Europa ist in der Mythologie selbst eine Frau, eine Prinzessin, die von einem Gott – in der Gestalt eines Stiers – gen Westen entführt wird. Und wenn wir dieses Bild betrachten, dann stellen wir fest, dass Europa immer in Bewegung ist. Denn – um wieder von unserer Gegenwart zu sprechen – Stillstand bedeutet Niedergang. Und Europa hat sich viel zu lange als eine Festung begriffen, die glaubte, sich nur um den eigenen Wohlstand und Frieden und nicht um den Rest der Welt kümmern zu müssen.
Aber hier hat uns die Zuwanderung von Flüchtlingen und Migranten gelehrt, dass wirtschaftliche Globalisierung immer auch soziale und politische Verantwortung impliziert. Und hier steht das demokratische Europa, das für Freiheit und Frieden und soziale Gerechtigkeit steht, vor einer großen Herausforderung. Manchmal denke ich, dass viele Menschen gar nicht mehr sehen, wie sehr Europa fasziniert, wie sehr es die ganze Welt geprägt hat und weiterhin prägt. Vielleicht ist dies ja gerade der Punkt: Diejenigen von uns, die zugewandert sind, haben sich für Europa entschieden.
Für jene von uns, die nachdenken, ist der Friede, etwa zwischen Deutschland und Frankreich, nicht nur ein Geschenk, sondern auch eine Hoffnung für den Rest der Welt. Für jene von uns, die Kriege und die Bedrohung durch Grenzen erlebt haben, ist es bewegend, den Rhein ohne jede Passkontrolle überqueren und in jeder Stadt Menschen aus anderen europäischen Städten Europas treffen zu können. Für jene von uns, die aufgrund ihrer Herkunft, Volks- oder Religionszugehörigkeit Verfolgung erlitten, ist es zugleich ungewohnt und befreiend, sich ohne den Schutz einer Gruppe, eines Stammes, einer Männerzusage frei bewegen zu können.
Ich möchte gar nicht behaupten, dass wir – die wir nach Europa zugewandert sind – allesamt mutiger sind. In mancher Hinsicht sind wir vielleicht sogar ängstlicher, da wir spüren und ahnen, wie wertvoll und zerbrechlich vieles ist, was manche Alteingesessenen nicht einmal bemerken oder für selbstverständlich halten. So bin ich oft gefragt worden, ob ich meinen Buchtitel „Deutschland ist bedroht“ so gewählt hatte, um einen Effekt zu erzielen. Tatsächlich war es jedoch andersherum – dieser Buchtitel drückt ein Gefühl aus, das viele Migranten und Deutsche mit Migrationsgeschichte nachvollziehen können, wenn wir hasserfüllte Pegida- Demonstranten oder grabschende Jungmänner sehen. Wir wissen, was es heißt, wenn sich Mehrheiten gegen Minderheiten wenden oder wenn Männer versuchen, Frauen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Wir wissen, dass sexualisierte Gewalt nie nur auf den Körper zielt, sondern auch auf den Ruf und die Seele.
Europa ist nicht zufällig eine Frau. Und nur wenn die Richtung stimmt, dürfen sich unsere Begleiter wie Götter fühlen. Denn Liebe und Lachen sind nur dann ehrlich, wenn die Augenhöhe stimmt. Freiheit wird erst dann Freiheit, wenn sie wirklich für alle gilt. Freiheit ist ohne Sicherheit nicht zu haben. Das wissen alle, die aus Kriegsgebieten kommen, aber auch in Stadtteilen leben, wo es Bandenkriminalität gibt. Sicherheit ist dort gegeben, wo wir gleiche Rechte und Pflichten in einem demokratischen Ganzen wahrnehmen, uns auf gleiche Werte berufen und diese unmissverständlich einfordern. Freiheit ist ein höchst gefährdetes Gut, das es jeden Tag zu verteidigen gilt. Dafür kämpfe ich, seit ich mich erinnern kann, denn für mich waren diese Werte nicht selbstverständlich, sondern ich musste sie mir hart erkämpfen, hier wie im Ausland. Weil es universelle Werte sind, auf die meine Welt, der ich lange angehört habe, angewiesen ist – auf existenzielle Weise.
Und darum ist mein Appell an uns hier in Europa: Habt keine Angst vor der Angst.
Seid mutiger, entschlossener und resoluter im Kampf für den Frieden und für unsere Werte. Es war der erste Bundeskanzler von Deutschland und einer der Väter der Einheit Europas, Konrad Adenauer, der davon sprach, dass das Wichtigste in der Politik der Mut sei.
Die Wertegemeinschaft Europas, das Wissen um die gemeinsamen Werte, das ist die Stärke Europas. Wertevermittlung beginnt in der Krippe, im Kindergarten, in der Schule, bei der Arbeit und im Alltag. Eine starke Demokratie vermittelt zuerst, was uns eint, und erst in zweiter Linie, wogegen wir sind. Eine starke Demokratie ist auf das Engagement, auf die Innovation, auf die Kreativität der Frauen angewiesen.
Europa bleibt dann Europa, wenn wir als Frauen und Männer gemeinsam gegen diejenigen stehen, die ausgrenzen oder belästigen wollen. Europa wurde und bleibt durch die Träume der Frauen und Kinder, der Migranten und Minderheiten stark, die in anderen Erdteilen noch unterdrückt werden. Freiheit ist ein Wagnis, immer – aber Europa zeigt doch jeden Tag, dass sich dieses Wagnis lohnt.
Düzen Tekkal ist Filmemacherin, Publizistin, Gründerin von “HawarHelp”, Frau Europas 2018 und Mitglied von United Europe. Ihr Text ist Teil des Buches “Europas Zukunft. 40 Visionen für die Welt von morgen”, das von der Stiftung für Zukunftsfragen anlässlich des Zukunftstages am 24. Mai veröffentlicht wurde.