Erster Teil eines Interviews von Anna Penninger, Young Professional Advisor bei United Europe, mit Pascal Nufer, einem ehemaligen Auslandskorrespondenten für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in China. Pascal Nufer ordnet für United Europe ein, was er über Annäherung, Freiheitsdrang und Veränderung in China gelernt hat. Teil 2 des Interviews folgt.
AP: „Herr Nufer, ich habe nach meiner ersten Recherche und auch in Ihrem Buch gemerkt, dass Sie als Journalist – allein durch Ihre Anwesenheit – sehr stark mit dem chinesischen System konfrontiert worden sind. Kamerateams wurden grundlos abgeblockt, man hat das Filmen untersagt – gleichzeitig wussten Sie auch, dass die Nutzung lokaler Internetservices eine umfassende Überwachung Ihrer beruflichen Tätigkeiten erlaubt. Wenn Sie heute aus der Schweiz heraus den Entwicklungen von China folgen, sind Sie nah dran. Aber, ist es wirklich möglich aus dem Ausland China-Auskünfte zu erteilen, oder direkte Inputs für Ihre Arbeit zu erhalten? Die Menschen, die dort leben, können Ihnen ja auch nicht uneingeschränkt ihre Meinung mitteilen, auch wenn sie Informanten zur Hand haben.“
PN: „Sobald man das Land verlässt, bewegt man sich automatisch einen Schritt weg. Man erlebt nicht mehr alles so direkt: Die Kultur und das Alltagsleben fehlen und das wäre in Zusammenhang mit China sehr relevant, um den Kontext besser zu verstehen. Nehmen Sie zum Beispiel das Maskentragen: Wir haben das in Europa lange Zeit total falsch interpretiert und sehr lange gebraucht, bis wir verstanden haben, warum die Leute auch lange nach SARS immer noch Masken tragen auf den Straßen. Es war nicht die Angst vor einer Ansteckung, sondern der Wunsch, niemanden anzustecken, wenn man selbst krank ist, der die Leute Masken tragen ließ. Ich habe auch lange gebraucht, dies zu verstehen. Wenn die Menschen in Asien Masken tragen, ist das also keine Paranoia, sondern ein Akt von Rücksichtnahme gegenüber dem andern.
Um solche Feinheiten zu verstehen, ist es meiner Meinung nach eben zwingend nötig, einen «foot on the ground» zu haben. Diese direkte Verbindung habe ich jetzt, wo ich nicht mehr vor Ort bin, leider verloren. Ich nutze sozusagen eine «Krücke», wenn ich China heute von außen beobachte. Immerhin bleibt mir aber der Vorteil, dass ich kontextualisieren kann. Ich habe nach wie vor gute Kontakte ins Land und tausche mich rege mit Leuten vor Ort aus.
Die Grenzen dieser Art von Beobachtung zeigt die aktuelle Situation sehr gut: Seit Monaten erzählen mir Freunde, dass in Schanghai oder Peking wieder ein normales Leben herrsche, fast wie vor Corona. Sie würden ausgehen, Freunde einladen und Kontakte pflegen. Ich kann dies fast nicht glauben, doch es scheint tatsächlich zu stimmen. Zu gerne würde ich dies selber erleben und selber überprüfen. Doch so bleibt mir eben nichts anderes, als die Erzählungen der Leute vor Ort, inklusive meiner Journalistenkollegen einfach zu glauben.
Ich hatte für November eine Reise nach China geplant, die ich dann absagen musste. Zwei Wochen Quarantäne hätten den Rahmen einfach gesprengt und hätten nicht mehr im Verhältnis gestanden zu dem, was ich von der Reise zurückgenommen hätte. Andererseits wäre es sehr wichtig gewesen, einmal wieder ein paar Wochen vor Ort zu sein, um genau solche Kontextualisierung vornehmen zu können. Kaum irgendwo sonst ändern sich Dinge so schnell, wie in China oder in anderen Worten: Die Halbwertszeit von China-Wissen ist viel kürzer als das Wissen über andere Themen. Wer 4-5 Jahre nicht in der Schweiz war, verpasst wenig, wer ein Jahr nicht in China war, erkennt vieles nicht mehr. Das ist einfach eine Tatsache, und erfordert regelmäßige Reisen nach China – nur so kann ich meine Glaubwürdigkeit aufrechterhalten.“
AP: „Das ist sehr spannend, ihr Aufenthalt von über 5 Jahren hat ja gezeigt wie viel sich verändert hat. Sie sind nochmal statt ins System ins ‘Volk’ China eingetaucht, um andere Perspektiven aufzugreifen und zu ermitteln. Für mich leiten sich zwei Fragen ab. Der Zugang zu China ist sprachlich allein schon sehr beschränkt. Eine Bekannte aus China hat mir erzählt, dass wir sehr wenig wissen, weil englischsprachiges Material – das nach einer westlichen ‘Erwartungshaltung’ da sein sollte, vorliegt. Daher frage ich sie: Wie kann man das große mächtige Land verstehen ohne Chinesisch zu beherrschen. Sollten wir alle Chinesisch lernen?
Und der zweite Punkt bezieht sich indirekt auf Sprache aus Ausdrucksmittel. Sie erwähnen, Schweigen wird oft als Kritik betrachtet. Wenn ich von der Sprache zum Schweigen als Ausdruck denke: Wo haben sie denn Freiheitsdrang gespürt, wenn wir oder Sie das sprachlich gar nicht so genau ausmachen können?“
PN: „Sie sprechen da einen wichtigen Punkt an. Tatsächlich ist die Sprachbarriere ein großes Hindernis, das ich immer wieder von neuem zu überwinden versuchte. Ich selber spreche nur schlecht Mandarin und habe immer mit ÜbersetzerInnen gearbeitet. Aber tatsächlich glaube ich, dass wir, je mehr wir China als Weltmacht ernstnehmen, uns auch auf die Sprache einlassen müssen. Denn es liegt auf der Hand: Die Sprache ist einer der wichtigsten Schlüssel zu einer Kultur. Wir haben früher Englisch gelernt, um die westliche Hemisphäre besser zu verstehen. In Chinas Nachbarländern hat man dies längst erkannt. In Asien lernen die Kinder vielerorts heute Chinesisch in der Schule. Nichtsdestotrotz darf man dabei nicht vergessen, dass Mandarin für einen Großteil der ChinesInnen nicht die Muttersprache, sondern ebenfalls eine Fremdsprache ist, die sie erst in der Schule lernen. Es gibt zig verschiedene Dialekte und Sprachen in China. Mandarin ist lediglich die Hochsprache, über die auch die Regierung versucht, eine Art ‘Großchina’ zu erwirken, das sprachlich eine Einheit bildet. Wie weit die Sprache als Identitätsstiftung reicht, ist fraglich. Es ist vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet der Süden und Hongkong, wo Kantonesisch gesprochen wird, sich nicht so ganz Peking zugehörig fühlt.
Sie haben noch den Freiheitsdrang angesprochen: Dieser äußert sich für mich über ganz unterschiedliche Kanäle. Freiheit heißt ja nicht nur Aktivismus oder Dissidententum. Es sind die kleinen Freiheiten im Alltag, die auch neue Begehrlichkeiten wecken. Und da stelle ich schon eine große Veränderung fest. Dazu gehört für mich zum Beispiel auch die Reisefreiheit. Es war nicht immer so, dass Chinesinnen und Chinesen einen Pass beantragen konnten, um damit zu reisen. Heute ist der chinesische Pass einer von den besten, um die ganze Welt bereisen zu können und von dieser Möglichkeit machen immer mehr Chinesinnen und Chinesen auch Gebrauch. Reisten sie vor 20 Jahren noch in Gruppen, kommen sie jetzt als Individualreisende und wollen beispielsweise in der Westschweiz auf einem Weingut arbeiten. Allein in dieser Entwicklung manifestiert sich für mich auch ein persönlicher Freiheitsgedanke: Die neue Generation will nicht mehr Teil einer Gruppe sein. Sie sucht Individualismus und widerspricht damit auch einem Grundgedanken der Partei. Das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein – etwas, das die Partei gern aufrechterhalten würde – fällt dem Individualismus langsam zum Opfer. Das müsste der Regierung zunehmend auch zu Denken geben. Die Gleichschaltung geht nicht mehr so einfach wie vor 20 Jahren und muss deshalb mit anderen, drakonischen Maßnahmen zementiert werden, zum Beispiel über immer strenger kontrollierte Soziale Medien. Doch meiner Meinung nach kann man das nur noch teilweise eindämmen. Die Individualismus-Bewegung ist da, der Geist der Freiheit ist längst aus der Flasche. Das kann auch gefährlich werden und längerfristig zu einem Zerfall des heutigen Chinas führen.“
AP: „Was genau meinen Sie mit dem Zerfall Chinas?“
PN: „Das passiert nicht heute und nicht morgen. Doch wenn man einen Schritt weiterdenkt, heißt Individualisierung ein Schritt weg vom großen einenden China. Und das kann heißen, dass China in kleinere Teile zerfällt und Individualisierung zu Abspaltungen führen könnte. Ich glaube, da sind wir jedoch heute noch weit davon entfernt. Es ist wohl vielmehr Hoffnung als Realität, dass daraus eine Öffnung entstehen könnte. Hinter einer persönlichen Individualisierung oder dem Drang nach Freiheit steckt selbstverständlich in den wenigsten Fällen gleich ein Sezessionsgedanke. Dass nun aber insbesondere die neue Mittelschicht Chinas mehr Freiheiten einfordert, heisst ja eben auch, dass sie sich selber als wichtig betrachtet und findet, dass ihr etwas zusteht in diesem Land. Verstärkend wirkt dabei, dass viele als Einzelkinder aufgewachsen sind und ihr Leben lang im Zentrum ihrer eigenen Familie standen. Das bewirkt etwas. Vielleicht sind sie auch zu sehr im Zentrum gestanden – und vielleicht übertragen sie das auch auf die Gesellschaft. Ich habe das auch bei den Dreharbeiten meiner DOK-Filme immer wieder bemerkt. Gerade die Mittelschicht sucht zunehmend nach alternativen Lebensformen, sei es in der Kunst, in der Musik, der eigenen Entfaltung bis hin zum Drang nach mehr persönlichen Rechten, wie sie zum Beispiel die kleine, aber wachsende LGBT-Bewegung Chinas immer lauter einfordert. Diese Individualisierungsschritte gehen weg vom kommunistischen Gedanken, den die Regierung nach wie vor mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten versucht.“
AP: „Das kommt im Buch schon raus, aber darauf hatte ich nicht anspielen wollen: Man weiss ja auch, Kunst hat Verbreitungspotential, das wird schnell zum mächtigen Instrument, sie vereint Leute. Kunst ist ja auch Kommunikation, und man kommuniziert immer zusammen mit anderen Personen. Damit wird die Kunst kontrollierbar – aus Sicht von China bzw. der Regierung.“
NF: „In der Kunst oder der Musik ist für mich der Fall klar. Da findet eine Botschaft bewussteren Ausdruck und kann schnell Leute mobilisieren. Ebenso interessant finde ich aber, dass eine Solidarisierung über die sexuelle Orientierung oder das Geschlecht von der Regierung auch schon als Gefahrenpotential gewertet wird. In meinem Buch werfe ich einen Blick auf die LGBT- und die Frauenbewegung. Interessant fand ich, dass diese Bewegungen beide über ganz persönliche individuelle Bedürfnisse entstehen, über die man sich dann eben solidarisiert. Dass man sich damit aber gleichzeitig dem Gedanken der Partei widersetzt, ist vielen zunächst gar nicht bewusst und wird oft nur schrittweise klar: «Ich bin nun Teil einer Gruppe und identifiziere mich mit ihr.» Damit beginnt aber auch eine Abgrenzung vom System vor der sich die Regierung fürchtet. Wenn solche Gruppen zu Bewegungen führen, sieht die Partei darin schnell einmal ein Gefährdungspotential, wohl nicht zu Unrecht. Denn je nach Bewegung könnte sich plötzlich fast die Hälfte der Bevölkerung solidarisch zeigen.“
AP: „Demnach ist die Suche nach diesen Bewegungen mit Organisationsattributen, die ist noch nicht abgeschlossen – da gibt es noch viel Energie, also das zu finden, was man gemeinsam hat, und das zu nutzen?“
PN: „Absolut. Aus politischer Perspektive hat die Partei ja genau davor Angst: Jedes Attribut, das zu Gruppenbildung führt, bzw. alles was das Potential besitzt, macht ihr Angst. Man darf nicht vergessen, es gibt «nur» 100 Mio. Mitglieder der Partei aber 1.4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen. Der Großteil gehört nicht der Partei an. Trotzdem schafft es die Kommunistische Partei, durch die 100 Mio. Mitglieder das ganze Land zusammenzuhalten.“
Pascal Nufer hat mehrere Jahre als Auslandskorrespondent für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in China gelebt und gearbeitet. Nach seiner Rückkehr hat er einige seiner Erlebnisse in dem Buch „Faszination China – Mythen, Macht und Menschen” veröffentlicht. Er ist weiterhin für das SRF tätig, und hat sich bereit erklärt, einige seiner Erfahrungen während seiner Chinazeit mit uns zu teilen und in einem Interview für United Europe einzuordnen.