„Europa ist in der Krise, Europa ist der Absteigerkontinent“, konstatierte Günther H. Oettinger auf der ersten European Economic Conference (EEC), die 2022 von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ESMT (European School of Management and Technology Berlin) und United Europe ins Leben gerufen wurde. „Sehen Sie hier nach zwei Jahren mittlerweile einen Lichtblick?“, wollte Heike Göbel wissen, verantwortliche Redakteurin für Wirtschaftspolitik bei der F.A.Z, die am 4. und 5. Juni 2024 durch die dritte European Economic Conference führte. Die ausführliche Antwort von Günther H. Oettinger können Sie am Ende dieses Posts lesen.
Über 260 Gäste hatten sich zu der Konferenz angemeldet, zwei Drittel davon waren Unternehmensvertreter, aber auch Vertreter von Stiftungen, Wissenschaft und Entscheidungsträger auf Landes- und Bundesebene waren vor Ort.
Gerald Braunberger, Herausgeber der FAZ, und Jörg Rocholl von der ESMT luden u.a. zum politischen Gespräch mit dem Chef des Bundeskanzleramtes Wolfgang Schmidt und dem Parteivorsitzenden der CDU Friedrich Merz.
Vorteil Europa – Warum Europa eine entscheidende Rolle spielt: „Die Europäische Union sei das größte nationale Anliegen Deutschlands“, zitierte Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt Bundeskanzler Olaf Scholz. „Für uns geht es immer darum, dass die EU prosperiert und Kompromisse möglich sind. Viele Bürger sind, wie Ivan Krastev einst festgestellt hat, unsicher, was die Zukunft bringt, haben Status- und Verlustängste. Aber wie können wir die Wettbewerbsfähigkeit und das Vertrauen der Bürger wiederherstellen? Drei Punkte haben hier oberste Priorität: vernünftige und bezahlbare Energiepreise, die Netzentgelte müssen reformiert werden, das Angebot an Flüssiggas muss erhöht werden, der Fach- und Arbeitskräftemangel und die Bürokratie müssen bekämpft werden. Strukturell muss der Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigt werden. Um das Ziel bis 2030 zu erreichen, 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien zu gewinnen, brauchen wir 43 Fußballfelder Photovoltaikfläche – und das jeden Tag bis 2030. Und jetzt die gute Nachricht: Wir sind schon bei 35 Fußballfeldern pro Tag.“
Das ganze Interview mit Wolfgang Schmidt können Sie hier sehen.
„Die EU muss wettbewerbsfähiger werden“, darin waren sich Merz und Schmidt einig, vor allem im Vergleich zu den USA und China. Ein weiteres Defizit der EU sei der fehlende einheitliche europäische Kapitalmarkt, so Merz. Unternehmen wie CureVac oder BionTech zögen die New Yorker Börse den europäischen Börsen vor. Auch muss laut Merz eine europäische Verteidigungsindustrie aufgebaut werden. „Wir sind mit unserer zersplitterten Industrie nicht in der Lage, wettbewerbsfähig zu sein. Von 100 Euro gehen 80 Euro an Unternehmen außerhalb der EU. Wir müssen aufhören, Spezifikationen bei Gemeinschaftsproduktionen so zu gestalten, dass es doch wieder nationale Projekte werden. Wir müssen zu Gemeinschaftsprojekten kommen. Wenn es nicht mit allen 27 Staaten geht, dann mit denen, die hierzu bereit sind“, so der Parteivorsitzende der CDU.
Das vollständige Interview mit Friedrich Merz können Sie hier sehen.
„Wie kann die Wirtschaft der Bürokratiefalle entkommen?“, fragten Peter Adrian, Präsident des DIHK, Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und Klemens Haselsteiner, Vorstandsvorsitzender der STRABAG SE. Wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit zurückbekommen wollen, müssen wir Vertrauen zurückgewinnen. Der sich auflösenden Sicherheitsgesellschaft bringt die Bürokratie ein Sicherheitsversprechen, das aber aktuell nicht mehr einlösbar ist. Es braucht Vertrauen in die Zukunft und in die Gesellschaft. Für den Transformationsprozess braucht es unternehmerische Freiheiten, wir brauchen schlanke und einheitliche Regelwerke. Europa muss über den Tellerrand schauen. Wie kriegen wir unsere Handelspolitik mit Amerika, China und Asien abgestimmt? Die Kommission muss Rahmenbedingungen setzen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen und der Wirtschaft die Luft zum Atmen lassen. Nach dem Green Deal muss auf die Bedürfnisse der kleinen Betriebe und der Industrie eingegangen werden.
Es folgten u. a. der Economy Talk mit u.a. Vanessa Cann (Co-Founder nyonic und Vorstand des KI-Bundesverbandes, und Julia Reuss (Public Policy Director für Zentraleuropa bei META), der Input zu dem US-Wahlkampf von Obamas Kampagnenberater Julius van de Laar, wirtschaftliche Impulsvorträge von Michael Kotzbauer (Vorstand der Commerzbank AG) und Wolfgang Meier (Vorsitzender der Geschäftsführung der Pirelli Deutschland GmbH) hatten die grüne Finanzierung und Investitionen in Hightech-Standorte zum Thema.
Günther H. Oettinger, Präsident von United Europe, der den zweiten Konferenztag der dritten European Economic Conference mit eröffnete, hatte auf die Eingangsfrage von Heike Göbel „Sehen Sie nach zwei Jahren einen Lichtblick für Europa?“ erst wenig Positives zu entgegnen, sah aber auch Chancen, die Europa nutzen sollte.
„Wir dachten immer, der Westen hätte gewonnen, das Demokratie exportiert werden würde, Strahlkraft und Anziehungskraft hätte. Und jetzt der Gegenschlag. Wir befinden uns mitten in einem Kampf der Systeme. Wie kann die Demokratie gegen Autokratie und Diktatur bestehen, wie die soziale Marktwirtschaft gegen die Planwirtschaft, wie kann der Frieden und Respekt vor Grenzen gewährleistet bleiben? Es geht um alles, um äußere, innere und Cyber-Sicherheit. Für unsere Sicherheit tun wir zu wenig. Wir brauchen ein Europa, das schützt, mit einem starken Deutschland, mit materiellen und finanziellen und regulatorischen Anstrengungen auch gegen Faschisten und Populisten von rechts und links.
Die Bürgerinnen und Bürger Europas erwarten, dass mehr für die Sicherheit getan wird. Länder, die an Russland grenzen, handeln bereits entsprechend. Es wird in Europa keinen Verteidigungskommissar geben, da es keine europäische Armee gibt. Aber es kann einen Rüstungskommissar geben, der die Rüstungsindustrie effizient entwickelt, der aus 16 Panzertypen zwei macht, der Standardisierungen voranbringt, Synergieeffekte bei Waffengattungen und die Bevorratung von Waffen und Munition auf europäischer Ebene sicherstellt.
Competitiveness
In den letzten fünf Jahren war das Wort „competitiveness“ in Brüssel nicht erwünscht. Aber jetzt haben wir aber eine Entwicklung, die den Green Deal in Frage stellt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angekündigt, dass es neben dem Green Deal ein Industrial Deal geben wird. Sicher ist, Klimaschutz ist das Gebot der Stunde. Aber wie Europa und Deutschland derzeit vorgehen, hat keine Vorbildfunktion. China ist für 33 % aller Treibhausgase weltweit verantwortlich, die USA für 16 %, Indien für 9 % Europe für 7 1/2 %, Deutschland für 2 %. Wenn wir keine kluge Balance von pragmatischem Klimaschutz, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit für Industrie und Mittelstand vorantreiben, und Wohlstand erhalten und vermehren, werden uns andere uns nicht folgen, dann sind wir kein Vorreiter.
Lissabon-Strategie
Im Jahr 2000 haben wir in Lissabon beschlossen, dass wir der innovativste und kreativste Kontinent der Welt werden wollen, seitdem fallen wir jährlich zurück. Die USA wachsen in diesem Jahr um 2 1/2 %, Europa um 1 %, Deutschland um 0,2 %. Und wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie nicht deutlich erhöhen, mit mehr Forschungsmitteln, mit längerer Lebens- und Wochenarbeitszeit, dann kommen wir nicht weiter.
„Competitiveness“ bedeutet, die Lebensqualität, den Lebensstandard, unsere Grundlagen erhalten und zukunftsfähig zu machen. „It’s the economy, stupid“: Das gilt für Europa in diesen Tagen mehr denn je. Mandatsträger in Brüssel müssen sich um Wirtschaftsförderung und Wachstum bemühen.
Welche Chancen hat Europa?
Horizon Europe
Wenn wir nicht mehr in europäische Forschungsnetze setzen und investieren, werden wir nie mit der Forschungskraft von Kalifornien, und Boston, Shanghai und Beijing mithalten können. Wir werden nicht mit Microsoft, Google, Apple, der amerikanischen Rüstung mithalten können. Aber im europäischen Team, Delft, München, Aachen, Darmstadt, Mailand, Oxford, London und Zürich haben wir das Potential, im europäischen Team haben wir die Exzellenz und die Kapazität. Deshalb brauchen wir mehr Mittel, dieses Netzwerk muss mit europäischen Mitteln gefördert werden.
Binnenmarkt
Die Kapitalmarktunion ist derzeit in aller Munde: Das Kapital in Europa fließt derzeit ab, es gibt nicht genügend Anreize für eine grundsätzliche Reform, dabei brauchen wir dringend auch einen Binnenmarkt für Geld und Investoren im gesamteuropäischen Kontext. Wenn die EZB die Leitzinsen senkt, wird eine Frage immer deutlicher: Was bedeutet Haushaltsdisziplin? Das fängt bei der Schuldenbremse in Deutschland an, geht über die Maastricht-Kriterien, betrifft die immens hohe Staatsverschuldung in Frankreich und Italien. Und ich glaube, dass das Triple A, die Bonität Europas und der Nationalstaaten ein Schwerpunkt der nächsten Jahre werden muss. Ich weiß nicht, ob ich es noch erleben werde: Irgendwann wird die Haushaltslage der USA platzen. Auf Dauer wird diese Entwicklung nicht erfolgreich sein.
Was aber passiert nach den Europa-Wahlen? Im Zeichen von Kriegen und Krisen sollte Europa nicht erst im Oktober wissen, wer was wird, wie die Spitzenposten besetzt werden. Europa, Macron, Scholz und Tusk sollten ihre Zusammenarbeit verstärken, Deutschland sollte seine Partner, wie Frankreich nicht brüskieren, indem es auf keinerlei Konzepte des Nachbarn eingeht.
Bürokratie
Frau von der Leyen hatte versprochen: One in one out! Das Ergebnis der europäischen Maschinerie war Four in one out! Carbon Border Adjustement Mechanism, Taxonomy, ESG, CSR, Corporate Sustainability Reporting Directive, sind nur einige der Auflagen, Gebote, Verbote und Berichtspflichten für europäische Unternehmen. Wir müssen aufrüsten in Sicherheit und abrüsten in Bürokratie. Auch dies muss ein Schwerpunkt werden, sonst werden Anti-Europäer auf dem Vormarsch bleiben.
Die Zeit des Abstiegs hat begonnen, für den Westen, für die Demokratie, für Wohlstand und Wachstum. Dem zu widerstehen wird die Kunst der Europäischen Union in den nächsten Jahren sein. Die EU muss in großen Fragen schlagkräftiger werden und in den kleinen Fragen die Menschen und die Mitgliedstaaten in Ruhe lassen.”
Die vollständige Rede von Günther H. Oettinger können Sie hier sehen.
Weitere Informationen und Videos zu allen Panels der dritten European Economic Conference finden Sie auf der Webseite der European Economic Conference unter dem folgendem Link.
SAVE THE DATE 2025
Wir freuen uns sehr, die European Economic Conference #4 ankündigen zu können. Über das Programm und die Gäste werden wir Sie rechtzeitig informieren.
Wir danken der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrem Herausgeber Gerald Braunberger, dem Team der F.A.Z.-Konferenzen und der ESMT für die erfolgreiche Konferenz und Zusammenarbeit.