Vor dem Hintergrund des 70. Jahrestags der Schuman-Erklärung veröffentlichen wir eine Reihe über die Zukunft der EU. Unsere Young Professionals Advisors reflektieren den gegenwärtigen Zustand der EU und schlagen Wege zur Überwindung der Krise vor. Heute erscheint der letzte Artikel der Serie:
SICHERHEIT
Die Welt, wie wir sie kennen, ist in eine unbeständige und instabile neue Phase eingetreten. Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass die Gefahr von COVID-19 unser Zusammenleben nachhaltig beeinflussen wird. Die Weltwirtschaft steuert auf eine Krise zu, die mit der Großen Depression verglichen werden kann. Diese Krise wird nicht nur zu steigender Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Herausforderungen führen, sondern auch das politische Klima beeinflussen, das wachsende Unruhen und Konflikte hervorruft.
Die geopolitische Rivalität zwischen den USA und China nimmt zu, da sie sich in Zeiten globaler Instabilität wirtschaftlich immer egozentrischer und einseitiger verhalten. Auch Europa ist von dem Virus schwer getroffen; der Konflikt zwischen den Nord- und Südländern der Eurozone verschärft sich. Zusätzlich grenzt Europa an eine „Zone der Instabilität“, die sich von den östlichen Grenzen der EU bis hinunter zum Mittelmeerraum erstreckt.
Europa befindet sich in einer neuen Form des Krieges – ein Informationskrieg, der eine neue Verteidigungsstrategie erfordert
Die Pandemie macht deutlich, wie intensiv der Informationskrieg geworden ist und wirft dabei ein Licht auf negative Narrative, die auf nie beispiellose Weise ein großes Publikum erreichen.
Die Fähigkeit, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, wurde über viele Jahre hinweg kultiviert und ist ein integraler Bestandteil einer neuen Strategie für „hybride“ oder „nicht-lineare“ Kriegsführung durch Regierungen oder Gruppen, die darauf abzielen, westliche Demokratien zu destabilisieren. Diese Strategie bedient sich einer oder mehrerer der folgenden – militärischen, kriminellen, nachrichtendienstlichen, geschäftlichen, diplomatischen, medialen, Cyber- und politischen – Techniken, um unser politisches System zu untergraben. Die EU hat mit ihrer allerersten Kampagne für Öffentlichkeitsarbeit und Analyse von Narrativen zur Desinformation auf der EU-Ebene reagiert: Der jüngste Bericht des StratCom-Teams des Auswärtigen Dienstes zielt darauf ab, die Gesellschaft über diese Angriffe auf Wahrheit und Informationen aufzuklären und zu informieren.
Doch liberale Werte und Demokratie werden nicht nur von außerhalb der EU angegriffen. Sie werden auch von Aktivitäten innerhalb der EU untergraben. Laut Statista begegnen mehr als zwei Drittel der europäischen Bevölkerung mindestens einmal pro Woche sogenannten Fake-News. Die Veröffentlichung und Verbreitung gefälschter Nachrichten ist einfacher geworden, und soziale Medien nehmen dabei eine große Rolle ein. Die New York Times, Aljazeera Englisch und Arte haben ausführlich über Troll-Fabriken berichtet, die soziale Medien zur Verbreitung von Fehlinformationen und Propaganda nutzen.
Als Antwort auf die Herausforderung plädieren wir für eine durchdachte Politik. Dazu gehört ein institutioneller Rahmen, der die notwendigen Ressourcen für die Erkennung und Beseitigung von Fake-News und Falschinformation über mehrere „Verteidigungslinien“ hinweg entwickelt und bereitstellt: In Offline- und Online-Medien und Kampagnen zur Aufklärung und zur Wiedergewinnung des Vertrauens der Öffentlichkeit. Wenn es der EU auf Dauer nicht gelingt, ihre Bürger zu erreichen, werden andere Akteure die Informationslücke mit ihren Narrativen füllen und auf diese Weise unser politisches Wertesystem untergraben.
Ausrichtung der militärischen Fähigkeiten auf zivile Hilfe und Gesundheitssicherheit
Die Art und Weise, in der sich die EU auf eine Pandemie vorbereitet, muss grundlegend verbessert werden. Eine neue Form von Sicherheitsrisiken ist aufgetreten. Der Mangel an Notfallplänen auf staatlicher Ebene ist in allen Mitgliedsländern deutlich geworden und muss vorrangig mit neuen Strategieplänen für erfolgreiche Reaktionen behoben werden. Die EU hat die Aufgabe ein belastbares ziviles Aktionsprogramm zu entwerfen, das auch die Fähigkeiten und Ressourcen einer militärischen Truppe miteinschließt. Dies gewährleistet eine bessere Koordination und würde auch bei der Zuteilung von medizinischer Ausrüstung, Persönlicher Schutzausrüstung (PSA) oder Patienten an alle EU-Mitgliedsstaaten helfen. So wurden beispielsweise italienische und französische Intensivpatienten von Flugzeugen und Hubschraubern der deutschen Luftwaffe in Krankenhäuser transportiert. Dieses Beispiel zeigt, wie erfolgreiche Koordination der Ressourcen zwischen den europäischen Staaten allen Beteiligten hilft und zu größerer Solidarität führt.
Eine gut ausgebaute Infrastruktur für bürgerschaftliches Engagement, zum Beispiel das Movement Coordination Centre Europe, ist wichtig und muss ausgebaut werden. Der Europäische Verteidigungsfonds und seine verbesserte militärische Koordination mit den Mitgliedsstaaten ist dabei ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die EU hat jedoch weitere Aufgaben: Die Vertiefung ihrer Koordination und die Einführung neuer politischer Maßnahmen, beispielsweise ein ständiges militärisches Hauptquartier, könnten einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer tieferen europäischen Gemeinschaft leisten, die sicherer und widerstandsfähiger ist, insbesondere in Zeiten von Umwelt-, Gesundheits-, Sicherheits- oder Wirtschaftskrisen.
Eine Frage der Gesundheitssicherheit
Wir haben gesehen, wie die Behörden in Europa darum kämpften, eine einheitliche europäische Antwort auf COVID-19 zu finden. Ein biologischer Angriff könnte Chaos in unvorstellbaren Ausmaßen verursachen. Die Gesundheitskrise im Zusammenhang mit COVID-19 hat gezeigt, wie schwer Viren zu erkennen sind, wenn eine solche Schwäche in Zukunft in eine Sicherheitslücke umgewandelt werden würde. Während Satelliten militärische Einrichtungen aufspüren und Geheimdienste die chemischen Fähigkeiten staatlicher und nichtstaatlicher Akteure überwachen, ist die Biologie allgegenwärtig. Daher muss eine Erweiterung der biologischen und medizinischen Intelligenz in Betracht gezogen werden, um Manipulation oder die militärische Nutzung eines Virus – seine Ursachen, die Behandlung und notwendige Reaktionen – zu erkennen.
Cybersicherheit und autonome Waffen
Die Diskussion um Technologie und Cybersicherheit ist eng mit der Diskussion über die Souveränität der Nationalstaaten verbunden. Präsident Macron machte auf der Münchner Sicherheitskonferenz im vergangenen Jahr deutlich, dass Technologie nicht mehr als politisch neutral angesehen werden könne. Er sagte: „Wenn wir nicht in allen Bereichen – digitale, künstliche Intelligenz – unsere eigenen Champions aufbauen, werden unsere Entscheidungen von anderen diktiert werden.“
Die vor uns liegende Ära der autonomen Waffen birgt neuartige Risiken für die Cybersicherheit. Paul Scharre, CNAS-Senior Fellow und Autor des Buches „Army of None”, weist auf Bedrohungen wie Hacking, feindliche Verhaltensmanipulation, unerwartete Interaktionen mit der Umgebung oder einfache Fehlfunktionen oder Softwarefehler als Gründe dafür hin, warum sich eine große Anzahl autonomer Waffen gegen befreundete Streitkräfte wenden können. Mehr als 30 Nationen verfügen bereits über autonome Waffen für Situationen, in denen die Geschwindigkeit des Einsatzes zu hoch ist, als dass die Menschen darauf reagieren könnten. Europa hat bei den Regulierungsbemühungen eine führende Rolle übernommen: Versuche, tödliche autonome Waffensysteme (LAWs), die oft als „Killerroboter” bezeichnet werden, zu regulieren, endeten in einer Sackgasse, weil damit verbundene UN-Verhandlungen im November 2019 wenig Ergebnisse brachten. Angesichts der neuen Gesundheitskrise liegt die Aufmerksamkeit vorerst auf der Lösung anderer, dringenderer Probleme. Aber gerade in Zeiten einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft stellen Cyber-Sicherheits- und Resilienzstrategien ein wichtiges Machtinstrument dar, um die digitale Infrastruktur zu sichern. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hat die WHO einen dramatischen Anstieg von Cyber-Angriffen auf ihre Mitarbeiter sowie Betrugsversuchen per E-Mail erlebt, die sich gegen die breite Öffentlichkeit richten.
EU-Nachbarschaft in Trümmern
Die Aussichten für die EU-Außenpolitik sind nicht allzu rosig: Die EU muss ihr Programm für die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) dringend neu starten, um benachbarte Länder zu stabilisieren. Insbesondere in Afrika und im Mittelmeerraum ist ein größeres Engagement notwendig. Angesichts der vom Krieg heimgesuchten Volkswirtschaften und der schwachen Fähigkeit, Ausbrüche von Krankheiten zu kontrollieren, sind dies kritische Bereiche für die Sicherheit und Stabilität in Europa. Im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik muss die EU weitere friedensfördernde Anstrengungen unternehmen, um Stabilität sowie bürgerlichen und wirtschaftlichen Wohlstand in diesen Regionen zu gewährleisten. Die jüngste Politik einer gewissen Gleichgültigkeit hat einen gefährlichen Status quo geschaffen, der proaktiv angegangen werden muss.
Die EU war in den letzten Jahren kontinuierlich in einem reaktiven Modus und hat sich dabei allmählich an die Finanzkrise, die Migrationskrise, den Brexit und jetzt die Corona-Krise angepasst. Obwohl alle extern begonnen haben (den Brexit ausgenommen), ist es für die Staats- und Regierungschefs der EU schwierig geworden, eine proaktivere und strategische Rolle einzunehmen. In den letzten zehn Jahren hat sich die EU-Sicherheitspolitik zu sehr auf den Schutz durch den amerikanisches Partner verlassen. COVID-19 hat gezeigt, dass die EU die bisherigen Bemühungen zur Schaffung eines einheitlichen Arbeitsmechanismus überprüfen und hinterfragen muss. Neue wirtschaftliche Herausforderungen und disruptive Technologien sollten die Sicherheitsverpflichtungen und Pläne zur militärischen Anpassung nicht untergraben. Stattdessen sollte die EU ihre Schlüsselkompetenz einsetzen, um gemeinsam an der Schaffung einer Zukunft zu arbeiten, die sich als widerstandsfähig und stabil erweist und so weit wie möglich sinnvoll auf Technologien zurückgreift, die durch EU-Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre, zum Schutz des Einzelnen und zur koordinierten Datenerfassung geregelt und reguliert wird.
Autoren: Dyria Alloussi, Elif Dilmen, Dinand Drankier, Jens-Daniel Florian, Albert Guasch, Robert Grecu, Armando Guçe, Andranik Hovhannisyan, Mihkel Kaevats, Felix Klein, Raphael Kohler, Justinas Lingevicius, Karl Luis Neumann, Anna Penninger, Raiko Puustusma, Silja Raunio, Mihály Szabó, Eshgin Tanriverdi, Kalina Trendafilova.
Über die YPAs: Wir sind eine Gruppe von 36 United Europe Alumni aus 20 Ländern. Wir verstehen uns als eine Task Force für United Europe e.V., das junge Führungskräfte aus verschiedenen Regionen Europas fördert. Wir vertreten unterschiedliche, junge europäische Stimmen zu den drängendsten Fragen der EU. Unser Ziel ist es, das Vertrauen der Jugend und der Bürger Europas in das europäische Projekt wiederherzustellen. Wir sind ein Netzwerk, das den beruflichen Austausch zwischen jungen Europäern fördert und Impulse für eine europäischere Denkweise gibt. Wir fördern die Pluralität und wollen neue Ideen für eine intelligente Analyse der EU-Politik entwickeln.