Hier finden Sie die Aufzeichnung unseres zweiten United Europe-Websalons „Vereint oder geteilt – Europas historischer Test für Relevanz und Solidarität“, der am Montag, 18. Mai, stattfand.
Auf dem Podium:
Sabine Lautenschläger, ehemaliges Mitglied des Direktoriums der EZB, ehemalige stellvertretende Vorsitzende des einheitlichen Aufsichtsmechanismus der EZB
Enrico Letta, ehemaliger italienischer Premierminister, Dekan der Pariser Schule für Internationale Angelegenheiten (PSIA) an der Sciences Po
Gordan Grlić Radman, Außenminister der Republik Kroatien
Alexander Stubb, ehemaliger finnischer Premierminister, Direktor der School for Transnational Governance (STG) am European University Institute (EUI) in Florenz
Moderation: Ali Aslan, TV-Moderator und Journalist
Kernsätze:
Sabine Lautenschläger
Die deutsche Bevölkerung ist mit der Reaktion der Regierung im Allgemeinen recht zufrieden. Rund 66 Prozent der deutschen Bevölkerung befürwortet den Umgang der Regierung mit der Krise.
Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hindert die EZB nicht daran, ihr Mandat der Preisstabilität und ihr Vorgehen bezüglich der Folgen des Corona-Virus zu berücksichtigen.
Das Gericht entschied, dass die EZB sich in Bezug auf das Programm der quantitativen Lockerung hätte deutlicher erklären müssen. Wie werden nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip die unterschiedlichen Interessen zwischen der geldpolitischen Aufgabe und den direkten oder indirekten Konsequenzen für die Steuer- und Wirtschaftspolitik eingeschätzt, die nicht im Mandat der EZB liegen. Der EZB wurde vom deutschen Bundesverfassungsgericht nicht verboten etwas zu tun, sondern sie wurde aufgefordert zu erläutern, ob in der Diskussion über die Gesamtbewertung und die Vorbereitung der quantitativen Lockerung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgegangen wurde.
Es besteht sowohl für die EZB als auch für die Bundesbank die Möglichkeit, näher zu erläutern, ob die vom Eurosystem ergriffenen Maßnahmen geeignet sind, das Mandat der Preisstabilität zu erfüllen, ob es sich um die mildesten Maßnahmen handelt und ob sie unter Abwägung der unterschiedlichen Interessen in einem gewissen Sinne verhältnismäßig sind.
Wenn man sich auf eine geldpolitische Entscheidung vorbereitet, dann sollte man alle wirtschaftlichen Faktoren berücksichtigen, die auf das Mandat der Preisstabilität Einfluss haben.
Das Gerichtsurteil hat drei Konsequenzen:
1. Wie sehr sich die EZB oder die Bundesbank mit diesem Verhältnismäßigkeitsprinzip auseinanderzusetzen hat und wie man es besser erklären kann.
2. Es besteht eine gewisse Anspannung zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof, die durch politische Regelungen gelöst werden müssen.
3. Wenn man die nationalen Regierungen auffordert, Druck auf die EZB, das Eurosystem oder die nationalen Zentralbanken auszuüben, um bestimmte Diskussionen, Erklärungen usw. nach einem bestimmten Prinzip durchzuführen, muss man sich fragen, wie dies mit der Unabhängigkeit einer Zentralbank vereinbar ist.
Wir können aus der Geschichte erkennen, dass jede Krise mehr oder weniger Fortschritte im europäischen Integrationsprozess gebracht hat. Wenn Sie sich die Krisen 2008, 2009 und die folgende Entstehung der Bankenunion beispielsweise anschauen. Jede Krise ist ein Test, aber sie bietet auch eine Chance.
Die Reaktion der EU war dieses Mal viel schneller als beim letzten Mal. Es kann sein, dass wir immer noch ein Kommunikationsproblem haben. Aber wenn man sich die Reaktion der verschiedenen EU-Institutionen sowie die Diskussion und Koordination ansieht, die von den verschiedenen nationalen Regierungen zusammen mit der EU-Kommission durchgeführt wurde, denke ich, dass wir bereits einen Schritt nach vorne gemacht haben. Aber wir müssen einige Vorschläge erarbeiten, um noch weiter voranzukommen, um den europäischen Integrationsprozess zu unterstützen.
Diese Krise ist eine globale Krise, wir sind alle betroffen. Wir können sie nicht auf nationaler Ebene lösen. Selbst auf europäischem Niveau ist die Krise nicht lösbar. Aber da wir wissen, dass wir keine vollständige Koordinierung auf globaler Ebene durchführen können, sollten wir zumindest auf europäischer Ebene zusammenarbeiten.
Die EZB als solche hat die Aufgabe die Preisstabilität zu garantieren. Sie kann keine Politik im Hinblick auf soziale, wirtschaftliche oder fiskalische Aspekte betreiben. Nichtsdestotrotz, und das hat das Gericht mehr oder weniger ausgedrückt, wurden die Maßnahmen aufgrund der Geldpolitik ergriffen und haben damit Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation im gesamten EU-Gebiet und für die Mitgliedstaaten. Aber es sind mehr oder weniger indirekte Folgen, wie zum Beispiel die Änderung der Preise, die aber alle ein Ziel haben: Preisstabilität zu erreichen. Die nationalen Regierungen müssen in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik ihren Beitrag leisten.
Ich empfehle einstimmig getroffene Maßnahmen, die schnell umgesetzt werden sollten, da wir uns einen einjährigen Kampf mit rechtlichen oder politischen Fragen nicht leisten können. Für mich ist es viel wichtiger, ein gemeinsames Verständnis der Regierungen der Mitgliedsstaaten zu haben, um einen Geldtopf zu füllen, damit europäische Projekte unterstützt werden können.
Manchmal mache ich mir Sorgen über die Erwartungen aller, dass jede Regierung, die EU-Kommission und alle europäischen Institutionen in der ersten Minute nach einer Krise, die es so noch nie gab, optimale Lösungen parat haben müssen. Aus meiner Sicht denke ich, dass wir auf einem guten Weg sind, auch wenn nicht alles nicht optimal lief. Aber wir werden diesen Test und diese Krise hoffentlich als Chance nutzen, um die europäische Integration voranzubringen.
Enrico Letta
Nach zweieinhalb Monaten des Lockdowns muss Italien Kosten von mehr als 100 Milliarden Euro tragen. Wir brauchen jetzt einen Neustart. Die Sommersaison mit den Touristen bleibt eines der großen Fragezeichen. Deshalb ist eine umfassende europäische Antwort sehr wichtig.
Diese Krise ist die dritte in Folge für Italien. Wir hatten die Finanzkrise und die Flüchtlingskrise, letztere war in Bezug auf den wachsenden Euroskepsis für Italien von großer Wichtigkeit. In diesen beiden Krisen wuchs das Gefühl, dass Europa sich entfernte, dass eher die Deutschen, Franzosen und die nördlichen Länder die Europäische Union anführten und die Italiener allein gelassen wurden. Ein Gefühl, dass von einem großen Teil der Opposition als wichtig aufgegriffen und unterstützt wurde.
Wir durchleben einen entscheidenden Moment für Europa, dem wir mit einem einheitlichem Narrativ begegnen müssen. Das Konjunkturprogramm muss den Bürgern Europas – den Unternehmern und den Arbeitslosen – beweisen, dass es Hilfe und Geld in Aussicht stellt. Sonst machen Sie das durch, was Italien in den letzten Monaten erlebte: Chinesische und russische Flugzeuge, vollgepackt mit Schutzmasken, die von einem Teil der Bevölkerung mit viel Pathos begrüßt wurden.
Gerade in diesem Moment brauchen wir in verschiedenen Bereichen mehr Europa, beim Klimawandel, bei Migrationsfragen, bei sozialen Fragen und vielem mehr. Ich bezweifle, dass Deutschland auf diesem Weg ist, ich beobachte bei Deutschland eine andere Herangehensweise.
Es gibt viele Bedenken zu der Finanzlage und zu den Schulden der südlichen Mitgliedsstaaten. Hier müssen wir mit allen Kräften gemeinsam vorgehen und gemeinsame Lösungen finden, denn nur gemeinsam sind wir stark.
Meine größte Befürchtung ist, dass die Folgen des Lockdowns und die Tatsache, dass Italien eine sehr hohe Verschuldung hat, viele Probleme auf den Märkten schaffen werden.
Die Geschichte der italienischen Verschuldung weist zwei Abgründe auf: einmal in den
1980er-Jahren, als die Verschuldung von 40% auf 120% stieg. Als wir der gemeinsamen Währung beitraten, betrug sie 125%, heute liegt die Verschuldung bei 135%. Während der Finanzkrise standen wir erneut vor einem Abgrund. Innerhalb von sechs Jahren sind die italienischen Schulden von 103 auf 130 gestiegen, was dem fehlenden Wachstum geschuldet war. Damit erlebten wir zwei dramatische Momente, die aber in der Krise und nicht in einem fehlerhaften Management der italienischen Schulden begründet waren. Jetzt stehen wir vor einer dritten äußeren Bedrohung, die die Schulden erneut in die Höhe treiben wird. Deshalb halte ich gemeinsame europäische Lösungen für positiv. Wir brauchen gemeinsame Lösungen, um die Krise zu bewältigen. Wir bitten nicht um Spenden, wir bitten um europäische Lösungen.
Tatsächlich wird Italien von der Europäischen Union unterstützt. Die EZB arbeitet auf fantastische Weise für Italien. Aber die Wahrnehmung ist nicht da. Wir brauchen jetzt eine richtige Antwort, sonst wird sich das unschöne Bild knauseriger nördlichen Mitgliedstaaten durchsetzen, was Europa vor große zukünftige Probleme stellen könnte.
Ich sehe den Italexit nicht als ein mögliches Szenario. Italien ist nicht das Vereinigte Königreich. Das Vereinigte Königreich blieb bei vielen europäischen Integrations-Strategien außen vor. Dafür ist Italien zu sehr integriert, als dass ich einen Italexit als Problem sehen könnte. Selbst populistische Politiker, die Europa mit der Idee erpressen, dass Italien zu groß ist, um zu scheitern, bereiten kein anderes Zukunftsszenario vor
Die Zunahme des Euroskeptizismus und die gesamte Stimmung in der Europäischen Union ist ein Problem. Es hängt in der nächsten Zeit von der Reaktion der Europäer ab, es hängt von der Art und Weise ab, wie wir eine Reaktion kommunizieren können. Aber ich bin sicher, dass die Dringlichkeit zunimmt. Zum Beispiel sage ich weiterhin überall, dass zum ersten Mal in der 70-jährigen Historie Europas, die europäische Integration ein konkretes Ergebnis vorweisen kann – und zwar das wichtige Sozialpaket. Das war in der Vergangenheit aufgrund des Vetos des Vereinigten Königreichs nicht der Fall. Aber mit dem Plan SURE und mit dem ESM haben wir zum ersten Mal eine soziale europäische Politik. Diese Krise ist ein Weg, um zu zeigen, dass es vorwärts geht und wir uns einen Schritt in die richtige Richtung bewegen.
Wir brauchen eine stärkere Europäische Union, eine ausgewogenere Europäische Union. Bis jetzt waren die europäischen Institutionen, die EZB, die Europäische Kommission und sogar das Europäische Parlament, das immer noch offen und gut funktioniert, sehr gut in ihren Leistungen. Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ist es hingegen nicht.
Die Konferenz über die Zukunft der Europäischen Union wird entscheidend sein, um eine engere Beziehung zwischen den Bürgern und den europäischen Institutionen zu erreichen.
Wir brauchen Flugzeuge unter der Flagge der Europäischen Union, die Schutzmasken und andere Güter transportieren. Damit können wir verdeutlichen, was die Europäische Union wirklich tut.
Es ist sehr wichtig, eine ehrliche Sprache zu verwenden. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben im Vergleich zu einigen Staats- und Regierungschefs der übrigen Welt besser auf die Krise reagiert. Die Vorbilder der Populisten, Trump und Bolsonaro, meistern in einer schrecklichen Art die Krise.
Es bleibt wichtig, auf der Konferenz über die Zukunft Europas Relevantes zu ändern. Andernfalls werden wir mit dem Europa des Europäischen Rates, dem Europa der Mitgliedsstaaten fortfahren. Ich wiederhole: Ein Premierminister hat seinen eigenen Wahlkreis, und er kann nicht der Führer Europas sein. Den Führungspolitikern der europäischen Institutionen muss Legitimität verliehen werden.
Wir haben aus allen Krisen, außer der Flüchtlingskrise, unsere Lehren gezogen. Wenn wir keine umfassende und ehrgeizige Migrationspolitik auf europäischer Ebene haben und alle Mitgliedstaaten weiterhin gegeneinander kämpfen, funktioniert das nicht.
Gordan Grlić Radman
Kroatien hat derzeit den Vorsitz im Rat der Europäischen Union und wir sind sehr stolz, seit unserem Beitritt vor sieben Jahren Teil der Familie zu sein.
Obwohl der Slogan der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft „Ein starkes Europa in einer Welt voller Herausforderungen” lautet, hat natürlich niemand damit gerechnet, eine derartige Pandemie bewältigen zu müssen. Trotzdem haben wir Entschlossenheit und Flexibilität gezeigt und es ist uns gelungen, die Arbeit im Europäischen Rat mit mehr als 30 Medienkonferenzen auf Ministerebene zu organisieren. Dabei haben stets unsere vier Prioritäten im Auge: ein Europa, das sich entwickelt, ein Europa, das verbindet, ein Europa, das schützt, und ein einflussreiches Europa, auch unter diesen besonderen Umständen. In einer Europäischen Union sollten wir nicht unilateral vorgehen. Wir sollten Solidarität zeigen.
Der Coronavirus war tatsächlich ein Beweis für Solidarität und Koordinierung, und bestätigte
erneut das Credo aus früheren Krisen: „Vereint stehen wir, geteilt fallen wir”.
Viele EU-Mitgliedstaaten haben außerordentliche Maßnahmen zur Bewältigung der Krise ergriffen. Die Europäische Union steht für europäische Werte. Wir haben eine unterschiedliche Geschichte und unterschiedliche Kulturen, aber gemeinsame europäische Werte sind der Eckpfeiler der EU.
Auch der Westbalkan ist Teil Europas, und wir sollten seine europäische Perspektive nicht vernachlässigen. Wir haben am 6. Mai einen virtuellen Gipfel in Zagreb mit führenden Vertretern der EU und des Westbalkans abgehalten. Wir verabschiedeten die Erklärung von Zagreb, die die europäische Zukunft des Westbalkans bekräftigte und festigte. Darüber hinaus half Kroatien Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Albanien durch die Spende von medizinischer Schutzausrüstung. Diese Solidarität hat bewiesen, dass europäische Werte etwas sind, nach denen wir streben sollten.
Am 9. Mai begingen wir den 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung, deren wichtigstes Wort wohl Solidarität war. Und jetzt, nach 70 Jahren, können wir bezeugen, dass Solidarität das wichtigste Wort in der Europäischen Union ist. Die Pandemie setzt unsere Gesellschaften ernsthaft unter Druck. Es ist auch immer deutlicher geworden, dass das Wohlergehen jedes EU-Mitgliedstaates und seiner Bürger vom Wohlergehen der gesamten Europäischen Union abhängt. Die Erholung der EU-Volkswirtschaften hängt stark vom Funktionieren des Binnenmarktes und der Freizügigkeit der Menschen ab. Die restriktiven Maßnahmen waren notwendig, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, aber sie sind mit hohen sozialen und wirtschaftlichen Kosten verbunden.
Die Erholung der EU-Volkswirtschaften hängt stark vom Funktionieren des Binnenmarktes und der Freizügigkeit der Menschen ab. Die restriktiven Maßnahmen waren notwendig, um die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und 10.000 Menschenleben zu retten. Dennoch sind sie mit hohen sozialen und wirtschaftlichen Kosten verbunden. Aber zum ersten Mal hat die Europäische Union eine europäische Sozialpolitik.
Aus kroatischer Sicht gibt es keine Alternative zur EU. Die kroatische Präsidentschaft wird weiter auf eine bessere Koordinierung der nationalen und EU-Maßnahmen zur Bewältigung der Folgen der Krise hinarbeiten und die Erholung unterstützen.
Alexander Stubb
Zwischen Finnland und Schweden gab es einen unterschiedlichen Ansatz, wie mit der Pandemie umgegangen werden sollte. Während wir uns für einen Semi-Lockdown entschieden haben, blieb Schweden komplett geöffnet. Wenn man sich die relativen Zahlen der Todesopfer ansieht, sind sie in Schweden etwa zehnmal so hoch. Aber es ist zu früh, um sich ein Urteil darüber zu bilden, wer das Richtige und wer das Falsche getan hat. Wir wissen es nicht.
Ich denke, was zu Beginn der Krise geschah, war ein gewaltiges Missverständnis. Und wenn dies ein Propagandakrieg war, würde ich sagen, dass die Chinesen und die Russen die Nase vorne hatten. Ein Flugzeug mit Masken aus Russland, ein Flugzeug mit Masken aus China, und plötzlich konnte man abends in Italien auf Balkonen die chinesische Nationalhymne hören.
Das große Problem ist die Kommunikation: Alles, was schlecht ist, kommt aus Brüssel, alles, was gut ist, fällt auf den Einzelnen zurück. Ein der europäischen Kommunikation innewohnendes Problem. Es gibt nicht einen europäischen Politiker, der in sein Land zurückkehrt und sagt: „Vielen Dank, Brüssel, für das, was Sie getan haben, vielen Dank für das, was wir gemeinsam getan haben.“ Die Politiker sagen: „Sehen Sie, was ich aus Brüssel mitgenommen habe.“ Wir befinden uns also in einer Zwickmühle. Und wir werden auf diese Art und Weise das Problem mit der Kommunikation nicht lösen.
Meiner Meinung nach war das Dilemma während der Finanzkrise, die 2008 begann, und wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad auch in der Asylkrise, deutlich ernster. Aber eines müssen wir bei dieser Art von Krisen immer im Auge behalten: Sie sind alle sehr unterschiedlich. Wir Menschen neigen dazu, die Vergangenheit zu rationalisieren, die Gegenwart zu überdramatisieren und die Zukunft zu unterschätzen. Und ich glaube, das ist es, was wir auch hier ein wenig tun.
Die Unterscheidung von nördlichen und südlichen Mitgliedsstaaten ist in dieser besonderen Krise zu vereinfachend. Jeder versteht, dass diese Pandemie symmetrisch ist. Sie trifft uns alle gleichermaßen. Italien hatte großes Pech, denn es wurde zuerst getroffen. Und das Gefühl der Solidarität, das ich für Italien in ganz Europa empfinde, ist sehr spürbar. Zudem die Pandemie unsere Volkswirtschaften asymmetrisch trifft. Und wenn das passiert, muss die Solidarität zum Tragen kommen. Und deshalb müssen wir im Moment jedes Mittel einsetzen, das uns zur Verfügung steht.
Ich würde mir keine allzu großen Sorgen über den Schuldenstand machen. Das einzige Problem, das wir haben, ist, dass wir die Schulden auf lange Sicht zurückzahlen müssen. Der Teufelskreis, in dem wir uns derzeit befinden, besteht darin, dass die Regierungen mehr Schulden machen müssen, da es keine Produktion, keinen Konsum und keine Steuereinnahmen gibt und immer noch viele öffentliche Ausgaben zu begleichen sind.
Ich stimme zu, dass wir gestärkt aus der Krise gehen werden hervorgehen werden, so wie wir nach dem Ende des Kalten Krieges, nach 9/11 und nach der Finanzkrise 2008 stärker geworden sind. Ich möchte jedoch einen Vorschlag machen, und zwar, dass wir aufhören sollten, die Europäische Union als eine Art Utopie zu betrachten, als eine ideale Gesellschaft, die immer mit perfekten Lösungen aufwartet. Meine einfache Behauptung ist, dass die EU immer drei Phasen durchläuft. Phase Nr. 1 ist die Krise. Phase Nr. 2 ist das Chaos, da sind wir jetzt. Und Phase Nr. 3 ist eine suboptimale Lösung. Es wird nie eine perfekte Lösung geben. Sie wird immer suboptimal sein. Und damit werden wir anfangen müssen, zu leben.
Unterschätzen Sie niemals die Belastbarkeit der europäischen Sozialsysteme. Ich bin gerade dabei, ein Buch über digitale Demokratien und digitale Diktaturen zu schreiben. Und ich vergleiche drei Großmächte in der Welt, China, die Vereinigten Staaten und Europa. Und mein grundliegendes Argument drückt es in einfachen Worten aus: Es dreht sich alles um Wohlfahrt. Wenn Sie aus einer Krise wie dieser herauskommen und Sie keinen starken Sozialstaat haben oder nicht in der Lage sind, diejenigen zu unterstützen, die auf der Strecke geblieben sind, dann, so glaube ich, werden Sie in großen Schwierigkeiten stecken. Deshalb würde ich behaupten, dass Europa tatsächlich stärker als China und sicherlich stärker als die Vereinigten Staaten aus dieser Krise hervorgehen wird.
Die größte Sorge, die ich als pro-amerikanischer Transatlantiker habe, ist, dass die amerikanischen Institutionen nicht in der Lage sind, mit dieser Krise fertig zu werden. Wenn die Arbeitslosenquoten von vier Prozent auf 16 Prozent steigen, und das sind in der realen Welt 25 Prozent, braucht man eine ziemlich agile Wirtschaft, um ein Comeback zu erreichen. Wenn Sie kein öffentliches Gesundheitssystem haben, müssen Sie jemanden finden, der die Rechnung bezahlt. Die größte Sorge, die ich habe, ist also nicht Europa. Die größte Sorge, die ich habe, sind die Vereinigten Staaten.
Die Europäische Investitionsbank hat in mehr als 60 Jahren ein Kapital von rund 14 Milliarden Euro eingezahlt. Sie hat dieses Kapital mit bis zu 250 Milliarden Euro beliehen und ein Vermögen von 500 bis 600 Milliarden Euro genutzt. Diese Schulden wurden über die Rentenmärkte mit 500 Milliarden Euro finanziert. Wenn Sie ein Beispiel für das Wechselspiel von Verschuldung und Haftungsrisiko auf Gegenseitigkeit suchen, finden Sie es hier. Das ist es, worum es bei der Europäischen Investitionsbank geht. Die europäische Geldgeschichte ist voll mit Beispielen von Schulden auf Gegenseitigkeit. Aber das Problem liegt in der Formulierung, die für Euro- und oder Corona-Anleihen verwendet werden. Hier liegen die Missverständnisse. Für mich macht es einfach keinen Sinn, diese Debatte überhaupt zu führen.
Lassen Sie das Geld aus dem EU-Haushalt den europäischen Bürgern zukommen. Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu tun: Durch Darlehen und zum anderen durch Zuschüsse. So werden wir zu einer guten Balance zwischen den beiden finden.
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