Unser Advocacy-Webinar in Zusammenarbeit mit Aurora Energy Research fand am 24. Februar über Zoom statt. Eine hochkarätige Runde mit Michael Müller (Finanzvorstand von RWE), Valerie Faudon (Generaldirektorin der SFEN – Societe Francaise d’Energie Nucleaire), Laurie Fitch (Partnerin bei PJT Partners) und Ingrid Nestle (Bundestagsabgeordnete und Energie- und klimapolitische Sprecherin von Bündnis90/Die Grünen) diskutierten, ob Erdgas und Kernenergie im Rahmen der neuen EU-Taxonomie für nachhaltige Aktivitäten als „grün“ gelten sollten. Das Panel wurde von Hanns Koenig, langjähriges Mitglied von United Europe und Advocate, Head of Commissioned Projects, Central Europe bei Aurora Energy Research moderiert.
Zusammenfassung:
Die EU-Taxonomie ist eine Klassifizierung, die den Finanzmärkten helfen soll, Greenwashing zu vermeiden und grüne Investitionen zu beschleunigen. Die Europäische Kommission hat folgende Punkte vorgeschlagen:
Kernkraft und Erdgas sollen in die Taxonomie aufgenommen werden, sofern sie bestimmte Kriterien erfüllen. Obwohl der Vorschlag sehr umstritten ist, beschloss die Europäische Kommission, ihn voranzutreiben, da diese beiden Sektoren der EU helfen können, ihren ehrgeizigen Fahrplan zur Klimaneutralität einzuhalten. Am Tage unseres Webinars marschierte Russland in die Ukraine ein, was die Erdgaspreise erheblich in die Höhe treibt und dazu führt, dass man in Europa die Abhängigkeit von russischem Gas verringern muss. Das könnte dazu führen, das „grüner“ Wasserstoffs zu einer finanziell tragfähigen Option wird.
Schlussfolgerungen:
Michael Müller (RWE) schlug vor, dass die „grüne“ Ausrichtung der Aktivitäten eines Unternehmens danach beurteilt werden sollte, wie und wo es investiert (CAPEX, Capital Expenditures). CAPEX zeigt deutlich, wie viel in neue Technologien investiert wird. Die Automobil-, Chemie- und Stahlindustrie stehen vor einem enormen Investitionsbedarf. Allein der Blick auf den Status quo wird hier nicht zur Transformation der Energiemärkte beitragen.
Obwohl die Grünen traditionell gegen Gas sind, sieht Ingrid Nestle (Bündnis90/Die Grünen) die Notwendigkeit, die Energiesicherheit durch Gaskraftwerke zu gewährleisten. Sie sprach sich deutlich gegen Atomkraft aus und verwies auf die immer noch ungelöste Frage der Atommüllentsorgung und auf die Verzögerungen beim Bau neuer Atomkraftwerke in Westeuropa: „Sie sind ein Jahrzehnt hinter dem Zeitplan.“ Die Kernkraft ist viel teurer als erneuerbare Energien, und Europa sollte nicht mehr Geld, Zeit und politische Energie für die Kernkraft aufwenden, sondern sich stattdessen auf grüne Infrastrukturen konzentrieren, schloss Ingrid Nestle.
Valerie Faudon (SFEN) von der Französischen Vereinigung für Kernenergie entgegnete, dass die Kernenergie für die Energieversorgungssicherheit notwendig ist und dass die Kernenergie ein wichtiger Teil des Energiewandlungsprozesses ist: Es ist eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit Europas, sagte Valerie. Europa muss eine internationale Perspektive einnehmen: Die Verringerung der Emissionen ist ein globales Thema, und die Kernenergie wird Teil anderer Taxonomien sein, zum Beispiel in den USA oder Kanada.
Laurie Fitch (PJT) wies auf die Dringlichkeit der Energiesicherheit hin. Der Energiesektor ist keine Branche, in der das Versagen der Versorgungskette auf Stromausfälle geschoben werden kann. Angesichts der enormen Geldsummen und Zeithorizonte, die mit Investitionen in grüne Infrastrukturen verbunden sind, müssen diese sehr klar klassifiziert werden. Daher ist die Taxonomie sehr wichtig und für die Kapitalströme von großer Bedeutung. Folglich ist die Taxonomie eine viel umfassendere Definition dessen, was als nachhaltig angesehen werden kann. Es gibt einen schnell wachsenden Markt für grüne Anleihen in Höhe von fünfhundert Milliarden Euro pro Jahr, und die Kapitalströme werden der Taxonomie definitiv Aufmerksamkeit schenken.
Vollständiges Interview (bearbeitet):
Hanns König: RWE investiert in Anlagen zur Stromerzeugung in ganz Europa. Wie wirkt sich die Taxonomie auf große Stromerzeuger aus?
Michael Müller, RWE: Die Taxonomie bietet eine Klassifizierung für nachhaltige Aktivitäten und unterstützt Investoren oder den Kapitalmarkt bei der Entscheidungsfindung, wo investiert werden soll. Sie bietet eine Klassifizierung und im Prinzip ist das ein guter Ansatz. Aber in der Praxis bedeutet sie eine administrative Belastung, insbesondere für große Stromerzeuger. Die Kriterien der Taxonomie basieren auf nachhaltigen und nicht nachhaltigen Aktivitäten, eine völlig andere Perspektive, die dokumentiert werden muss, und mit einem enormen Aufwand einhergeht.
Hanns König: Die deutschen Grünen stehen der Aufnahme von Gas und Atomkraft in die die Taxonomie sehr kritisch gegenüber. Jetzt sind die Grünen in Deutschland an der Regierung und haben einen Kompromiss unterstützt, der Erdgas und Atomkraft als „grün“ einstuft – warum?
Ingrid Nestle, Bündnis90/DieGrünen: Die Taxonomie ist ein guter Ansatz, aber die Einbeziehung von Atomkraft und Gas macht sie weniger glaubwürdig. Die Kernenergie kommt hier definitiv zu gut weg und es ist ein großer Fehler, sie einzubeziehen. Eine Technologie, die Abfälle produziert, die für zehntausend Jahre bewacht werden müssen, kann nicht nachhaltig sein. Erdgas ist etwas anderes: Hier muss man zwischen fossilem Gas und Gaskraftwerken unterscheiden, die mit verschiedenen Gassorten betrieben werden können, in Zukunft auch mit Wasserstoff. Diese Kraftwerke sind nicht nur akzeptabel, sondern auch notwendig für die 100 Prozent erneuerbare Zukunft.
Hanns König: Wird die Kernenergie in die Taxonomie fair einbezogen, oder sind die bestehenden Einschränkungen zu streng?
Valerie Faudon, SFEN: Die Kernkraft ist eine der emissionsärmsten Quellen in Frankreich. Die Abfallentsorgung ist in Europa stark reguliert und kontrolliert. Es gibt zum Beispiel eine Lösung für die geologische Tiefenlagerung von Atommüll. In der Taxonomie wird die Kernenergie in die Kategorie „Übergang“ eingeordnet. Daher müssen die technischen Bedingungen alle vier Jahre überprüft werden. Das ist schwierig, weil die Kernkraftwerke auf eine Betriebsdauer von 60 Jahren ausgelegt sind. Selbst bei den erneuerbaren Energien ist Europa auf die Kernenergie angewiesen. Das aktuelle 2050-Szenario der Europäischen Kommission sieht vor, dass die Kernenergie im Jahr 2050 15 % des Stroms in Europa erzeugen wird.
Hanns König: Spielt die Taxonomie bei der Verlagerung von Kapitalströmen eine Rolle, oder messen wir der Diskussion des letzten Monats zu viel Bedeutung bei? Wurde das zu sehr aufgebauscht?
Laurie Fitch, PJT Partners: Nachhaltigkeit ist wirklich wichtig, wenn es um Kapitalströme geht. Die Taxonomie untermauert eine viel breitere Definition dessen, was als nachhaltig gelten könnte. Wenn man sich die Kapitalströme anschaut, gibt es einen schnell wachsenden Markt für grüne Anleihen in Höhe von 500 Milliarden pro Jahr, und die Kapitalströme werden letztendlich die Taxonomie einbeziehen.
Hanns König: Die Taxonomie bedeutet Mikromanagement und Verwaltungsaufwand für die Energieerzeuger. Wäre es nicht sinnvoller, sie ganz abzuschaffen und den Marktkräften ihren Lauf lassen? Wir können die Taxonomie oder das Mikromanagement ganz abschaffen. Wäre das nicht nicht ein sinnvollerer Ansatz gewesen?
Michael Müller, RWE: Die Taxonomie könnte pragmatischer sein, aber die Einführung einer Klassifizierung ist eindeutig hilfreich. Um Investitionen grün zu machen, muss es eine Art grüner Klassifizierung geben. Für die Industrie ist es sehr wichtig, dass die Taxonomie zwei verschiedene Kriterien berücksichtigt: Erstens,wie viel von den Einnahmen nachhaltig und wie viel nicht nachhaltig sind, und zweitens CAPEX, die Nachhaltigkeit der Investitionen. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied. Wir setzen uns nachdrücklich dafür ein, dass in der Taxonomie die Investitionsausgaben (CAPEX) berücksichtigt werden, weil dies deutlich zeigt, wie viel Investitionen in neue Technologien fließen und wie schnell der Übergang wirklich vonstatten geht. Die Automobil-, Chemie- und Stahlindustrie haben enorme Kosten vor sich, die finanziert werden müssen. Der Blick auf den Status quo allein hilft der Energiewende nicht weiter.
Ingrid Nestle: Der jetzige Vorschlag liegt in der Hand des Parlaments und damit müssen wir arbeiten. Was die Kernenergie betrifft, so bin ich anderer Meinung. Es gibt für Atommüll sehr strenge Vorschriften, aber wir haben hier immer noch keine endgültige Lösung gefunden. Auch kommt die Kernkraft einfach zu spät und ist zu teuer. Meiner Meinung nach ist das eine Art von Schwindel. Alle drei neuen Kernkraftwerke, die in Westeuropa gebaut werden, sind ein Jahrzehnt hinter dem Zeitplan zurück. Und sie sind so viel teurer als erneuerbare Energien. Wir müssen jetzt anfangen, über grüne Infrastruktur zu reden. Wie können wir sicherstellen, dass bestehende Gasnetze oder umgewandelte Gasnetze für Wasserstoff verfügbar sind? Wir müssen die Elektrolyse zum Laufen bringen, damit wir zu einer Wasserstoffwirtschaft kommen. Wir sprechen hier von 15 Jahren. Das klingt viel. Aber ich gebe Ihnen ein Beispiel: Der größte Elektrolyseur, der derzeit in Betrieb ist, hat 10 Megawatt. Das Ziel sind 10 Gigawatt bis Ende 2030. Das ist also ein großer Schritt auf dem Weg dorthin. Deshalb habe ich um Pragmatismus gebeten. Ich denke, wir müssen das Ganze jetzt zum Laufen bringen, weil wir es sonst gar nicht brauchen werden.
Hanns Koenig: Ist diese Schwarz-Weiß-Unterscheidung in der Taxonomie hilfreich?
Laurie Fitch, PJT Partners: Der Energiesektor ist keine Branche, in der Versäumnisse in der Lieferkette verantwortlich gemacht werden können. Sie muss funktionieren! Sie ist unerlässlich! In Anbetracht der enormen Geldsummen und Zeithorizonte, die in grüne Infrastruktur zu investieren sind, muss sie ganz klar klassifiziert werden.
Valerie Faudon, SFEN: Ich würde gerne eine internationale Perspektive hinzufügen: Die europäische Taxonomie wird nicht die einzige Taxonomie sein. Es wird auch andere Taxonomien geben, zum Beispiel in Kanada oder in den USA. In der amerikanischen Taxonomie wird die Kernkraft enthalten sein. Das amerikanische Kapital wird in Europa investieren. Es gibt eine Möglichkeit für neue Kernreaktoren in Polen, und die Amerikaner haben versprochen, hier zu investieren. Es ist eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit. Europa muss auf seinem eigenen Kontinent wettbewerbsfähig sein. Es ist wichtig, dass wir irgendwann eine internationale Sichtweise einnehmen: Wir müssen die Taxonomien weltweit harmonisieren. Wenn wir uns nicht angleichen, wird es zu Störungen in der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie kommen.
Hanns Koenig: Wie schätzen Sie die globale Entwicklung für Taxonomien ein?
Michael Müller, RWE: Es gibt eine Vielzahl von Rating-Agenturen mit unterschiedlichen Ratings und unterschiedlichen Perspektiven. Aus unserer Sicht wäre es daher in der Tat hilfreich, wenn es in Zukunft eine gewisse Angleichung gäbe. Wir brauchen einen globalen Standard für die Nachhaltigkeitsberichterstattung, wie wir ihn für die Finanzberichterstattung haben. Das würde einen einheitlichen Rahmen schaffen. Wenn wir einen Standard in der EU haben, ist das als Zwischenschritt sicherlich hilfreich. Mittelfristig brauchen wir internationale Standards, um sie vergleichbar zu machen. Aber das ist wiederum der Pragmatismus, von dem ich spreche. Es muss ein klares Bestreben geben, einen internationalen Standard zu erreichen.
Ingrid Nestle: Die Energiestrategie der Europäischen Kommission konzentriert sich vor allem auf grünen Wasserstoff. Es zeichnet sich aber deutlich ab, dass es in Europa nicht genug erneuerbare Ressourcen geben wird, um den Wasserstoff zu produzieren, den wir benötigen. Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht von einer Abhängigkeit in die nächste geraten und grünen Wasserstoff aus Afrika oder anderen fernen Ländern beziehen. In Afrika gibt es mehrere Millionen Menschen ohne Strom. Wir können von diesen Ländern nicht verlangen, dass sie uns mit kohlenstoffarmem Wasserstoff zu versorgen, bevor sie ihrer eigenen Bevölkerung die Grundversorgung mit Strom bereitstellen können.
Die Aufzeichnung des Webinars finden Sie auf unserem YouTube-Kanal.
United Europe bedankt sich sehr herzlich bei allen Diskussionteilnehmern für das engagierte Gespräch.