Das Gesundheitswesen in Europa ist ein Aushängeschild gewesen, wenn es um die Entwicklung neuer Medikamente und die medizinische Betreuung ging. Es hat so die weltweit gesündeste Gesellschaft mit der höchsten Lebenserwartung hervorgebracht. Dies ist allerdings mit immensen Kosten für die öffentliche Hand einhergegangen. In der gesamten Europäischen Union suchen die Länder jetzt nach neuen Wegen, um die Art und Weise wie die Gesundheitsfürsorge bereitgestellt und betrieben wird, zu reformieren. Die Harmonisierung der Gesundheitsfürsorge über die einzelnen EU-Länder hinweg ist hierbei ein Weg, während ein anderer eine breitere Versorgung durch privat finanzierte, qualitativ hochwertige Gesundheitsfürsorge sein könnte.
Die europäischen Gesundheitsfürsorgesysteme haben dazu beigetragen, dass man in Europa die Gesellschaft mit der höchsten Lebenserwartung vorfindet. Allerdings sind diese Systeme auch die teuersten weltweit. Deutschland gibt 11 Prozent seines BIP für das Gesundheitswesen aus und hiervon werden rund 77 Prozent von der öffentlichen Hand finanziert. Steigende Kosten im Gesundheitswesen, eine immer älter werdende Bevölkerung und eine zunehmende Rate an chronischen Krankheiten haben in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu fortwährenden Versuchen geführt, die Gesundheitsversorgung zu reformieren.
Das unterschiedliche Erbe der europäischen Gesundheitsfürsorgesysteme sowie deren Abhängigkeit von öffentlicher Finanzierung machen jegliche Reformen zu einem höchst emotionalen Thema in der öffentlichen Diskussion.
Geringe Konvergenz
Die EU hat Richtlinien herausgegeben, um die Gesundheitsfürsorgesysteme über ihre Mitgliedstaaten hinweg zu harmonisieren. Dadurch sollte es leichter werden, die Kosten zu kontrollieren, neuartige Therapeutik mit der europäischen Gesetzgebung in Gang zu bringen und eine bessere Nutzung der Kapazitäten von Krankenhäusern und Gesundheitsdienstleistungen über alle Grenzen hinweg zu erreichen.
In Analogie zu den Richtlinien zur Sozialfürsorge liegen die Richtlinien zur Gesundheitsfürsorge in Europa jedoch ausschließlich im Zuständigkeitsbereich jedes einzelnen Landes. Es gibt bislang nur eine geringe Konvergenz bei den einzelnen europäischen Gesundheitssystemen sowie im Hinblick auf die Strategien in der Gesundheitspolitik. Um ein neues Medikament auf den Markt zu bringen – mit Ausnahme von Arzneimitteln für besonders seltene Krankheiten, sogenannte “orphan drugs” oder Therapeutika für seltene Erkrankungen – muss die Zustimmung von der Arzneimittelbehörde jedes einzelnen Landes eingeholt werden. Die Erstattung für diese Therapeutika ist ebenfalls eine nationale Angelegenheit, ebenso wie die Marktzulassung für Generika oder die Vergabe von Zulassungslizenzen für Ärzte.
Unterschiedliches Tempo
Die pharmazeutischen Unternehmen und die Organisationen im Gesundheitswesen stehen in Europa einem weitaus komplexeren und kostspieligeren Markteintrittsprozess gegenüber als in den Vereinigten Staaten.
Ein Gesundheitsökonom eines führenden pharmazeutischen Unternehmens sagte, “Es ist, als ob man ein Territorium Burg um Burg erobert…”. Jeder EU-Mitgliedstaat kann unterschiedliche Kriterien anwenden, wenn es um die Zulassung von Medikamenten geht. Hierbei sind zumeist therapeutische und wirtschaftliche Parameter inkludiert. Außerdem operieren die europäischen Länder mit unterschiedlichem Tempo. Die Empfehlung der EU, Therapeutika nach ihrer Markteinführung zu überwachen – ein Standard in den Vereinigten Staaten, um eine bessere Medikamenten-Risikokontrolle zu erreichen -, ist bislang nur in zwei EU-Staaten eingeführt worden, in Großbritannien und Deutschland. Die letzten Daten, die von der Europäischen Kommission in Zusammenarbeit mit der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Februar 2015 zur Gesundheit und zu den Gesundheitssystemen in 35 europäischen Ländern präsentiert wurden, umfassten alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Beitrittskandidaten sowie die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Die Daten offenbaren die Nachwirkungen der Wirtschaftskrise des Jahres 2009 und die Auswirkung der anschließenden Kürzungen im Gesundheitswesen.
Höhere Lebenserwartung
Die Lebenserwartung steigt in der EU auch weiterhin. Sie erreichte im Jahr 2012 im Durchschnitt 79,2 Jahre (82,2 Jahre bei Frauen und 76,1 Jahre bei Männern). Dies stellt gegenüber dem Jahr 1990 eine Zunahme von 5,1 Jahren dar. Zwischen den Mitgliedstaaten mit den höchsten und niedrigsten Werten bestehen jedoch Ungleichheiten, die sich in einer Lücke von bis zu 8,4 Jahren manifestieren. So ist zum Beispiel die Säuglingssterblichkeit in Griechenland im Laufe der letzten beiden Jahre gestiegen und die Lebenserwartung ist auf ein Niveau zurückgegangen, das man normalerweise in Entwicklungsländern vorfindet. Diese Beobachtung wird größtenteils dem Zusammenbruch der öffentlichen Dienstleistungen im Anschluss an die Finanzkrise zugeschrieben.
Die Gesundheitsausgaben nahmen in realen Werten gerechnet – also inflationsbereinigt – im Zeitraum von 2009 bis 2012 im Durchschnitt um 0,6 Prozent pro Jahr ab. Dieser Ausgabenrückgang ging auf Kürzungen bei der Arbeitskräfteanzahl und den gezahlten Gehältern im Gesundheitswesen, auf eine Reduzierung der Beiträge, die an den Gesundheitsversorger bezahlt wurden, auf niedrigere Arzneimittelpreise und Selbstzahlungen vonseiten der Patienten zurück.
Übermäßige Bürokratie
Bei der Eingrenzung der Kosten hat man sich historisch gesehen auf die hochprofitable, pharmazeutische Industrie und deren therapeutische Produkte konzentriert, die nur 15-20 Prozent des durchschnittlichen europäischen Budgets im Gesundheitswesen ausmachen. Die politischen Entscheidungsträger haben erst vor kurzem ihren Fokus auf die Hauptkostentreiber im Gesundheitswesen verlagert. Dies sind die Krankenhausdienstleistungen und die Handhabung chronischer Krankheiten.
Vergleichende Daten zeigen auch, dass ein Monopol bei der staatlichen Krankenversicherung, wie man es zum Beispiel in Österreich mit den dortigen ‘Gebietskrankenkassen’ und deren exzessiver Bürokratie vorfindet, viel kostspieliger und rigider ist als privat geführte Krankenversicherungssysteme.
Dies ist einer der Gründe, weshalb die Schweiz im Jahr 2014 gegen die Einführung eines einheitlichen öffentlichen Krankenversicherungssystems gestimmt hat, das das derzeitige private Versicherungssystem ersetzt hätte.
Wartezeiten
Die Zahl der Ärzte pro Kopf – ein Maß für den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung – hat sich seit 2000 in allen EU-Ländern außer Frankreich erhöht. Dort blieben die Zahlen stabil.
Die Zahl der praktizierenden Krankenschwestern ist ebenfalls bis auf zwei EU-Mitgliedstaaten in allen übrigen EU-Ländern gestiegen. Dies ist hauptsächlich auf die Tendenz zurückzuführen, dass Patienten von teurer Krankenhausbehandlung auf die Pflege zu Hause überwechselten.
Die Wartezeiten für chirurgische Eingriffe, bei denen es sich nicht um Notfallbehandlungen handelt, variieren erheblich von einem zum anderen EU-Land. Im Laufe der letzten paar Jahre haben einige Länder Fortschritte gemacht, was die Reduzierung der Wartezeiten anbetrifft, während sie in einigen anderen Ländern, wie zum Beispiel Portugal, Spanien und Griechenland, begonnen haben zu steigen. Hierzu kam es wahrscheinlich, weil Chirurgen diese Länder für eine bessere Bezahlung und bessere Einrichtungen im Ausland verlassen haben. Auch Patienten überqueren innerhalb Europas zunehmend die Grenzen, um woanders eine ärztliche Behandlung zu erhalten. Im Zeitraum von 2007 bis 2012 ist in den meisten EU-Ländern sowohl der Import als auch der Export der Gesundheitsfürsorgedienstleistungen gestiegen.
Fettleibigkeit nimmt zu
Die Mobilität der Patienten innerhalb Europas dürfte als Folge der EU-Direktive zur grenzüberschreitenden Gesundheitsfürsorge noch weiter zunehmen. Damit wird das Recht der Patienten auf die Inanspruchnahme grenzüberschreitender Gesundheitsfürsorge unterstützt und die Kooperation zwischen den Gesundheitssystemen gefördert.
Die EU fördert und berät aktiv die Assoziierungsvereinbarungen zwischen den EU-Mitgliedern sowie die bilateralen Vereinbarungen mit ihren Nachbarstaaten, um so die Regeln zu harmonisieren und Kapazitäten im Bereich des Gesundheitswesens aufzubauen. Übergewicht und Fettleibigkeit nehmen in der EU zu. Die derzeitigen Zahlen sagen aus, dass 53 Prozent der Erwachsenen entweder als übergewichtig oder fettleibig gelten. Von Fettleibigkeit – die noch größere Gesundheitsrisiken mit sich bringt als das reine Übergewicht – ist zurzeit jeder sechste Erwachsene betroffen, das sind 16,7 Prozent in der EU. Damit hat diese Zahl in den letzten 10 Jahren um mehr als ein Drittel zugenommen. Es gibt allerdings beträchtliche Schwankungen zwischen den einzelnen Ländern und Fettleibigkeit ist hauptsächlich ein Problem, das man in den Bevölkerungsschichten mit niedrigen Einkommen in einer ansonsten reichen Gesell- schaft vorfindet.
Hohe Kosten
Die EU-Politik im Gesundheitswesen konzentriert sich heute auf Fehlernährung, physische Inaktivität und die weite Verbreitung chronischer Krankheiten wie Diabetes, die allesamt typische Symptome einer Wohlstandsgesellschaft sind.
Der wachsende Kostendruck, der auf den Strukturen im Gesundheitswesen lastet und eine schwierigere europäische Wirtschaftslage bedeuten, dass sich der bisherige Fokus auf die Eindämmung des Anstiegs von Herzkrankheiten, von psychischen Störungen sowie von Verhaltens- störungen verlagern könnte.
Kein europäisches Land scheint mit seinem System der Gesundheitsfürsorge absolut glücklich zu sein, radikale Reformen sind jedoch unwahrscheinlich. Eine OECD Analyse zu den Gesundheitsfürsorgesystemen rund um den Globus kann keine entscheidenden Kriterien für das Kosten-Nutzen-Verhältnis oder die Patientenzufriedenheit ausfindig machen. Reformen führen normalerweise zu hohen Kosten, da sie Veränderungen einführen. Der langfristige Vorteil für die politischen Entscheidungsträger in Europa oder die Patienten ist allerdings nicht offensichtlich. Einige Länder haben jedoch mit Veränderungen begonnen. Experten glauben, dass dies die Gesundheitsfürsorge effizienter machen könnte und dass dadurch ähnliche positive Initiativen über die gesamte EU hinweg angestoßen werden könnten.
Patientenakten
Deutschlands Regierung subventioniert die sogenannte ‘integrierte Versorgung’, ein Ansatz, der bei der Krankenversicherung patientenorientiert vorgeht – im Vergleich zu einer therapiezentrierten Herangehensweise.
Das kostspielige ‘Arzt-Hopping’ oder das Gatekeeping für die Facharztversorgung werden dabei minimiert, was die Zusammenarbeit unter den Fachärzten verbessert, wenn es um die Diagnose und die Behandlung komplexer, aber weitverbreiteter Krankheiten und gesundheitlicher Probleme, wie zum Beispiel Migräne, geht.
Dänemark investiert in ein System der elektronischen Patientenakten. Fördergelder und Regulierungen sind eingeführt worden, um das neue System mit dem bereits vorhandenen elektronischen Patientensystem zu verbinden, anstatt ein einziges neues System aufzubauen. Im Ergebnis führte dies zu niedrigeren Behandlungskosten, weniger Schreibarbeiten und einer verbesserten Qualität der Versorgung.
Großbritannien misst und analysiert systematisch die Ergebnisse medizinischer Eingriffe und Behandlungen. Die Daten, die hierbei zur Herzchirurgie gesammelt wurden, haben bereits dazu beigetragen, die Sterblichkeitsrate um die Hälfte zu reduzieren.
Eine Initiative in Großbritannien, um ‘Patient Recorded Outcomes Measures’ (PROMs) zu sammeln, könnte die Ansichten der Ärzte verändern, was den Erfolg von einzelnen Heilverfahren angeht. Dies könnte wiederum die Qualität der Versorgung verbessern und die Kosten reduzieren.
Private Initiativen
Die EU wird mehr tun müssen als nur Richtlinien zur Verfügung zu stellen. Die nationalen Systeme müssen darauf vorbereitet werden, einer ganzen Vielfalt von Herausforderungen zu begegnen, die sich in naher Zukunft abzeichnen. Obwohl alle Länder unterschiedlich begonnen haben, stehen sie jetzt alle vor denselben Kosten- und Effizienzproblemen. Neue Denkansätze und europaweite strategische Pläne sind erforderlich, um zu vermeiden, dass alte Regelungen, die sich als ineffektiv erwiesen haben, wiederverwendet werden. Die Implementierung der neuen Strategien wird allerdings auch weiterhin in den Händen lokaler Politiker liegen. Ziemlich langsame politische Prozesse bremsen die Anpassung der aktuellen Gesundheitsfürsorgesysteme – ganz besonders wenn das Budget knapp ist. Als Ergebnis hiervon könnten private Initiativen wichtiger werden. Ein größerer Anteil an den europäischen Gesundheitsfürsorgesystemen und den damit verbundenen Kosten wird vom privaten Sektor und von gewinnorientierten Organisationen übernommen werden müssen. Der Zugang zu einem qualitativ hochwertigen Gesundheitswesen für alle könnte allerdings gefährdet sein, wenn der Einfluss des Privatsektors zunimmt. Eine sozioökonomische Ungleichheit wäre nicht mehr zu vermeiden.
Dieser Bericht wurde von Dorothee Deuring verfaßt und wird unseren Mitgliedern mit freundlicher Genehmigung von © Geopolitical Information Service AG, Vaduz zur Verfügung gestellt:
www.geopolitical-info.com
Themenverwandte Reports:
- Das EZB-Programm der ‘Quantitativen Lockerung’ sollte in Europa keine falschen Hoffnungen wecken
- Das billige Öl und der schwache Euro könnten Europas Wachstum ankurbeln
www.geopolitical-info.com