Vor dem Hintergrund des 70. Jahrestags der Schuman-Erklärung veröffentlichen wir eine Reihe über die Zukunft der EU. In der Artikelserie reflektieren unsere Young Professional Advisors über den gegenwärtigen Zustand der EU und schlagen Wege zur Überwindung der Krise vor.
FINANZEN & WIRTSCHAFT
Nachdem wir in unserem ersten Artikel beunruhigende Entwicklungen im Bereich der Demokratie identifiziert haben, konzentrieren wir uns nun auf die finanziellen und wirtschaftlichen Aussichten für die EU. Um die Gesundheit der Bewohner zu schützen, wurde den Volkswirtschaften der EU-Mitgliedstaaten ein schwerer wirtschaftlicher Schlag versetzt. Infolgedessen rutschen die Länder zunehmend in eine Rezession, was zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit führt und Unternehmen unter Druck setzt. Dadurch sind wir sind mit einer enorm schwierigen und komplexen Situation konfrontiert: massive Verschuldung, schrumpfende Bruttoinlandsprodukte, hohe Arbeitslosigkeit sowie Instabilität in unserer Nachbarschaft. Es besteht kein Zweifel, dass das kommende Jahrzehnt uns bis an die Grenzen testen wird. Um Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, muss die EU rasch handeln und sich dabei von den Werten Einheit und Solidarität leiten lassen.
Nach Angaben der International Labor Organisation (ILO) sind rund 2,7 Milliarden Arbeitnehmer von dem weltweiten Shut-Down des öffentlichen Lebens betroffen. Die Schließung vieler Betriebsstätten hat zu einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen geführt. Weiterhin prognostiziert die ILO, dass die Arbeitslosigkeit in Europa im zweiten Quartal 2020 um etwa 3,3 Prozentpunkte steigen wird, wodurch die Arbeitsplätze von 12 Millionen Europäern gefährdet sind.
Während die Digitalwirtschaft unter COVID-19 sogar gut abschneidet – IT, Online-Einzelhandel und digitale Dienstleistungsanbieter verzeichnen ein massives Wachstum – hat die Pandemie negative Auswirkungen auf fast alle Branchen. Die Gesamtaussichten sind insbesondere für die Luftfahrt, den Tourismus, die Beherbergungsbetriebe sowie das verarbeitende Gewerbe schlecht. Insbesondere in den südlichen EU-Ländern ist der Tourismus ein wesentlicher Stützpfeiler der Wirtschaft: In Italien macht dieser Sektor etwa 13,3% des Bruttoinlandsprodukts und in Spanien 14,7% aller Arbeitsplätze aus. Ein solcher Verlust des BIP strahlt auch in andere Industriezweige aus, da Konsum und Nachfrage zurückgehen.
In einer kürzlich von United Europe veranstalteten Webkonferenz analysierte der italienische Ökonom Filippo Taddei, dass die gegenwärtige Krise eine Kombination aus zwei Schocks sei: eine Kombination auf Angebots- und Nachfragschock, die eine direkte Bedrohung für die wichtigste Errungenschaft der EU darstellt: die europäische Integration durch die Schaffung des Binnenmarktes. Auch wenn es noch zu früh ist, das volle Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen abzusehen, so können wir doch einige Hinweise aus den vorläufigen BIP-Zahlen von Eurostat gewinnen, die einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen geben. Während des ersten Trimesters 2020 ist das BIP der EU um 3,5% gesunken. Dies ist der stärkste Rückgang seit dem Krisenjahr 2009. Länder wie Italien (-4,7%) und Frankreich (-5,8%) befinden sich nun in einer Rezession, und Spanien (-5,2%) verzeichnet den schlimmsten wirtschaftlichen Abschwung seit den 1970er Jahren. Diese Zahlen zeigen deutlich, dass sich die EU in einem Krisenszenario befindet.
Wir fordern die EU dringend auf, eine koordinierte, aber entschlossene Reaktion auf die Krise zu priorisieren. Es gilt den wirtschaftlichen Schock abzuschwächen und den Weg zu einer raschen Erholung freizumachen.
Nicht alle Mitgliedsstaaten sind in der Lage, finanzielle Mittel in dem Umfang bereitzustellen, der die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von COVID-19 ausreichend begrenzt. Tatsächlich gehören diejenigen, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind, auch zu den am stärksten verschuldeten Ländern. Höchstwahrscheinlich werden einige Staaten Hilfe benötigen.
Die Frage, wie diese Hilfe finanziert werden soll, wird gleichwohl kontrovers diskutiert. Corona-Anleihen, ein Mechanismus zur Ausgabe von Gemeinschaftsschulden, werden von Südeuropa, vor allem von Italien, bevorzugt. Die nördlichen Länder, darunter die „Frugal Four” Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande, sind in ihrer Mehrheit dagegen. Das Thema der Corona-Bonds ist sowohl in den Ländern des Nordens als auch im Süden politischer Sprengstoff. Die EU wird sehr wahrscheinlich keine einstimmige Entscheidung darüber treffen können.
In der bereits genannten Webkonferenz von United Europe warnte Ulrike Guérot davor, dass Populisten in den Ländern des Nordens und des Südens Corona-Anleihen für ihre Ziele missbrauchen könnten. Die EU muss sich bewusst sein, dass eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung möglicherweise antidemokratische Reflexe auslöst, sowohl in Nord- als auch in Südeuropa. Da die Schaffung des gesetzlichen und regulatorischen Rahmens für die Ausgabe von Corona-Bonds eher langwierig sein wird, ist dies nicht die angemessene schnelle Reaktion, die für die Bewältigung der Krise erforderlich ist.
Die Finanzminister der Eurogruppe einigten sich kürzlich auf die Bereitstellung von 240 Milliarden Euro durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Die Länder der Eurozone können sich zu niedrigen Zinssätzen bis zu 2% ihres BIP verschulden. Die einzige Bedingung für die Vergabe dieser Kredite ist, dass die Mittel für medizinische Ausgaben verwendet werden, die notwendig sind, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern oder einzudämmen. Wir unterstützen uneingeschränkt die niedrige Konditionalität für solche Mittel, um dazu beizutragen, Leben von EU-Bürgern zu retten.
Da die Eurozone jedoch weder die gesamte EU noch Europa umfasst, schlagen wir vor, ähnliche Darlehensprogramme in größerem Umfang über die Europäische Investitionsbank einzurichten. Dieses Programm sollte alle EU-Mitgliedsstaaten erreichen und zusätzlich die unmittelbare Nachbarschaft der EU wie die Staaten des Westbalkans berücksichtigen.
Zusätzlich zu solchen Sofortmaßnahmen ist ein umfassendes Wiederaufbauprogramm erforderlich, um die Erholung der Wirtschaft langfristig zu unterstützen. Um ein solches Programm zu finanzieren, sollte die EU in der Tat die gemeinsame Ausgabe von Schuldverschreibungen in Erwägung ziehen. Mittel aus einem solchen Programm könnten dann an Bedingungen geknüpft werden. Da die EU-Mitgliedstaaten für diese Mittel gemeinsam haften würden, sollte der Zweck dieser Mittel ebenfalls gemeinsam vereinbart werden.
Die Mittel aus diesem Rehabilitationsprogramm sollten demzufolge zwei Dimensionen der Konditionalität umfassen:
1) Demokratie und Rechtsstaatlichkeit des Empfängerlandes sollten bei der Vergabe von Mitteln berücksichtigt werden. Infolge der Krisenbekämpfung zeichnen sich beunruhigende Entwicklungen in Bezug auf Freiheit und Demokratie in einigen Mitgliedsstaaten ab. Die Konditionalisierung von EU-Mitteln ist ein wirksamer Weg, die Einhaltung grundlegender Freiheiten in allen EU-Mitgliedsstaaten zu gewährleisten.
2) Der Wiederaufbau der EU-Wirtschaft bietet die Chance, diese strukturell umzugestalten. Die Vergabe von Mitteln zur Unterstützung der Volkswirtschaften der Mitgliedsstaaten sollte an Bedingungen geknüpft sein, die im Einklang mit dem Green Deal und der digitalen Strategie der EU stehen. Dadurch kann die EU den Aufbau einer nachhaltigen digitalen Wirtschaft unterstützen, die widerstandsfähig genug ist, um die in der gegenwärtigen Krise angehäuften Schulden zu tilgen. Da dies im Interesse aller EU-Mitgliedsstaaten liegt, treten wir dafür ein, dass die gemeinsame Ausgabe von Schuldverschreibungen ein Finanzierungsinstrument ist, das in Betracht gezogen werden sollte.
Obwohl der Streit um die richtige Kombination von Maßnahmen weitergeht und sich Gräben zu vertiefen scheinen, sollten alle Parteien im Hinterkopf behalten, dass eine umfassende Erholung aller Mitgliedsstaaten im Interesse aller Europäer liegt. Robert Schuman vertrat die Meinung, dass Solidarität durch wirtschaftliche Kohäsion geschaffen wird. Umgekehrt gilt heute: Europa ist wirtschaftlich eng verflochten und braucht daher Solidarität. Andernfalls würde der Fall eines Landes einen Dominoeffekt auslösen.
Wie auch immer die endgültige Gestaltung eines Finanzierungsmechanismus aussehen mag, die Union sollte die Spaltungen vermeiden, die die Krise in den Jahren 2010-2012 geprägt haben. Schließlich handelt es sich bei der Pandemie um ein exogenes Ereignis, an dem kein Mitgliedstaat eine Schuld trägt.
Es bleibt keine Zeit zum Zögern, zum Blick zurück oder nach innen. „Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird einst die Summe der Lösungen sein, die man für diese Krisen ersonnen hat“, sagte Jean Monnet. Es ist an der Zeit, Europa erneut zusammenschmieden, gemeinsam, im Geiste der Solidarität und mit einer gemeinsamen Vision.
Zum Weiterlesen: Europäische Kommission: Beschäftigung und Wirtschaft in der Corona-Krise
Autoren: Albert Guasch, Kalina Trendafilova, Dyria Alloussi, Raiko Puustusma, Dinand Drankier, Justinas Lingevicius, Mihkel Kaevats, Karl Luis Neumann, Silja Raunio, Anna Penninger, Armando Guçe, Mihály Szabó, Andranik Hovhannisyan, Raphael Kohler, Jens-Daniel Florian, Elif Dilmen, Eshgin Tanriverdi, Robert Grecu.
Über die YPAs: Wir sind eine Gruppe von 36 United Europe Alumni aus 20 Ländern. Wir verstehen uns als eine Task Force für Vereinigtes Europa, die junge Führungskräfte aus verschiedenen Regionen Europas fördert. Wir vertreten unterschiedliche und junge europäische Stimmen zu den dringendsten Themen der EU. Unser Ziel ist es, das Vertrauen der Jugend und der Bürger Europas in das europäische Projekt wiederherzustellen. Wir sind ein Netzwerk, das den fachlichen Austausch zwischen jungen Europäern fördert und Impulse für eine europäischere Denkweise gibt. Wir fördern die Pluralität und wollen neue Ideen für eine intelligente Analyse der EU-Politik generieren.