Im Rahmen eines United Europe Dinners am 16. Juni in Hamburg hat Peter Sutherland, der ehemalige irische EU-Kommissar und Chef der Welthandelsorganisation WTO, seine Perspektive der britischen Entfremdung von Europa dargestellt. Sutherland sagte, Großbritannien sei durch seine geschichtlichen Erfahrungen anders geprägt als Kontinental-Europa. Zugleich warnte er Europa davor, seine Prinzipien aufzugeben, um Großbritannien zufrieden zu stellen. Die Erwiderung hielt Simon McDonald, der britische Botschafter in Deutschland.

Was ist der Grund dafür, dass die Briten solche Vorbehalte gegen die europäische Einigung haben? Bei einem United Europe Dinner am 16. Juni in Hamburg erläuterte der irische Staats- und Geschäftsmann Peter Sutherland, die Wurzeln dieser Einstellung reichten Jahrhunderte zurück. „Die Briten haben Vorbehalte dagegen, in das europäische Geschehen verstrickt zu werden”, sagte er.
“Wir müssen akzeptieren, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt, die mit dem Konzept der geteilten Souveränität zusammenhängen,“ erläuterte Sutherland. „Viele von uns glauben an dieses Konzept, das dem Projekt zu Grunde liegt. In Großbritannien würden viele eine Zusammenarbeit auf Ebene der Regierungen bevorzugen. Aber Großbritannien bringt unglaubliche viel Positives in die EU ein. Wir müssen die Briten davon überzeugen, dass sie bleiben.”

Es war bemerkenswert, dass der britische Botschafter in Berlin, Simon McDonald, die historische Analyse Sutherlands sehr weitgehend teilte. „Über die Jahrhunderte hinweg hat das Vereinigte Königreich versucht, sein Engagement auf dem Kontinent so gering wie möglich zu halten“, sagte McDonald in seiner Erwiderung auf Sutherlands Rede. Großbritannien habe auf dem Kontinent seit jeher eine Gleichgewichtspolitik betrieben, um die Dominanz einzelner Mächte zu verhindern.
Der Ort dieser lebhaften Diskussion um die britische Entfremdung von Europa war der Festsaal des Übersee-Clubs an der Binnenalster in Hamburg. Hier, in einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbauten, klassizistischen Kaufmannsvilla, nahmen etwa 50 Mitglieder und Unterstützer von United Europe aus Wirtschaft, Politik, Diplomatie und Forschung an einer Debatte teil, die die europäische Politik in den kommenden Jahren prägen wird.

Wolfgang Schüssel, der frühere österreichische Bundeskanzler und Präsident von United Europe, gab mit seiner Einleitung den Ton vor. Dies sei der Wettstreit zweiter Ritter, sagte Schüssel: hier Sir Peter, dort der am Wochenende zuvor zum Ritter geschlagene Sir Simon.
Sutherland sprach als leidenschaftlicher Europäer und zugleich als ein genauer Kenner Großbritanniens. Dabei äußerte er sich durchaus kritisch gegenüber der Position des Vereinigten Königreichs und dem britischen Ministerpräsidenten David Cameron, der für 2017 ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft seines Landes plant, falls er im kommenden Jahr wiedergewählt wird. Cameron habe gefordert, dass sich Europa verändern müsse und habe sogar eine Regierungskommission eingesetzt, die den Reformbedarf ermitteln sollte, sagte Sutherland.
Trotzdem habe London bislang keinen einzigen konkreten Vorschlag gemacht. „Als einzigen konkreten Punkt hat Cameron genannt, dass er das Ziel einer immer engeren Gemeinschaft der Völker Europas ablehnt, wie es im Vorwort der EU-Verträge steht. Wir befinden uns in einer unaufrichtigen Auseinandersetzung, weil die vorgeschlagene Neuverhandlung in keiner Weise definiert worden ist.“

Statt genau zu sagen, welche Reformen Europa brauche, befasse sich die britische Regierung mit Fragen wie der, wer Kommissionspräsident werden solle oder nicht, sagte Sutherland. „Die Briten wären besser beraten, wenn sie Vorschläge machten, die klar definiert sind und darauf zielen, der nächsten EU Kommission klare Arbeitsaufträge zu geben, statt die Verträge ändern zu wollen“, sagte Sutherland. „Dies könnte dazu beitragen, dass wir zu einer stimmigere Politik und Fortschritten in Bereichen wie Energie, Binnenmarkt und Außen- und Sicherheitspolitik kommen. Hier sollte Europa gestärkt und nicht geschwächt werden.“ Sutherland schlug auch vor, das Prinzip der Subsidiarität und die Rolle der nationalen Parlamente zu stärken.
Sollte Großbritannien am Ende entscheiden, aus der EU auszutreten, wäre dies nach Sutherlands Einschätzung ein furchtbarer Verlust für das Land selbst, aber auch für das übrige Europa. Dennoch gebe es klare Grenzen für die Zugeständnisse, die man London machen könne. „Wir müssen akzeptieren, dass es hier unterschiedliche Sichtweisen gibt“, sagte er. “Die britische Sicht Europas ist eine von souveränen Staaten, die als Nationalstaaten zusammenarbeiten. Ich betrachte die Europäische Union als seine Gemeinschaft der geteilten Souveränität, in der das europäische Recht absoluten Vorrang hat. Es ist nicht vorstellbar, den Grundcharakter dieses Projekts zu ändern. Aber sicherlich kann es effizienter werden und sich stärker an den wirklichen Erfordernissen orientieren.“
In seiner Erwiderung warb Botschafter McDonald um mehr Verständnis für die britische Position. Der Diplomat wies darauf hin, dass Großbritannien traumatische historische Erfahrungen mit seiner EU-Mitgliedschaft gemacht habe. Es sei das einzige von heute 28 EU-Mitgliedern, das unmittelbar nach seinem Beitritt 1973 in eine tiefe Wirtschaftsrezession gefallen sei, sagte McDonald. Auch seien die britischen Wähler enttäuscht und verärgert gewesen, als die damalige Labour-Regierung den EU-Vertrag von Lissabon ohne Referendum ratifizierte. Schließlich habe dann die Euro-Krise in London die Sorge heraufbeschworen, dass Großbritannien von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen werde, weil es nicht der Währungsunion beigetreten sei.

In den Reden und der anschließenden Diskussion kristallisierten sich vor allem zwei Konfliktpunkte zwischen beiden Rednern heraus: die Einwanderungspolitik und die Frage, wer Kommissionspräsident werden sollte. Während Sutherland warnte, dass es in der Frage der Freizügigkeit innerhalb Europas keine Kompromisse geben könne, sprach McDonald davon, dass seine Regierung lediglich den „Sozialleistungs-Tourismus“ einschränken wolle. Und wo Sutherland über eine „unwürdige Debatte“ um den neuen Kommissionspräsidenten sprach, sagte McDonald, Premierminister Cameron müsse sich in Europa auf zwei wichtige Partner stützen können: einerseits Bundeskanzlerin Angela Merkel und andererseits den nächsten Kommissionspräsidenten. „Ein ziemlich konsequenter Integrationist – das ist nicht das, was wir wollen“, sagte der Botschafter. Dabei bezog er sich offenkundig auf Jean-Claude Juncker, den früheren luxemburgischen Ministerpräsidenten, der für die Kommissionsspitze kandidiert.
Und doch waren die Differenzen zwischen den beiden Sprechern weniger tief als man hätte erwarten können. Es wurde deutlich, wie sehr sowohl Sutherland als auch McDonald hoffen, dass Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt. Botschafter McDonald traf die Stimmung der pro-europäischen und wirtschaftsfreundlichen Zuhörer ganz genau, als er sagte: „Es wäre eine Tragödie für Großbritannien, wenn es die EU verließe – wir wollen das nicht. Aber es wäre auch eine Tragödie für das übrige Europa, wenn wir gingen.“
Wieder einmal hatte McDonald in seiner Erwiderung ganz ähnliche Töne angeschlagen wie Sutherland zuvor. Und doch beendete Sutherland – ein Mann von außerordentlicher Erfahrung im Leben und in der Politik – seine Rede mit einem überraschend optimistischen Ausblick. „Das britische Volk wird, wenn es gefragt wird, am Ende Ja sagen“, prophezeite Sutherland. „Sie müssten verrückt sein, um Europa abzulehnen. Aber diesmal werden sie Ja sagen, weil sie mit einigen der schlimmsten und schädlichsten Elementen einer Debatte abgeschlossen haben werden, die uns in Europa so lange gelähmt hat.“
Fotos: Ina Fassbender
United Europe dankt den Sponsoren, die dieses Dinner ermöglicht haben: der BMW Gruppe, dem Unternehmer Jürgen Abraham und einem dritten großzügigen Spender, der nicht namentlich genannt werden wollte.