Nach dem diesjährigen EU-Westbalkan-Gipfel im Mai bekundeten die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ihre uneingeschränkte Unterstützung für die westlichen Balkanländer verbunden mit dem Angebot auf EU-Mitgliedschaft und mehr finanzieller Unterstützung, unter anderem, um Chinas Einfluss in der Region Einhalt zu gebieten.
Als sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und der chinesischen Regierung im September zum EU-China-Gipfel trafen, stand der westliche Balkan jedoch nicht oben auf der Tagesordnung. Die Teilnehmer des Gipfels konzentrierten sich auf den Handel und das umfassende Abkommen EU-China Comprehensive Agreement, jedoch nicht auf die politische Lage im Westbalkan.
Angesichts der chinesischen Aktivitäten auf dem Westbalkan muss die Europäische Union aktiv werden. Die aktuelle Debatte verdeutlicht, dass China den Eindruck erweckt, Europa aufzukaufen und zu spalten. Mit Megaprojekten wie der Initiative „17 + 1“, strategischen Investitionen im privaten Sektor und Infrastrukturprojekten will China in und um Europa Einfluss gewinnen (das gesamte Interview finden Sie auf Englisch hier).
Die Young Professional Advisors (YPAs) von United Europe führten kürzlich ein Zoom-Interview mit Jörg Wuttke, Geschäftsführer und Generalvertreter der BASF in China und Präsident der Europäischen Handelskammer in China, und Tim Wenniges, Geschäftsführer von Südwestmetall und ehemaliger Leiter des Shanghaier Büros der Konrad Adenauer Stiftung, um über Chinas anhaltenden Einfluss in Europa zu diskutieren.
„Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die osteuropäischen Länder in unseren Umgang mit China integrieren“, sagte Wuttke. Und: „Wir müssen an unserem eigenen Appell an die anderen Nationen arbeiten, uns fixieren, uns reformieren, um dann aus einer Position der Stärke herauszukommen, bevor wir uns möglicherweise mit Dingen überladen, zu denen wir eigentlich nicht in der Lage sind.“ Und Wenniges ergänzte: „Brüssel investiert mit Bedingungen wie zum Beispiel der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Aus Sicht der östlichen Länder kommt die EU mit Bedingungen und China mit Chancen.“ Aber China, so Wenniges, habe kein Interesse an einem starken Europa. „Es hat ein Interesse an einem stabilen Europa. Unser Interesse ist ein stabiles und starkes Europa. Das ist etwas vollkommen verschiedenes. “
Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping kündigte 2013 die „One Belt and One Road Initiative“ als ein globales Projekt mit einem Investitionsvolumen von über 900 Milliarden US-Dollar an, mit dem internationale Handelsrouten miteinander verbunden werden sollen. Die Initiative 17+1 umfasst Projekte in Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Estland, Griechenland, Ungarn, Lettland, Litauen, Nord Mazedonien, Montenegro, Polen, Rumänien, Serbien, der Slowakei und Slowenien. Bemerkenswert ist, dass der Kosovo nicht Teil dieser Initiative ist, da die chinesische Regierung dessen Unabhängigkeit nicht anerkennt. 12 von 17 Mitgliedern der Initiative sind EU-Mitgliedstaaten, die übrigen fünf sind EU-Beitrittskandidaten oder potenzielle Kandidatenländer.
Alle sechs westlichen Balkanländer sind von der Corona-Pandemie betroffen. Ihre fragilen Demokratien, schwachen Volkswirtschaften und instabilen Regierungen waren aufgrund der relativ großen Zahl betroffener Personen mit erheblichen Engpässen in den Krankenhäusern und einer Knappheit von medizinischen Geräten konfrontiert. Chinas wirtschaftliche Versprechen an den Westlichen Balkan, den Handel und die Investitionen zu steigern, sind deshalb attraktive Angebote, vor allem während der COVID-19-Pandemie.
In der Regel sind Auslandsinvestitionen ein willkommener Anreiz für die Wirtschaft. Doch die wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit von China zahlt sich nicht in lokaler Währung für die Bevölkerung aus, sondern stellt politische Gefälligkeiten und persönliche Gewinne für die lokalen Eliten dar. Chinas Auslandsinvestments werden nach einem wohl überlegten Plan vergeben: Regierungen vergeben große Kredite bei chinesischen Banken, Auftragnehmer der Projekte sind chinesische Unternehmen (meist in chinesischem Staatsbesitz), Materialien und Mitarbeiter werden aus China importiert, so dass chinesische Investitionen häufig keine positive Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in diesen Regionen haben. Vielen dieser Projekte mangelt es an Transparenz und öffentlicher Kontrolle über die Vergabeverfahren.
Die von den chinesischen Banken angeboten Kredite erhöhen auch die Schuldenquote, was zu einer sogenannten „debt trap diplomacy“ oder “Schuldenfallen Diplomatie” sowie zu politischen Abhängigkeiten führt. In Montenegro ist die Staatsverschuldung beispielsweise auf rund 80% des BIP des Landes gestiegen, und China besitzt daran einen erstaunlichen Anteil von 39%.
Laut dem kürzlich erschienenen Artikel „Wird der Green Deal auf dem Westbalkan scheitern oder erfolgreich sein?“ von United Europes YPAs Dyria Alloussi und Dinand Drankier ist China auch ein wichtiger Akteur bei der Gestaltung der Energiezukunft des Westbalkans – wenn auch nicht in der von der EU gewünschten Weise. Die Autoren zeigen, dass die Prognosen bei den riesigen chinesischen Kohleprojekten (z. B. das Kraftwerk Tuzla in Bosnien-Herzegowina und das Kraftwerk Kostalac in Serbien) bezüglich der Rentabilität allzu optimistisch warenund schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Luft- und Wasserverschmutzung ignoriert werden.
Das „Gegenstück“ der EU zur 17+1-Initiative ist der Western Balkans Investment Framework (WBIF), welcher unter anderem Infrastrukturprojekte in Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Albanien mit einer Mischung aus Darlehen und Zuschüssen mit einer transparenten Governance-Struktur finanziert. Das WBIF bietet in den Bereichen Energie, Umwelt, Soziales, Verkehr und digitale Infrastruktur eine Finanzierung und technische Unterstützung für strategische Investitionen. Es unterstützt auch Entwicklungsinitiativen des Privatsektors. Dieses Verfahren vergibt auf der Grundlage wettbewerbsorientierter Vergabemethoden Zuschüsse für Aktivitäten zur Vorbereitung und Durchführung von Infrastrukturprojekten sowie für Investitionen. Zur Einreichung von Vorschlägen werden Leitlinien veröffentlicht, in welchen transparente Zulassungskriterien festgelegt sind.
„Ich habe nie verstanden, warum Europa wie ein Kaninchen vor der Schlange sitzt”, sagte Jörg Wuttke beim YPA-Interview. „Wir sollten stolz auf unser demokratisches System sein.”
Einerseits wird die chinesische Präsenz auf dem Westlichen Balkan durch wegweisende Infrastrukturinvestitionen und den Einfluss der Regierungschefs sichtbar: China unterstützt Straßenbau, Autobahnbau und den Bau von Eisenbahnen und finanziert dabei mehrere Projekte wie die Eisenbahnlinie Belgrad-Budapest, Autobahnen, die Montenegro mit Serbien und Albanien mit Montenegro verbinden sowie weitere Autobahnen in Albanien, Bosnien und Herzegowina und Nord Mazedonien. Chinesische Kredite werden als „unverbindlich“ wahrgenommen, weil sie, anders als die EU, keine politischen Reformen im Gegenzug einfordern. Peking besteht jedoch auf strengen finanziellen Garantien. Falls die Kredite nicht zurückgezahlt werden, übernimmt China die Kontrolle über das Projekt. Darüber hinaus sind bei einigen Abkommen bei Streitigkeiten chinesische Gerichte zuständig.
Andererseits konzentriert sich die EU in der Region auf die Modernisierung der Volkswirtschaften durch Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Entwicklung grüner Wirtschafts- und Lebensmodelle und die digitale Transformation. Im Rahmen des jüngsten EU-Haushalts hat die EU über das Instrument for Pre-accession Assistance (IPA II) 11,7 Mrd. Euro für Länder im Balkan bereitgestellt. Das IPA ist ein Mittel, mit dem die EU Reformen in den Erweiterungsländern mit finanzieller und technischer Hilfe unterstützt und darauf abzielt, die Entwicklungsmöglichkeiten der Länder während des gesamten Beitrittsprozesses zu begleiten.
Der Unterschied zwischen den Investitionen der EU und China in der Region besteht darin, dass die EU auf dem Westbalkan sowohl institutionelle als auch politische, meist strengere Reformen für ein finanzielles Engagement festlegt, was die Umsetzung vieler Projekte aufgrund komplizierter bürokratischer Verfahren verlangsamt. In Serbien ist die Freigabe der Mittel in der Regel von der politisch sensiblen Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo abhängig, dafür ist aber ein institutioneller Rahmen notwendig.
Chinas Investmentpolitik wird von einem zusätzlichen Mechanismus unterstützt: Soft Power. In der Region des Westbalkans sind rund 40 Konfuzius-Institute aktiv, die sich auf den Aufbau von Strukturen akademischer Zusammenarbeit und den Studenten, um die kommenden akademischen Generationen für chinesische Prinzipien zu gewinnen und mit der chinesischen Politik zu sympathisieren.
Die „Gegenstücke“ im Bereich der Soft-Power sind EU-Programme wie Erasmus+, Horizon 2020, Creative Europe und COSME, die die jüngere Generation, Unternehmer und Forscher der Region durch die Förderung Mobilität und des akademischen Austausches unterstützen. Ergänzend dazu beläuft sich die humanitäre Hilfe der EU zur Bewältigung der Migrationskrise, beispielsweise in Bosnien und Herzegowina, seit 2018 auf 10,3 Mio. Euro. Darüber hinaus hat die EU den Ländern des Westlichen Balkans 3,3 Mrd. Euro zur Unterstützung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach der Pandemie zugesagt.
Da die EU ein führender Handelspartner, Investor und Anbieter von Finanzhilfen für den Westbalkan ist, fordert sie im Gegenzug zusätzliche Anstrengungen zur Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit, dem Aufbau gut nachbarschaftlicher Beziehungen und der Umsetzung europäischer Werte.
In diesem Sinne ist eine Entscheidung der Westbalkan-Regierungen zwischen China und der EU eher eine Option für eine kurzfristige als für eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung. Obwohl die EU-Beitrittskandidaten auf dem Westlichen Balkan vom EU-Erweiterungsprozess enttäuscht sind, dürfen sie nicht vergessen, dass die EU der wichtigste Handelspartner bleibt, der fast 70% des gesamten Handels der Region ausmacht, was einen gewichtigen Hebel gegenüber China darstellt.
Die westliche Balkanregion ist wieder zu einer Arena für aufstrebende Mächte geworden, um ihren Einfluss auszudehnen. Chinas Werkzeugkasten, welcher sich aus den oben genannten Maßnahmen zusammensetzt, wird verwendet, um geopolitische Ziele in der Region zu erreichen. Die Balkanländer befinden sich in der Mitte Europas und bieten neben Mitgliedschaften einen Zugang zur Adria, zum Ionischen Meer und zum Mittelmeer.
Laut Jörg Wuttke hat das System in China einen eigenen Mechanismus, um zu entscheiden, was wichtig ist. Der Einfluss der EU auf das, was China tut, ist begrenzt. Die Tatsache, dass China so selbstbewusst auftritt, könnte allerdings auch dazu führen, dass die EU weniger selbstgefällig und reaktionsschneller wird, so Wuttke. Durch das Hinauszögern von Beitritten zur EU innerhalb der Region drängt die EU die Balkanländer unfreiwillig in die Schuldenfalle Chinas und muss sich in der Folge mit möglichen negativen Folgen wie der Abwesenheit von Kontrollmechanismen, der Abhängigkeit von politischen Eliten und undurchsichtigen staatlichen Institutionen auseinandersetzen. In der Tat muss Europa bessere Werkzeuge entwickeln, damit europäische Maßnahmen greifen können und der Westbalkan integriert wird
Wir als Young Professional Advisors sind der Ansicht, dass ein Fingerzeig auf den Wesbalkan mit den Bedenken der wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht von der Tatsache ablenken sollte, dass der westeuropäische Umgang mit China einen gemeinsamen europäischen Ansatz erschwert. Wie Jörg Wuttke in dem Interview ganz richtig sagte: „China lässt uns Europa neu überdenken.”
Wir müssen einen gemeinsamen Weg finden, das Gesamtbild zu betrachten und nicht gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigen, was nur die Beziehungen zwischen verschiedenen europäischen Regionen vergiftet. Es hilft der EU sicherlich nicht, in dieser Frage keine Einigkeit zu erzielen.
Autor*innen: Dyria Alloussi, Armando Guce, Felix Klein, Nevena Milutinovic, Vlado Planincic, Visar Xhambazi