Vor dem Hintergrund des 70. Jahrestags der Schuman-Erklärung veröffentlichen wir eine Reihe über die Zukunft der EU. Unsere Young Professionals Advisors reflektieren den gegenwärtigen Zustand der EU und schlagen Wege zur Überwindung der Krise vor.
GESUNDHEIT
Nach unseren vorherigen Artikeln über Demokratie und die Finanzkrise in der EU widmet sich dieser Artikel den verschiedenen Aspekten der Wissenschaft und des Gesundheitswesens im Hinblick auf die Europäische Union.
Ein Rückblick auf den Gesundheitszustand der EU
Europa wurde zu einem der Epizentren der Corona-Krise. Obwohl die Europäische Kommission unter der Führung von Präsidentin von der Leyen eine europäische Reaktion auf den Ausbruch der Pandemie ankündigte, kam die gemeinsame Reaktion der EU zu spät. Nach diesem missglückten Auftakt ist es jetzt umso wichtiger, den Geist der Europäischen Einheit wiederzubeleben und gemeinsam den Weg aus der Krise zu finden. In den folgenden Abschnitten reflektieren wir, wie die EU sich bisher – vor allem für die Wissenschaft – eingesetzt hat, was uns noch erwartet und wo weitere Handlungsmöglichkeiten für das Gesundheitswesen bestehen.
Die Wurzeln des Problems: nationale Bestimmung, aber globale Probleme
Das Gesundheitswesen stellt die EU vor große Herausforderungen. Es handelt sich einerseits um eine nationale, in einigen Ländern sogar um eine kommunale Angelegenheit, die eng an die jeweiligen Bedürfnisse im Gesundheitswesen angepasst ist. Offiziell ist die EU hier nicht zuständig, da laut der Europäischen Kommission die EU-Staaten die Verantwortung für die Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdiensten und medizinischer Versorgung tragen. Andererseits bestehen diverse Ansprüche an die EU. Bei einem virtuellen Treffen der Young Professional Advisors im April 2020 wurde uns klar, dass sich einige Staaten zum Beginn der Corona-Pandemie eine organisierte Krisenkoordination und Unterstützung seitens der EU erwartet hatten. Da es ihrer Meinung nach weder eine beherzte noch koordinierte Reaktion der EU gab, reagierten sie enttäuscht. Solche Situationen schwächen die Wahrnehmung der EU und stärken die EU-Kritiker.
Die EU setzt auf dezentralisierte Lösungen in den einzelnen Staaten, muss sich aber globalen Problemen stellen. In dieser Krise erlebt die EU die Schattenseiten globalisierter Lieferketten, die in ihrer Reaktionsfähigkeit stark eingeschränkt sind. Die EU, die sich selbst als „weltgrößter Händler von Arzneimitteln und Medizinprodukten” bezeichnet, ist auf globale Lieferungen aus Indien und China angewiesen (Frankreich importiert laut EU-Kommission beispielsweise über 40% des Arzneimittelbestands). Tatsächlich ist die medizinische Grundversorgung im Gesundheitssystem nicht immer sichergestellt, wie sich gezeigt hat. Die EU muss ein koordiniertes Risikomanagement für die komplexen Lieferkette sicherstellen und den Ländern die Möglichkeit geben, bestimmte lokale Produktionen zu sichern. Auch die Regierungen der Länder sind gefordert, das Gesundheitswesen in seiner heutigen Form zu reformieren: Die Entlohnung von Ärzten und Krankenschwestern muss angehoben und die nationale Gesundheitsinfrastruktur dringend neu strukturiert werden. Laut der norwegischen Gesundheits- und Informationstechnologie-Forscherin Prof. Dr. Margunn Aanestad und ihren Kollegen passt sich der Gesundheitsbereich zu langsam an neue Technologien an. Das ist einerseits der komplexen Koordination zahlreicher Interessengruppen geschuldet, findet seine Gründe aber auch in länderspezifischen, heterogenen Infrastrukturen und Regulierungen. Es trifft also auf fast alle Gesundheitssysteme zu. Um eine schnelle Zusammenarbeit zu ermöglichen, braucht es effiziente Abläufe und weniger Verwaltungsaufwand. Groß angelegte Digitalisierungs- und Standardisierungs-Programme würden der gesamten EU helfen. Aber wie kann die EU bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens unterstützend einwirken?
Öffentlich-private Partnerschaften könnten Lösungen zur Umgestaltung der öffentlichen Dienste in der EU bieten. Während Rahmenbedingungen und gegebenenfalls initiale Mittel vom öffentlichen Partner beigesteuert werden, übernimmt der private Partner die Erbringung der Dienstleistung und den Betrieb. Es gibt mittlerweile auch Material zur „good practice” – was es braucht, um erfolgreich zusammenzuarbeiten. Im Gegensatz zu bestimmten digitalen Sektoren in der Privatwirtschaft (z.B. Unterhaltung) sind Bildung und Gesundheitswesen komplexe, öffentliche Bereiche, die noch nicht gründlich reformiert wurden. Die EU hat die Plattform ERA-LEARN (Europäischer Forschungsraum) eingerichtet. Hier will sie nicht nur die Projekte mit öffentlich-privaten Partnerschaften vorantreiben, sondern auch Rückmeldungen zu den Projekten einholen und analysieren. Wir sind gespannt, ob Infrastrukturprojekte im digitalen Sektor über öffentlich-private Partnerschaften angegangen werden – sollte die Krise eingedämmt sein.
Jetzt mehr denn je: Transfer von der Wissenschaft in die Praxis – Lösungen, die sich bewähren
Die EU mag ihre Grenzen bei der Lösung alltäglicher Probleme haben, aber ihre Fähigkeit, langfristige Probleme anzugehen, ist immer noch vielversprechend. Der Wissenstransfer von der Wissenschaft in die Praxis braucht jedoch Zeit. Die Europäer könnten jetzt von den mehr als 10 Mrd. EUR Investitionen, die in den letzten Jahren im Rahmen von Horizont 2020 für die Gesundheitsforschung getätigt wurden, profitieren. Aber es wird lange dauern, bis wir die Ergebnisse der derzeitigen Investitionen für den Aufbau einer großen gemeinsamen Infrastruktur in der Wissenschaft sehen. Da die Entwicklung von Impfstoffen immer noch voranschreitet, müssen wir lernen, uns anzupassen. Forscher der Harvard Business School prognostizieren, dass wir in Zukunft öfter Situationen wie diese erleben werden. In dieser Krise und denen, die noch kommen werden, steht nicht nur die physische, sondern auch die psychische Gesundheit der Menschen auf dem Spiel. Es ist wichtig, die Architektur für die Zukunft des Gesundheitswesens zu schaffen, wie Denise Feldner und Maximilian Meyer, Berater der deutschen Regierung, erläutern: Regierungen müssen jetzt pragmatisch handeln, wenn es um flächendeckende Digitalisierung für Länder und Gesundheitssysteme geht. Wir brauchen die Infrastruktur, um ärztliche Beratung online anbieten zu können, bevor die nächste Krise eintritt.
Was wir daraus lernen: Der Aufbau einer widerstandsfähigen europäischen Industrie muss das Gesundheitswesen und moderne Mittel für Innovationen einschließen
Investitionen in europäische Industrien – einschließlich des Gesundheitswesens – sind nötig, um diese auf ein Niveau zu bringen (nach subsidiären Prinzipien – nicht um sie zu lenken, sondern um den Nutzen zu verstärken). Sonst wird es schwierig sein, mit dem nächsten potenziellen Ausbruch besser umzugehen als heute. Auch wenn die Investitionen der EU ab 2021 große Budgets für die Programme „Open Science” (25,8 Mrd. EUR), „Globale Herausforderungen”, „Industrielle Wettbewerbsfähigkeit” (52,7 Mrd. EUR) und „Open Innovation” (13,5 Mrd. EUR) umfassen, sollte sie sich auch auf weniger traditionelle und praktischere Mittel einlassen, um deren Wirksamkeit zu erhöhen. Wir denken hier an die Einbindung von Bürgern und Praktikern mit Basisinitiativen im Gesundheitswesen – da sie am besten wissen, wo die Engpässe liegen.
Nur durch Digitalisierung und benutzerfreundliche Plattformen (etwas, das die EU als Institution im Übrigen selbst lernen muss, auch für ihre Webseiten) ermöglichen wir effizienten Zugang und Teilnahme der Bürger an EU-Programmen. So können sich Bürger auch besser mit der EU als strategischer Union und Partnerschaft identifizieren: Jeder Einzelne sollte einen gesicherten Zugang zur technologischen Infrastruktur auf nationaler und EU-Ebene erhalten. Start-ups, Inkubatoren und Acceleratoren spielen eine wichtige Rolle für Innovations-Ökosysteme, dafür braucht es Startup- und Risikokapital. Die Aktivitäten des Europäischen Instituts für Innovation und Technologie (EIT) bewegen uns in die richtige Richtung, aber die Gesamtbudgets dafür müssen neu bewertet werden: In einer kürzlich durchgeführten Startup-Challenge der EU, die in der ersten Hälfte des Jahres 2020 stattfand, wurde berichtet, dass jedes der 120 Start-ups 50.000 Euro erhielt; eine Summe, die ein einzelner Unternehmer wohl eher als symbolisch bewerten muss, da sie im besten Fall für einen zusätzlichen Mitarbeiter ausreicht, der für weniger als ein Jahr beschäftigt werden kann.
All das ist weder nachhaltig noch überhaupt zukunftsweisend. Die EU-Kommission sagt, dass die Ausgaben des EU-Haushalts revidiert werden sollen und werden. Wir hoffen, dass digitales, resilientes und koordiniertes Gesundheits-Ökosystem eines davon sein wird.
Autoren: Albert Guasch, Kalina Trendafilova, Dyria Alloussi, Raiko Puustusma, Dinand Drankier, Justinas Lingevicius, Mihkel Kaevats, Karl Luis Neumann, Silja Raunio, Anna Penninger, Armando Guçe, Mihály Szabó, Andranik Hovhannisyan, Raphael Kohler, Jens-Daniel Florian, Elif Dilmen, Eshgin Tanriverdi, Robert Grecu.
Über die YPAs: Wir sind eine Gruppe von 36 United Europe Alumni aus 20 Ländern. Wir verstehen uns als eine Task Force für Vereinigtes Europa, die junge Führungskräfte aus verschiedenen Regionen Europas fördert. Wir vertreten unterschiedliche und junge europäische Stimmen zu den dringendsten Themen der EU. Unser Ziel ist es, das Vertrauen der Jugend und der Bürger Europas in das europäische Projekt wiederherzustellen. Wir sind ein Netzwerk, das den fachlichen Austausch zwischen jungen Europäern fördert und Impulse für eine europäischere Denkweise gibt. Wir fördern die Pluralität und wollen neue Ideen für eine intelligente Analyse der EU-Politik generieren.