Ich wurde im Juli 1994 geboren und bin am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Herzen der Europäischen Union aufgewachsen. In einer friedlichen Zeit des Wohlstands und der Möglichkeiten, von denen ich als Kind, als Jugendlicher und als Student bis heute profitiert habe. Ich kenne aus eigener Erfahrung kein anderes Leben als dieses, das mit den Vorteilen unserer Staatengemeinschaft einhergeht.
Geprägt hat mich bei diesem Aufwachsen allerdings jemand, der viele Jahre vor mir im Mai 1926 in Osteuropa geboren wurde: mein Großvater Josef. Er wuchs in einem ganz anderen Europa auf, wurde mit 17 Jahren zwangsrekrutiert, erhielt einen Schnellkurs im Umgang mit dem Maschinengewehr und wurde als Soldat im Zweiten Weltkrieg an die Front geschickt. Knapp zehn Jahre später, kurz nach seinem 26. Geburtstag, endete diese dunkle Episode seines Lebens, in der ihm der Krieg Familienangehörige, Freunde und seine Jugend raubte.
Wie er haben Millionen seiner Generation gelitten. Die Zeit, die ich mit meinem Großvater verbringen durfte, und der Austausch, den wir als Europäer verschiedener Generationen miteinander hatten, haben in mir ein wichtiges und starkes Bewusstsein dafür geschaffen, wie blutig und steinig der Weg zu einem vereinten Europa war. Seine Stimme war die Stimme aus einer anderen Zeit, die mich an die Vergangenheit erinnerte und mir gleichzeitig zeigte, dass soziale Innovation und Fortschritt in der Europäischen Union münden können. Seine Stimme hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich für Frieden und Zusammenhalt einzusetzen.
Im April 2022 ist mein Großvater gestorben, seine Stimme ist verstummt. Ich kann immer noch darüber sprechen und sie weitergeben, aber durch mich klingt sie leiser, weil ich die Vergangenheit des kriegsgeteilten Europas nicht erlebt habe. Und gerade jetzt, angesichts des Krieges am Rande Europas und des zunehmenden Populismus auf unserem Kontinent, wäre es wichtig, diese Stimme zu hören, die Stimme der Zeitzeugen.
Aber diese Stimmen werden immer weniger und haben oft keine Bühne in der Öffentlichkeit. Keinen Rahmen, der sie an der richtigen Stelle und zu den richtigen Themen zu Wort kommen lässt und sie in einen Dialog mit den jüngeren Generationen bringt.
Gerade für die Generation der Erstwählerinnen und Erstwähler bei den kommenden Europawahlen wäre die Möglichkeit eines solchen Dialogs eine große Chance, der Europäischen Union auf die Spur zu kommen, ihren Wert kennenzulernen und ihren Ursprung als Friedensprojekt emotional zu erfassen, um dann folgerichtig für die Einheit und gegen die Spaltung aufzustehen und zu wählen.
In meinem Politikstudium habe ich oft gehört, dass sich die Geschichte der Teilung und des Zusammenfindens nach einer Katastrophe wiederholt und dass die Probleme der Menschlichkeit und des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf der Metaebene heute die gleichen sind wie vor hunderten von Jahren. Die Stärke von uns Europäern liegt in der Vielfalt, nicht nur in der Vielfalt unserer wunderbaren Kulturen und Sprachen, sondern auch in der Vielfalt unseres Alters.
Die ältere Generation kann authentisch von der Vergangenheit erzählen. Sie kann warnen, erinnern und durch ihre Erfahrungen Hoffnung geben; ja, sie schafft eine emotionale und lebendige Verbindung zur Europäischen Union, die kein Vertrag oder ein Lehrbuch über Europa ersetzen kann. Das muss kultiviert werden, um den Kreislauf des Lernens zu schließen und das Friedensprojekt der Europäischen Union gegen populistische Angriffe und extreme Tendenzen zu verteidigen und zu bewahren.
Im Hinblick auf die anstehenden Wahlen sollte der Austausch zwischen Jung und Alt, wie ich ihn privat mit meinem Großvater erlebt habe, geöffnet und in die Öffentlichkeit, auch in die Institutionen, getragen werden. Dieser Dialog zwischen den Generationen und der Kontakt mit Zeitzeugen, der die europäische Idee in sich trägt und von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben wird, muss organisiert werden. Es müssen Formate gefunden werden, um junge Menschen über Europa zu informieren und explizit junge Wählerinnen und Wähler zu aktivieren und das “Warum” hinter Europa verständlich und zugänglich zu machen.
Die Möglichkeiten der Digitalisierung sollten auch stärker genutzt werden, um die Erinnerungen und Stimmen unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger – Politikerinnen und Politiker, Menschen aus der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft – aufzuzeichnen und zu verbreiten, damit sie auch nach ihrem Tod mehr sind als nur ein Flüstern oder eine Erinnerung. So könnten wir ihre wertvollen Erfahrungen in moderne Lehrmethoden für die Erziehung zu europäischen Werten und europäischem Geist einfließen lassen, insbesondere im Vorfeld von Wahlen.
Die jungen Generationen müssen in die Lage versetzt werden, die Europäische Union mitzugestalten. Es wäre fatal, wenn sie neben dem Drang nach Innovation in Wirtschaft und Technik nicht auch die Stimmen der älteren Generation in ihren Herzen tragen und den Wert der Pflege unserer beispielhaften Einheit und der Errungenschaft der Überwindung unserer einst trennenden Grenzen bewahren würden.
Ein Artikel von Fabian Lukas Goslar. Fabian ist Young Advisor bei United Europe, hat an der Universität von Passau seinen Bachelor in “European Studies” und in Wien den Master in Politischen Wissenschaften gemacht. Heute arbeitet er als NGO-Gründer für “Intergenerational Intelligence” und unabhängiger Workshop Facilitator.