großen Krisen beziehungsweise, wie im Einführungszitat erwähnt, von schmerzlichen Erfahrungen getrieben. Es scheint der typische menschliche Ansatz zu sein, Veränderungen zu verzögern, bis der äußere Druck zu hoch wird. Wir als europäische Bürger sollten bestrebt sein, unser Schicksal aktiv in die eigenen Hände zu nehmen und Veränderungen zu fordern, bevor wir uns in einer festgefahrenen Situation wiederfinden.
Benedikt Köhler ist Assistent der Geschäftsführung der RGM Holding in Dortmund.