Angeregt durch unsere Artikelserie „Europa kann es besser“ mit dem Handelsblatt, veröffentlicht die „Budapester Zeitung“ eine Artikelserie, die auf den Reden der Podiumsteilnehmer basiert, die im Rahmen der von Network Digital und United Europe am 31. Oktober 2019 in Budapest organisierten Diskussion „The Future ‘Made in CEE'”, basieren (die Zusammenfassung finden Sie hier). Nach dem Beitrag des E.ON-Vorstandsvorsitzenden Dr. Johannes Teyssen geht es weiter mit Hans-Paul Bürkner, Vorsitzender der Boston Consulting Group:
Digitalisierung und Roboter werden oft als Bedrohung für Arbeitsplätze und für die Gesellschaft insgesamt angesehen. Diese Perspektive ist jedoch zu pessimistisch und außerdem gefährlich.
Viele Experten gehen davon aus, dass zahlreiche Aufgaben künftig ohne menschliche Arbeitskraft erledigt werden können. Einigen extremen Prognosen zufolge werden bis zu 70 Prozent der Arbeitsplätze verschwinden, da Menschen durch Roboter ersetzt werden (so etwa Buchhalter, LKW- oder Taxifahrer). Im schlimmsten Fall – so das Ergebnis einiger Studien – haben nur Software-Entwickler, -Designer und Data Scientists einen sicheren Arbeitsplatz, alle anderen sind arbeitslos oder führen niedere Tätigkeiten aus.
Zum Wohl der Allgemeinheit
Technologie wird jedoch nur partiell Menschen ersetzen. Das Potenzial, das Digitalisierung und künstliche Intelligenz für alle Lebensbereiche und für alle wirtschaftlichen Sektoren haben, ist enorm und kann und sollte zum Wohl der Allgemeinheit genutzt werden. Es ist offensichtlich – und das gilt nicht nur für Mittel- und Osteuropa, sondern auch für Westeuropa, die USA und Japan –, dass wir unsere technologischen Fähigkeiten konsequent erweitern müssen. Düstere Prognosen hingegen schrecken ab.
Europa, einschließlich Mittel- und Osteuropa, und auch viele Länder in Asien stehen vor immensen Herausforderungen, ausgelöst durch den demographischen Wandel. Angesichts der alternden Bevölkerung ist ein Arbeitskräftemangel wahrscheinlicher als eine Stellenknappheit. Neue Technologien unterstützen bei vielen Herausforderungen, die durch die Verlangsamung des Bevölkerungswachstums entstehen. Sie sind unverzichtbar, um die sinkende Zahl der Berufstätigen zu kompensieren. Andernfalls drohen Produktivitätsverlust sowie Verlangsamung des Wirtschaftswachstums.
Neue Technologien unterstützen darüber hinaus die aktive Teilnahme von mehr Menschen an der Arbeitswelt – sie helfen, gesund zu bleiben, schneller zu lernen und die Produktivität zu steigern. Daher sollten wir Technologie und künstliche Intelligenz als Mittel verstehen, die uns neue Möglichkeiten eröffnen. Insbesondere künstliche Intelligenz hat das Potenzial, uns bei der Bewältigung einiger der größten Herausforderungen überhaupt zu helfen – beispielsweise Klimawandel und Ernährung von 10 Milliarden Menschen. Technologien werden unsere Möglichkeiten erweitern – daher sollte sich der öffentliche Diskurs nicht mit dem Konkurrenzverhältnis, sondern vielmehr mit dem Zusammenspiel von Mensch und Technologien beschäftigen, welches uns voranbringt und die Produktivität steigert.
Exzellente technologische Fähigkeiten in Ungarn
In Ungarn und in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas besteht eine ausgeprägte Tendenz zur Selbstkritik. Das an sich ist zunächst nicht falsch, aber es ist sicher ein Fehler anzunehmen, dass Mittel- und Osteuropa auf vielen Gebieten, auch auf dem technologischen, weit zurückliegt. In Ungarn gibt es einige sehr starke Unternehmen, sowohl lokale ungarische, als auch Tochterunternehmen ausländischer Muttergesellschaften. Diese sind nicht nur aufgrund niedriger Gehälter in Ungarn ansässig, sondern auch, weil hier Ingenieure, Techniker, Data Scientists und viele mehr über exzellente technologische Fähigkeiten verfügen, die die Digitalisierung möglich machen.
Industrie 4.0 und künstliche Intelligenz sind ohne Menschen nicht denkbar. Diese digitalisieren und automatisieren etwa alle Werke der hier angesiedelten deutschen Automobilunternehmen und stellen erstklassige Qualität sicher. Es wäre falsch zu sagen: „Wir machen die intelligenten Sachen in Deutschland, den Rest in Ungarn“.
Talente und Fähigkeiten bilden ein solides Fundament. Wenn darauf klug aufgebaut wird, könnte Technologie für Mittel- und Osteuropa als Sprungbrett dienen. Mithilfe ihres Talentpools könnte die Region in Sachen Innovation auf einigen Gebieten aufholen und Westeuropa in anderen Bereichen sogar übertreffen.
Von der Produktionsbank zum Smart Supplier
Die Region hat an Bedeutung gewonnen, da sie tief in die europäische Wirtschaft integriert ist und beständig Innovationen anzieht. Ihre Wirtschaft ist doppelt so schnell gewachsen wie die Westeuropas, die Anzahl qualifizierter Arbeitskräfte steigt – im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Anzahl der Hochschulabsolventen um sieben Millionen erhöht. Gleichzeitig werden die Kostenvorteile Prognosen zufolge weiterhin bestehen, wenn auch in abgeschwächter Form. Diese Faktoren haben zu steigenden Investitionen geführt, größtenteils in arbeitsintensive Sektoren wie Produktion und Dienstleistungs-Nearshoring. Routineaufgaben jedoch werden erwartungsgemäß im Zuge der Digitalisierung weitgehend automatisiert werden. Daher müssen mittel- und osteuropäische Länder ihre digitale Entwicklung beschleunigen und sich von der Produktionsbank zum Smart Supplier entwickeln.
Im Bereich der Digitalisierung tut sich viel – und noch mehr bleibt zu tun. Um die nächste Stufe zu erreichen, müssen die mittel- und osteuropäischen Länder auf nationaler Ebene mit globalen Digitalisierungstrends Schritt halten. Und auch wenn nicht nahegelegt werden soll, dass eine einfache Nachahmung möglich wäre, lohnt sich ein Blick auf die bei der Digitalisierung führenden Länder wie Estland, Südkorea, die nordischen Staaten und Singapur. Zu den Maßnahmen, die Regierungen, Unternehmen und gesellschaftliche Organisationen ergreifen können, um die digitale wirtschaftliche Reife der Region zu erhöhen und sie damit näher an ihr Ziel zu bringen, ein Smart Supplier zu werden, gehört neben der Förderung von Fähigkeiten künftiger Arbeitskräfte im digitalen Bereich, wie etwa in den MINT-Fächern (Mathematik, Informationstechnologie, Naturwissenschaft und Technik), auch die Schaffung von Anreizen für digitale Investitionen.
Ungarischer Ansatz ist lobenswert
László Palkovics, ungarischer Minister für Innovation und Technologie, umriss dieses Thema kürzlich auf der Konferenz die „Zukunft von ‚made in CEE‘ “. Seinen Worten zufolge geht Ungarn die Digitalisierung an allen Fronten an – von der Entwicklung des eGovernments über die Unterstützung von Start-ups bis hin zur Förderung der Industrie 4.0, um nur einige zu nennen. Der Gesamtansatz ist lobenswert und wird sicherlich zu Ergebnissen führen. Jedoch sollte sein Ministerium sich nicht entmutigen lassen, wenn nicht alle Initiativen erfolgreich sind – ein Agile-Ansatz wie in Start-ups üblich könnte helfen, Fehlschläge zu überwinden und sich auf die nächste Initiative zu konzentrieren, wenn eine andere die Erwartungen nicht erfüllt hat.
Unternehmen riskieren, an der Digitalisierung zu scheitern, wenn sie ohne strategische Planung vorgehen. In erster Linie müssen sie sich bei der Modernisierung und Digitalisierung auf ihre Kernaktivitäten konzentrieren und dem Reiz von Digitalisierungsprojekten außerhalb ihres Kerngeschäfts widerstehen. Die Konzentration auf die Kernfähigkeiten ist weniger riskant und rentabler.
Zu guter Letzt ist Digitalisierung auch für jeden Einzelnen ein großes Thema. Das Erlernen digitaler Fähigkeiten mag mühsam sein, ist jedoch notwendig und lohnend. Lebenslanges Lernen ist aufgrund unserer gestiegenen Lebenserwartungen unumgänglich, da die Fähigkeit, mit Maschinen umzugehen, wichtig ist für jedes produktive Leben. Wir müssen davon ausgehen, dass wir nicht nur länger leben, sondern auch länger arbeiten. Das hat auch seine Vorteile: berufstätige Menschen sind offener, weniger einsam, engagierter und gesünder. Dementsprechend ist die Verbreitung von Robotern und Technologie also gut für Unternehmen und für Menschen. In einer alternden Gesellschaft könnte mit dem Einsatz von Robotern und Technologien auch dem Mangel an Pflegekräften entgegengewirkt werden, auch wenn der Einsatz von Robotern in der Pflege nicht überall auf Zustimmung stößt. Technologie wird hier – besonders im hohen Alter – eine Möglichkeit bieten, die Lebensqualität zu erhöhen, allerdings erfordert dies eine größere Offenheit gegenüber Technologien.
Ängste zu schüren wäre fatal
In der Auseinandersetzung mit dem Thema Digitalisierung ist der Wille zur Veränderung unabdingbar, dies gilt für Regierungen, Unternehmen oder den Einzelnen gleichermaßen. Wie Johannes Teyssen, Vorstandsvorsitzender der E.ON SE, kürzlich in dieser Publikationsreihe sagte, haben die Menschen in Mittel- und Osteuropa aufgrund der Entwicklungen über die vergangenen drei Jahrzehnte eine positive Haltung gegenüber Veränderungen und passen sich im Vergleich zu Bewohnern anderer Regionen schneller an neue Gegebenheiten an.
Wir sind alle gefordert, uns gegenüber Veränderungen und Technologien zu öffnen, und sollten keine Angst davor haben, ersetzt zu werden. Es wäre fatal, Ängste zu schüren. Es ist vielmehr wichtig, dass wir mit einer positiven Einstellung in die Zukunft blicken. Wir können die mit langsamem Wachstum, Klimawandel und Disruption durch Digitalisierung verbundenen Probleme lösen und unsere Aufgaben bewältigen. Wir alle tragen Verantwortung – für uns, unsere Familien, die Unternehmen, für die wir arbeiten, und für die Gesellschaft, in der wir leben.