Am 21. März 2022 diskutierte United Europe mit hochkarätigen Gästen in der Bertelsmann-Stiftung (Berlin) die Auswirkungen des Angriffkrieges auf die Ukraine. Unabhängig davon, wie und wann dieser Krieg enden wird, hat er bereits jetzt eine humanitäre Katastrophe ausgelöst, jahrzehntelange Geschäftsbeziehungen auf den Kopf gestellt, die Diskussion über Selbstverteidigung und Militärausgaben und die europäische Energieversorgung verändert.
Welche geopolitschen Konsequenzen hat dieser Krieg, was droht der europäischen Wirtschaft? Dr. Katharina Gnath, Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung führte durch die Diskussion, auf dem Panel begrüßten wir Günther H. Oettinger, Präsident United Europe e. V., Prof. Dr. Alan Riley, Senior Fellow beim Atlantic Council, Washington DC, Dr. Daniela Schwarzer, Executive Director für Europa und Asien bei der Open Society Foundation und Stefan Kägebein, Regionaldirektor Ost-Europa im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e. V.
Höhepunkte der Diskussion
Katharina Gnath: Nach dem Krieg werden wir uns in einer neuen Situation wiederfinden. Das gilt für Deutschland, die europäische Union und die internationale Gemeinschaft, aber auch für die politischen und wirtschaftlichen Akteure. Wo stehen wir zuzeit bezüglich der europäischen Reaktion auf die russische Invasion? Was ist die geopolitische Rolle Europas?
Daniela Schwarzer: Wir kennen Putins endgültige Ziele nicht. Es zeichnet sich allerdings ab, dass es sich um eine ethnonationalistische Vision eines erweiterten Russlands handelt. Russland stellt das Recht auf einen eigenen Staat in der Ukraine, in Weißrussland und wahrscheinlich auch in weiteren osteuropäischen Staaten grundsätzlich in Frage. Putin wird sich vorerst nicht aus dem Krieg zurückziehen, es gibt keine Fortschritte bei den Verhandlungen. Auf der anderen Seite wehrt sich die Ukraine gegen diesen brutalen Angriff und will weitere Beziehungen zur EU und zu der demokratischen, westlichen und liberalen Welt aufbauen.
Die Reaktion der EU war schneller und entschlossener als alles, was nach 2014, nach der Annektion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ost-Ukraine, bisher geschah. Die Vereinigten Staaten forcierten eine öffentliche diplomatische Anstrengung, die in einer systematischen Offenlegung von Geheimdienstinformationen zu Putins Plänen bestand und mit einem ständigen Austausch mit den wichtigsten europäischen Akteuren in Brüssel kombiniert wurde. Dazu gibt es eine Reihe von wirtschaftlichen Sanktionen und es werden noch mehr folgen.
Der Zusammenhalt der europäischen Union ist positiv zu bewerten, doch die Kosten dieses Krieges werden enorm sein. Nicht nur die Kosten der Sanktionen sind zu berücksichtigen, 3.7 Millionen Menschen aus der Ukraine haben ihr Land verlassen, die Gesamtzahl der Vertriebenen beträgt 10 Millionen. Hier ist eine ehrliche Anstrengung der Lastenteilung zwischen der EU und ihren Nachbarn erforderlich. Dazu kommt die Debatte über Sicherheit und Verteidigung.
Zudem wird der Krieg möglicherweise eine weitaus größere geopolitische Dimension annehmen, sollte China eindeutig Partei ergreifen – bisher eine große Unbekannte.
Katharina Gnath: Der Krieg wird wahrscheinlich mittelfristig auch Auswirkungen auf die Art und Weise haben, wie wir unsere Wirtschaftspolitik gestalten. Welche Auswirkungen hat der Krieg bereits jetzt auf die europäische Wirtschaft und wie wirkt sich der Krieg auf die Zukunft des Binnenmarktes und seinen wirtschaftlichen Rahmen aus?
Günther H. Oettinger: Lassen Sie mich mit zwei Sätzen beginnen: Putin ist ein Kriegsverbrecher und Lügner. Es handelt sich hier um einen Genozid. Auch wenn die wirtschaftlichen Folgen dieses Krieges einschneidend sein werden, ist es zurzeit gerade um ein Vielfaches wichtiger, was in der Ukraine geschieht. Ukrainische Städte werden belagert – wie einst Aleppo oder Grosny. Aber wir fahren mit unserem Business as usual fort. Der Hauptverlierer ist die russische Wirtschaft. Sie wird in das Jahr 1930 zurückfallen. Der zweite Verlierer ist Europa, gefolgt von China.
Ich stimme zu, dass es beeindruckend ist, wie schnell und kollektiv Europa gemeinsam mit dem transatlantischen Team gehandelt hat. Aber Putin ist zu stark, zu mächtig, zu wütend! Wir müssen sehen, was wir zusätzlich für die Flüchtlinge tun können. Es wird nicht bei vier Millionen Flüchtlingen bleiben, 12 Millionen Menschen werden ihr Land verlassen. Wir werden Milliarden für den Wiederaufbau von Mariupol, Odessa und Kiew investieren müssen, dazu kommen die vom Kanzler erwähnten 100 Milliarden in die Ausrüstung der Bundeswehr. Ich denke, jeder Euro sollte für eine europäischen Armee ausgegeben werden. Deutschland sollte hier die Standards für eine europäische Armee 2040 entwickeln.
Katharina Gnath: Herr Oettinger erläuterte gerade, dass wir es in der Ukraine mit einem Kriegsverbrecher und einem Völkermord zu tun haben. Wir sollten unsere Werte entschlossen verteidigen und den Ukrainern helfen, aus dieser Krise herauszukommen. Wir sprachen auch über die Kosten der Wirtschaftssanktionen. Was ist Ihre Meinung, was raten Sie Ihren Unternehmen im Moment?
Stefan Kägebein: Russland ist in die Ukraine einmarschiert, ganz eindeutig ein Bruch des Völkerrechts. Was die wirtschaftlichen Folgen angeht, sollten wir zuerst an die Unternehmen denken, die in der Ukraine tätig sind und versuchen, ihre Produktion aufrechtzuerhalten. Wie sich die Auswirkungen der Sanktionen auf Russland auswirken werden, ist schwer vorherzusagen. Die Sanktionen werden in Russland nicht in den ersten Tagen zu spüren sein, aber die russische Wirtschaft und die Einwohner werden sie in den nächsten Monaten und Jahren zu spüren bekommen.
Für unsere Unternehmen ist es wichtig, dass wir uns an die gegebenen Regeln halten, die Sanktionen so umsetzen, wie sie vorgeschrieben sind. Die Unternehmen erwarten, dass wir hier klare Anweisungen geben und dass die Vorschriften, z. B. im Finanzsektor, umgesetzt werden können. Das ist aber manchmal nicht leicht. Wir haben hier in sehr kurzer Zeit eine Menge von Vorschriften erhalten, die wir Schritt für Schritt befolgen müssen. So wie wir es beurteilen können, haben die Unternehmen keine Einwände gegen die Sanktionen.
Katharina Gnath: Ich möchte noch einmal auf die Energiefrage eingehen. Das ist wahrscheinlich die schwierigste Frage, die sich Deutschland und Europa stellt. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck ist nach Katar gereist, um einen weiteren Vertrag über fossile Brennstoffe abzuschließen, der die Abhängigkeit von russischer Energie verringern soll. Was sollten die europäischen Politiker Ihrer Meinung nach in Bezug auf diese Energieabhängigkeit tun?
Alan Riley: Wir befinden uns am Ende einer Epoche und werden uns in einem neuen, uns unbekannten Zeitalter wiederfinden. Die Europäische Union ist zusammen mit den Vereinigten Staaten in einer stärkeren Position, als wir glauben. Wir müssen ein gewisses Maß an Vertrauen in diese Position haben. Wir können einiges tun, um mit der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas und den Abhängigkeiten Europas und Deutschlands umzugehen. Die von Russland gelieferten fünf Millionen Barrel Öl pro Tag liefern 40 % des russischen Steuersatzes. Die strategische Reserve in den Händen der Mitglieder der OPEC-Länder beträgt 1,5 Milliarden Barrel Öl. Wir können den Russen deutlich machen, dass wir auf die strategischen Reserven zurückgreifen können.
Katharina Gnath: Wenn das so einfach ist, warum sind die Menschen bezüglich der Energiefrage dann so nervös?
Alan Riley: Ein Teil des Problems ist, dass die politischen Entscheidungsträger in Brüssel, Berlin und in der gesamten Union und im westlichen Bündnis noch nicht wirklich umgedacht haben. Es braucht einige Zeit, um sich in eine andere Richtung zu bewegen.
Katharina Gnath: Das wird alles sehr teuer werden. Es wird sehr viel kosten in ein neues Energie-Model zu investieren. Wie können wir die Kosten auf bundesdeutscher- und europäischer Ebene stemmen?
Günther H. Oettinger: Dieser Krieg wird noch lange dauern. Putins Strategie ist es, das ukrainische Volk auszuhungern. Sollte die Hafenstadt Odessa in Putins Hände fallen, kann man jegliche Exporte und Importe vergessen. Gas aus Norwegen und den Niederlanden reicht für unsere 40 Millionen Haushalte in Deutschland, aber die deutsche Industrie ist sehr energieintensiv. BASF braucht jährlich mehr Energie als das ganze Land Dänemark. Wenn wir unsere pharmazeutische und chemische Industrie, Stahl, Kupfer, Aluminium in den Bankrott treiben wollen, dann brauchen wir kein Gas von Putin! Es erstaunt mich sehr, dass meine Partei, Merz und Röttgen, Gasimporte blockieren wollen und ein grüner Minister erkärt, dass wir genau dieses Gas brauchen. Katar! Eine gute Idee, aber wir haben keine LNG-Terminals! Kein Schiff kann nach Deutschland kommen! Während Polen und das Baltikum über eigene LNG-Terminals verfügen, es Terminals in Spanien und Portugal gibt, führt keine Gaspipeline von Spanien über Frankreich bis nach Deutschland!
Für Investoren wäre es besser, in Spanien in Solaranlagen zu investieren als im Emsland. Wenn Sie die besten Standorte für Wind- und Solaranlagen suchen, sollten Sie sich die europäische Karte ansehen und nicht nur die bayerische oder nordrhein-westfälische. Doch die Mitgliedsstaaten sind nicht bereit, die Energiepolitik zu europäisieren. Was ist mit unseren Atomkraftwerken? Warum verlängern wir in diesen Tagen nicht die Laufzeit der drei Atomkraftwerke, die in Deutschland noch am Netz sind? Man hat nicht 24 Stunden am Tag Sonne und Wind. Und: Man kann Öl, Gas und Kohle speichern, aber nicht Wind. Wir brauchen Gas als Energiequelle. Wir können sicherlich Prozesse ändern und auch beschleunigen, aber mittelfristig sind Europa und Deutschland auf Importe angewiesen. Wir müssen realistisch sein und europäisch diversifizieren.
Katharina Gnath: Bevor das Publikum in das Gespräch eingebunden wird, möchte ich noch einmal auf Daniela Schwarzer zurückkommen. Könnten Sie die Aussage von Günther H. Oettinger kommentieren, dass China in dieser geopolitschen Situation der Gewinner ist?
Daniela Schwarzer: Wird sich Deutschlands exportorientiertes Geschäftsmodell in einer Welt durchsetzen können, die von kriegerischen Konflikten dominiert ist? Aus deutscher Sicht und mit Blick auf unser Geschäftsmodell geht das nicht. Für die Deutschen war die wirtschaftliche Öffnung nicht nur ein Weg, Geld zu verdienen, sondern auch eine Möglichkeit, Stabilität aufzubauen. Wenn die Situation in dem Sinne eskaliert, dass China zu einem aktiven Unterstützer Russlands wird, dann haben wir ein sehr großes Problem. China und Russland haben in den letzten Jahren engere Beziehungen aufgebaut. Sie haben 2018 ihre erste gemeinsame Militäroperation durchgeführt. Sie haben vor kurzem beschlossen, eine neue Gaspipeline von Sibirien nach China zu bauen. Bis dato sehen wir noch keine wirkliche strategische Allianz, aber jetzt braucht Putin China, um den Krieg zu gewinnen. Für Europa wäre es ein großes Problem, wenn sich China auf ein Abkommen einlassen würde. Denn es kann nicht nur die militärische Dynamik in der Ukraine und möglicherweise in den Nachbarländern verändern, sondern es wird auch das Gleichgewicht zwischen dem westlichen liberal-demokratischen Block, der die internationale Ordnung und die wirtschaftliche Offenheit regelt, und dem Block von Militärstaaten grundlegend verändern.
Wir danken unseren Panelteilnehmern für die engagierte Diskussion.