Während des letzten Young Professionals Seminars von United Europe in Lissabon hat Anna Romandash, Mitglied unserer Young Professionals Advisor-Gruppe, an vielen Diskussionen über Sicherheit, NATO und die EU sowie die Rolle der Ukraine teilgenommen. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Ukraine für viele ein umstrittenes, zum Teil auch schmerzhaftes Thema ist. Hier ist ihr Text:
Die Frage der Sicherheit Europas ist eine Frage der Sicherheit der Ukraine: Das ist in meinem Heimatland ein verbreiteter Gedanke. Lange Zeit dachte ich, das würde auch von anderen europäischen Verbündeten geteilt, die sich bei verschiedenen Gelegenheiten zur Unterstützung der Ukraine bereit erklärten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Ukraine hat derzeit keine Priorität in der EU, und es fehlt an einer klaren Strategie gegenüber dem Land. Weiß die EU, was sie mit der Ukraine machen soll? Nein, das tut sie nicht, zumindest scheint es so. Ist das schlecht? Ja, aber auch nein, und hier ist der Grund.
Die Ukraine wurde immer als einer der vielen postsowjetischen Staaten im russischen Interessengebiet wahrgenommen. Auch die Ukraine hat diese Rolle einige Zeit lang perfekt gespielt. Unentschlossene Regierungen haben sich nie ganz zu Russland bekannt und gleichzeitig ihr Interesse an guten Beziehungen zu Ost und West bekundet. In der Praxis bedeutete das eine starke Abhängigkeit vom Einfluss Russlands, eine schleppende, wenn auch kontinuierliche Kommunikation mit der EU sowie jahrelange Stabilität und eine langsame Entwicklung. Als sich die Ukraine nach der Orangenen Revolution im Jahr 2004 offen für einen proeuropäischen Kurs aussprach, brachte das keine großen Veränderungen. Obwohl das Interesse vorhanden war, schienen die westlichen Partner damals nicht bereit zu sein, die Ukraine aufzunehmen.
Nach der Wahl des pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Jahr 2010 verschlechterte sich die Situation. Ironischerweise hatte die Ukraine während seiner Präsidentschaft die Chance, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen – etwas, das sie während der Präsidentschaft des pro-westlichen Wiktor Juschtschenko nicht tun konnte. Die Möglichkeit, die Ukraine zu „verlieren“, hätte schon dadurch verhindert werden können, indem die Ukraine das Assoziierungsabkommen unterzeichnet und sich zu seiner Umsetzung verpflichtet hätte. Im letzten Moment weigerte sich Janukowitsch, und der Rest ist Geschichte. Was jetzt in der Ukraine geschieht, ist das direkte Ergebnis der letzten Jahrzehnte, in denen die Politiker zu vorsichtig waren, um sich von Russland abzuwenden und ihr Interesse an der Wiederherstellung der nationalen Identität und der pro-westlichen Bestrebungen zu bekunden. Der darauffolgende Krieg mit Russland und die innere Instabilität sind ein Ausdruck der ungesunden Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine und der schwachen Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine.
Interessant ist, wie die EU die Ukraine jetzt wahrnimmt. Es scheint, dass trotz jahrelanger Kämpfe, Erklärungen auf beiden Seiten und verstärkter Zusammenarbeit noch immer kein klarer Ansatz gegenüber der Ukraine besteht, und es fehlt eine produktive Strategie gegenüber dem Land. Für viele Europäer bleibt die Ukraine eine Terra incognita im russischen Dunstkreis, so dass wichtige politische Entscheidungen unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Interessen getroffen werden – und diese Interessen schließen in der Regel Russland mit ein. Die Lage der Ukraine als sicherer Hafen, der die EU vor Russland schützt, oder als Puffer zwischen Ost und West, zwischen Demokratie und deren Abwesenheit, ist im Hinblick auf die Ukraine eine weitere Verzerrung. Schließlich gibt es noch die Frage der Größe, denn die Integration eines so großen Landes in die EU – auch wenn wir über eine ferne Zukunft sprechen – erscheint angesichts der aktuellen internen Probleme zwischen den Mitgliedstaaten bestenfalls schwierig.
Während diese Aspekte von Nachteil sein können, hat die Ukraine aber auch die Möglichkeit, sie zu ihrem Vorteil zu nutzen. An der Ostgrenze zur EU gibt es eine sehr große Bevölkerungszahl, die ein großes Interesse an einer stärkeren Zusammenarbeit mit dem Westen und alles in allem eine europäische Kultur hat. Die Größe kann von großem Vorteil sein, wenn die Reformen in der Ukraine greifen und die gewünschten Ergebnisse zu erzielen und die Wirtschaft in größerem Maß wieder in Gang kommt. Darüber hinaus ist die proaktive Rolle der Ukraine ebenso notwendig wie eine proaktive EU, wenn beide Seiten über eine partnerschaftliche Zusammenarbeit diskutieren.
Was die Ukraine dringend braucht, ist eine gute PR-Kampagne, so dass die westlichen Verbündeten – sowohl die EU-Beamten als auch die normalen Bürger – die Ukraine als ein europäisches Land sehen, das nach Europa zurückkehrt, und nicht als Neuling, den sie lieber opfern würden, um Russland zu gefallen.
Anna Romandash ist eine 26-jährige Journalistin aus Lwiw, Ukraine. Sie leitet die Kommunikation bei der NGO „Digital Communication Network“, arbeitet mit osteuropäischen Journalisten zusammen und sucht nach Möglichkeiten, diese Arbeit für alle Europäer attraktiver zu gestalten und zu verstehen, wie die EU mit einigen medienbezogenen Politiken umgeht. Derzeit arbeitet sie als Korrespondentin für Radio Free Europe in Barcelona.