Der Krieg in der Ukraine und die veränderte Sicherheitslage zeigen deutlich auf, dass die EU ein stärkerer und befähigter Akteur in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung werden muss. Der Strategische Kompass, am 21. März vom Europäischen Rat gebilligt, stellt einen ehrgeizigen Aktionsplan für die Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU bis 2030 dar. Zu diesem Thema diskutierte United Europe in Kooperation mit der Würth Gruppe am 1.6.2022 in der Vertretung des Landes Baden-Württemberg bei der Europäischen Union in Brüssel mit folgenden Gästen:
- Jean-Pierre van Aubel, Experte des europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) für Verteidigungspolitik und Verteidigungsstrategie
- Heli Tiirmaa-Klaar, Direktorin des Digital Society Institute, ESMT, Berlin, Sonderbotschafterin für Cyberdiplomatie und Leiterin der Abteilung für Cyberdiplomatie im estnischen Außenministerium
- Dr. Markus Kaim, Senior Fellow, Internationale Sicherheit, SWP
- Moderation: Rieke Schües, Geschäftsführerin United Europe, e.V.
Nachfolgend finden Sie die wichtigsten Aussagen der Diskussionsteilnehmer zum Strategischen Kompass
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, betonte in ihrem von Günther H. Oettinger zitierten Grußwort, dass Putins Aggression gegen die Ukraine die Notwendigkeit und Aktualität des Strategischen Kompass bestätigt. Seit Ende Februar haben mehrere Mitgliedstaaten substanzielle Investitionen in die Verteidigung angekündigt. Die Staats- und Regierungschefs haben sich verpflichtet, in den kommenden Jahren zusätzlich 200 Milliarden Euro für Verteidigungskapazitäten bereitzustellen. Doch Europa muss nicht nur mehr für seine Verteidigung ausgeben, sondern auch besser und gemeinsam. Nicht nur durch gemeinsame Forschung und Entwicklung im Verteidigungsbereich, sondern auch durch gemeinsame Beschaffung. Fragmentierung und Doppelarbeit sind der innere Feind. Investitionen in Höhe von 200 Milliarden Euro können neue Größenvorteile für unsere Verteidigungsindustrie erschließen, die zu niedrigeren Kosten, gezielteren Investitionen und größeren Kapazitäten zur Deckung des steigenden Bedarfs führen. Mehr als je zuvor erfordert die Verteidigung Europas ein gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten unserer Union.
„Eine kohärente und einheitliche europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist immer noch eine große Herausforderung” verdeutlichte Bodo Lehmann, Leiter der Vertretung des Landes Baden-Württemberg bei der Europäischen Union in Brüssel in seinem Grußwort. Vor ein paar Wochen, am 21. März dieses Jahres, billigte der Europäische Rat den sogenannten Strategischen Kompass. Ein wichtiger Schritt für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, so Josep Borell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Die Europäische Union muss zu Entscheidungsverfahren mit qualifizierten Mehrheiten und letztlich zu einer echten gemeinsamen EU-Außenpolitik kommen. Nur dann können die Europäer erfolgreich mit ihren Partnern agieren und kooperieren.
„Der Krieg in der Ukraine wird konventionell und mit Waffen aus dem letzten Jahrhundert geführt.” Günther H. Oettinger, Präsident von United Europe, betonte, dass der nächste Krieg oder der nächste Angriff auf Europa von digitalen Technologien ausgehen wird und Europa hierfür nicht ausreichend vorbereitet ist. Auch muss Europa mehr für seine östlichen Nachbarn, für die Ukraine, für Moldawien und Georgien tun. „Wir brauchen hier mehr europäische Teamarbeit und Solidarität mit der Ukraine.” Umso wichtiger ist die Diskussion zu dem Strategischen Kompass.
Jean-Pierre van Aubel, Experte des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) für Verteidigungspolitik und Verteidigungsstrategie erklärte, dass die EU mit dem Strategischen Kompass erstmals eine europäische Bedrohungsanalyse erstellt hat. Energiesicherheit, Ernährungssicherheit, der Klimawandel, regionale Konflikte rund um die Europäische Union und Cyberangriffe stellen große Herausforderungen für die Europäische Union dar. Das gilt auch für den Krieg in der Ukraine, der kein regionaler Konflikt ist, da hier eine globale Macht versucht, ihre Einflusssphären auszuweiten. Die Bedrohunganalyse ist die Grundlage des Strategischen Kompasses. Krisen wird es immer geben und die Europäische Union muss hier vorbereitet und handlungsfähig sein. Dafür soll u. a. eine EU-Schnelleingreifkapazität von bis zu 5000 Einsatzkräften aufgebaut werden.
Zudem muss die EU in den operativen Bereich investieren. Wie begegnet man hybriden Bedrohungen, wie wehrt man Cyberangriffe ab, wie gewährt man den Zugang zu strategischen Bereichen auf See und im Weltraum? Die EU sollte hier aber nicht einfach mehr Geld ausgeben, sie sollte es besser investieren.
Die aktuelle Krise hat zudem deutlich gemacht, dass die EU ist immer noch zu sehr von anderen Staaten abhängig ist. In diesen Tagen spricht jeder über die Abhängigkeit von Russland. Doch die Abhängigkeit von China ist um ein Vielfaches höher. Um hier die strategische Autonomie zu stärken, sollte die EU mit ihren Partnern gemeinsam handeln, z. B. die Zusammenarbeit mit der NATO, den Vereinten Nationen und der OSZE stärken. Damit die im Strategischen Kompass beschlossenen Maßnahmen auch in die Tat umgesetzt werden, haben die Mitgliedstaaten zugestimmt, jedes Jahr dem Europäischen Rat Bericht zu erstatten. Im März 2023 wird es hier einen ersten Bericht geben.
Dr. Markus Kaim, Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik, SWP, verdeutlichte, dass jeder um die Problematik weiß, in der Europäischen Union einen Konsens insbesondere in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu erreichen und hätte gerne mehr über die Zukunft der Beziehungen zwischen den USA und der EU in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung erfahren. „Die Betonung liegt auf den Beziehungen zwischen den USA und der EU, da wir dazu neigen, uns ausschließlich auf die NATO zu konzentrieren. Und das wäre meine nächste Frage: Wie müssen wir uns eine unabhängige EU vorstellen? Ich denke, das ist eine der Hausaufgaben, über die die europäischen Regierungen nachdenken müssen. Wir alle haben ein Interesse daran, die Europäische Union zu einem glaubwürdigen und effektiven Sicherheitsanbieter zu machen. Was wir hierfür dringend brauchen, ist eine politische Reform. Selbst wenn die EU militärisch erstklassig ausgestattet sein wird, bleibt die Frage: Wer entscheidet in Zukunft über den Einsatz militärischer Mittel?”
„Europa hat noch viele Lücken in seinen Verteidigungskapazitäten, die dringend geschlossen werden müssen.” Heli Tiirmaa-Klaar, Direktorin des Digital Society Institute, ESMT, Berlin, begrüßt die 81 Maßnahmen des Strategischen Kompasses. Im Ukraine-Krieg muss die EU Stärke und Macht zeigen, das ist das Einzige, was die Russen fürchten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um das konventionelle Militär oder um Cyber-Offensiven handelt. Gerade die Amerikaner werden Investitionen in die Verteidigung zu schätzen wissen, seit langen beklagen sie sich darüber, dass die Europäer zu wenig für Sicherheit und Verteidigung ausgeben. Was Cyber-Sicherheit angeht, haben wir den Kampf gegen Desinformation recht gut im Griff. In den letzten zehn Jahren haben wir viele Richtlinien, Verordnungen und andere regulatorische Dokumente erlassen. Trotzdem muss die EU in Zukunft hier ein ein deutlich höheres Niveau erreichen.
Das vollständige Grußwort von Ursula von der Leyen lesen Sie bitte hier.
Wir danken den Diskussionsteilnehmern für die engagierte Gesprächsrunde. Ein herzliches Dankeschön geht auch an unseren Kooperationspartner, die Würth Gruppe, insbesondere an Frau Schily und Frau Rau für die großartige Zusammenarbeit und an die Mitarbeiter der Landesvertretung Baden-Württemberg in Brüssel.