Am 16. April hat sich der neue Präsident von United Europe, Günther H. Oettinger, in einem Online-Meeting den Mitgliedern unserer Young Professional Advisor Gruppe vorgestellt und mit ihnen über zahlreiche Themen diskutiert. Er stellte seine Vision von United Europe vor und lud sie ein, ihre Sichtweise zu erläutern und Position zu beziehen.
Nach einer kurzen Begrüßung und Einführung durch Sabine Sasse, Geschäftsführerin von United Europe, stellte Dyria Alloussi die Advisor-Gruppe vor. Die Diskussion wurde von Anna Penninger und Anna Romandash moderiert.
Einführung von Günther H. Oettinger
Er könne sich nicht an eine Zeit mit ähnlich bedeutenden Veränderungen erinnern, sagte Oettinger in seiner Einleitung: Fast alle Bürger auf allen Kontinenten und in allen Nationen weltweit sind vom Coronavirus betroffen. Seit 60 Jahren habe es keine Herausforderung gegeben, die mehrere Milliarden Menschen auf einmal betroffen hat. Herr Oettinger wies darauf hin, dass dies auch eine Chance sein könne, Solidarität zu zeigen: für Kooperationen und Partnerschaften, von der Wissenschaft und Forschung bis zur Industrie, für die Zusammenarbeit der Regierungen in der EU mit den USA und China: „Jetzt ist die Zeit für eine globale öffentlich-private Partnerschaft gekommen”, betonte er. „Aber stattdessen sehen wir mehr Wettbewerb von Ordnungen, Systemen und Werten. Wir stehen vor einer direkten Herausforderung an Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Pressefreiheit, Religions- und Rechtsstaatlichkeit.“
Obwohl die in den Lissabon-Verträgen verankerten Werte wie Solidarität und bewährte Vorgehensweisen auf europäischer Ebene moderiert und koordiniert werden, bleiben laut Oettinger die wesentlichen Kompetenzen und Maßnahmen tatsächlich bei den einzelnen Mitgliedsstaaten in Paris, Rom, Berlin, Tallinn, Vilnius, Bukarest etc.
Gerade jetzt sei es jedoch von größter Bedeutung, dass die EU als multikulturelle Organisation zusammenkommt, um die Pandemie auf gesamteuropäischer Ebene gemeinsam mit europäischen Partnern wie z.B. der Schweiz und Norwegen, Kandidaten wie den westlichen Balkanstaaten und wichtigen Nachbarn wie Russland, der Türkei und Afrika zu bekämpfen.
Während ein Gleichgewicht von Offenheit, Solidarität und Teamarbeit auf europäischer und globaler Ebene erforderlich sei, damit eine sinnvolle Zusammenarbeit funktioniert, sollte die EU jedoch auch nicht naiv sein, was sie von anderen erwarten kann.
Herr Oettinger appellierte an die Young Professionals Advisors, als Wissenschaftler, als Berater von Ministerien, als Mitarbeiter in öffentlichen Verwaltungen, in der Wirtschaft und in den Medien, sich weiterhin zu engagieren, da sie perfekte Partner für United Europe seien, und dass er sich auf ihren kritischen und konstruktiven Beitrag freue.
Fragen und Antworten
Die YP Advisor stellten viele verschiedene Fragen, z.B. welche konkreten Schritte unternommen werden könnten, um die national ausgerichtete Agenda der Mitgliedsstaaten zu überwinden. Oettinger merkte an, dass z.B. die Gesundheitsversorgung eine wichtige Kompetenz der einzelnen Mitgliedsstaaten sei, was in der Vergangenheit ausdrücklich gewünscht wurde. Die EU kann und sollte jedoch durch die Bereitstellung von Forschungs- und Entwicklungskapazitäten und durch die Konzentration auf die Zusammenführung von Experten auf europäischer Ebene in verschiedenen Bereichen einen Mehrwert schaffen.
Ein junger Experte aus Italien erkundigte sich nach den Maßnahmen, die Herr Oettinger vorrangig ergreifen würde, um die Einstellung und die Freizügigkeit von Arbeitnehmern über die Grenzen in der Union weiter zu erleichtern.
Herr Oettinger räumte ein, dass die Schließung der Grenzen nicht akzeptabel sei; er zog einen Vergleich zwischen der Situation, der wir heute gegenüberstehen und der Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Damals überschritten Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Maghreb die Grenzen über den östlichen Teil des Mittelmeers, nämlich nach Griechenland und über die Route des Westbalkans nach Budapest. Er bekräftigte, dass ein kohärentes europäisches Verständnis und eine kohärente europäische Herangehensweise notwendig gewesen sei und auch heute notwendig ist. Die Normalisierung der Schengen-Grenzen ist eine gemeinsame Verpflichtung und liegt im Interesse jedes Mitgliedsstaates; dies sollte unverzüglich in Angriff genommen werden.
Ein Advisor aus Litauen fragte nach den Verhandlungen über den MFR 2021-2027 und ob die Europäische Kommission einen neuen Vorschlag vorlegen werde.
Oettinger drückte sein Bedauern darüber aus, dass die Staatschefs in der EU nicht bereit waren, den mehrjährigen Finanzrahmen MFF Priorität zu schenken und noch keine beeindruckenden Schritte unternommen wurden. Für ihn liegt das Hauptaugenmerk weiterhin auf der Anhebung des Niveaus für neue Mitgliedsstaaten und ländliche – auch weniger entwickelte – Regionen, um sich dem europäischen Durchschnittsniveau anzunähern; er fügte hinzu, dass sowohl Kohäsionsinstrumente als auch angepasste Instrumente für den Wiederaufbau und zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 benötigt werden.
Ein Advisor aus der Ukraine fragte, ob Herr Oettinger erwarte, dass sich die wirtschaftliche Lage in der post-epidemischen Welt ändern wird und ob die Krise zu einer grüneren Zukunft führen könnte.
In seiner Antwort betonte er, dass bei wichtigen Produkten statt von einem einzigen Lieferanten abhängig zu sein, ein gewisses Maß an Autonomie und Souveränität gewahrt werden müsse. Für ihn ist der Klimawandel ein andauerndes Thema und müsse Priorität haben. Während die Corona-Krise ein Ende haben wird, wird sich der Klimawandel in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen. Die Verlagerung von CO2-Emissionsquellen sollte bei den Bemühungen um eine Reduzierung der CO2-Emissionen vermieden werden, sonst werde die europäische Industrie weltweit den Kürzeren ziehen.
Ein Advisor aus Ungarn fragte nach Chinas globaler Coronavirus-Rettungskampagne und wie sich diese auf die chinesisch-europäischen Beziehungen auswirken könnte und ob Europa seine wirtschaftliche Durchsetzungskraft im Ausland erhöhen und eine neue Strategie vorschlagen sollte, um China in einer post-covidischen Welt zu begegnen.
Oettinger erklärte, dass China einerseits ein Partner und andererseits ein Konkurrent sei. Die Industrie müsse ihre Geschäftsmodelle in Zukunft überdenken, um nicht so abhängig von Importen aus China zu sein. Es wird eine größere Reserve an Werkzeugen, Produkten und Medikamenten benötigt, um mit solchen außergewöhnlichen Situationen fertig zu werden. Die EU müsse sich dafür einsetzen, die Industrie davon zu überzeugen, nicht nur Produkte in die EU zu importieren, sondern auch innerhalb der EU zu produzieren. Die Attraktivität für Investitionen sei entscheidend. Es sollte diskutiert und analysiert werden, was in den letzten Wochen und Jahren schiefgelaufen sei und was daraus gelernt werden könne.
Ein anderer Advisor fragte, inwieweit die derzeitige COVID-19- und Brexit-Situation die EU-Strategie gegenüber dem Westbalkan beeinflussen wird.
Herr Oettinger sagte, er könne sich vorstellen, dass die sechs Länder des Westbalkans bis 2030 der EU beigetreten sein werden, unter der Bedingung, dass sie alle ihre vertragsmäßigen Verpflichtungen erfüllen. In Bezug auf die Größe verglich er die Integration des Westbalkans mit der Wiedervereinigung Deutschlands. Damals integrierten sich rund 18 Millionen Bürger aus der ehemaligen DDR in Westdeutschland. Angesichts der weniger als 20 Millionen Menschen, die in den Ländern des Westbalkans leben, so seine Schlussfolgerung, sollte es möglich sein, ihre Bemühungen um Akzeptanz zu verstärken. Ein positives Ergebnis wäre ein Gewinn für alle.
Ein Advisor aus Deutschland stellte die Frage, welche Rolle die Idee einer europäischen Streitmacht im Wettbewerb der Systeme und Ordnungen spiele, damit die Europäische Union relevant bleibt und zu einem Global Player in der Geopolitik wird.
Für Oettinger ist klar, dass 2040/50 keiner der einzelnen Mitgliedsstaaten allein die Macht und das Gewicht haben wird, um in globalen Diskussionen relevant zu sein. Für ihn ist nur ein vereintes Europa, eine Europäische Union, mächtig genug, um mit den USA, China und vielleicht anderen aufstrebenden Nationen auf Augenhöhe zu sein. Die innere und äußere Sicherheit sollte eine europäische Kompetenz sein. Er erklärt auch, dass eine europäische Armee eine große Rolle bei der Verteidigung der Menschenrechte zum Beispiel in Afrika oder im Nahen Osten spielen werde. Der erste Vorschlag in dieser Richtung wurde mit der Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds PESCO vorgelegt. Das sei ein erster Schritt in die richtige Richtung, sagte er.
Herr Oettinger kam noch einmal auf die aktuelle Corona-Bonds-Debatte und verwies auf die negativen Kommentare in den Medien zwischen den Mitgliedsstaaten in den letzten Wochen. Er wollte hören, wie die Bürger der verschiedenen Mitgliedsstaaten die europäische Solidarität wahrnehmen. Ein Advisor aus Bulgarien schlug vor, dass die aktuelle Debatte in ihrem Heimatland als Anreiz wahrgenommen wird, der Eurozone beizutreten und die Beantragung in das „EU-Wartezimmer“ zu beschleunigen. Ein anderer Advisor teilte seine Erkenntnisse aus den baltischen Staaten und betonte, wie sehr die Eurozone als Schutzschild wahrgenommen werde, insbesondere im Vergleich zu der verwundbaren Situation während der Finanzkrise 2008/2009. Die Eurozone werde als Stütze für die Wirtschaft der Region angesehen.
Ein Advisor aus Italien stimmte zu, dass der Anreiz für Mitgliedsstaaten, in Krisenzeiten Teil der Eurozone zu werden, viel höher sei, insbesondere für diejenigen, die von der Krise am stärksten betroffen sind. Eine starke Währung zu haben, sei viel praktischer, als von Schwankungen und Wechselkursen abhängig zu sein, wie es bei kleinen fragmentierten Währungen der Fall ist.
Für Oettinger gehen die Herausforderungen der EU über die 27 Mitgliedsstaaten hinaus. An diesem Punkt müsse das Hauptaugenmerk der EU in Afrika sein: „Wenn die Auswirkungen von Corona auf unserem Nachbarkontinent ähnlich werden wie hier, wird es zu einer schreckliche Situation kommen.”
Ein Advisor aus einem Land der Östlichen Partnerschaft stimmte Herrn Oettingers Standpunkt zur Nachbarschaftspolitik der EU zu und ergänzte, dass in seinem Heimatland die Währung überhaupt kein Thema sei, sondern eher die wahrgenommene Isolation. Sorgen um die menschliche Sicherheit seien viel präsenter als finanzielle Sorgen. Ein anderer Advisor fügte hinzu, dass sich in der Türkei die sozialen und kulturellen Auswirkungen der Pandemie auf die Gesellschaft zu zeigen beginnen. Während die Situation in der Europäischen Union in der Türkei genau beobachtet wird, seien negative Berichte über Europa in den türkischen Nachrichten allgegenwärtig. In der Türkei und in den Ländern der Östlichen Partnerschaft, alles mögliche Kandidaten für einen EU-Beitritt, verschieben sich die öffentliche Meinung und Wahrnehmung, was die wahrgenommene Attraktivität der EU in diesen Ländern untergraben könnte.
Herr Oettinger schloss, dass Offenheit und Transparenz Voraussetzungen für jede Partnerschaft seien. Während zum Beispiel die Medientransparenz in der EU und selbst in Deutschland nicht perfekt sei, sei die Nachrichtenberichterstattung in der Europäischen Union recht objektiv und verlässlich. Man könne den Verlauf und den Stand der Corona-Infektionen über soziale Medien verfolgen, während man in anderen Ländern nicht so sicher sein könne, ob man den Zahlen trauen kann. Um eine Krise zu bekämpfen und zu bewältigen, seien jedoch Transparenz und die Unabhängigkeit der Medien, Forscher und Wissenschaftler von größter Bedeutung.