Im Vorfeld unseres nächsten Young Professionals Seminars in Zagreb am 12. und 13. März veröffentlichen wir einige Artikel über die EU und den Westbalkan. Der folgende Text ist von Karl Luis Neumann, Berater für EY Forensic and Integrity Services, spezialisiert auf den Regierungs und öffentlichen Sektor. Er ist Mitglied von United Europe und einer unserer Young Professionals Advisors.
Die EU-Integration der sechs Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien dauert seit nunmehr 20 Jahren an. Keiner dieser Staaten hat es bisher geschafft, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Warum tut sich dieser Teil Europas so schwer, die Hürden zum EU-Beitritt zu nehmen?
Die EU-Ratspräsidentschaft Kroatiens bietet Gelegenheit, den Integrationsfortschritt der Region genauer zu beleuchten. Der EU-Beitritt der Westbalkanstaaten stand bisher nicht sonderlich im Fokus der europäischen Aufmerksamkeit. Es gibt jedoch gute Gründe, das zu ändern.
Die turbulente Geschichte des Westbalkans ist verworren und kompliziert. Sie ist bei weitem nicht die einzige Erklärung für den schleppenden Beitrittsprozess. Ein Blick in die Vergangenheit ist jedoch elementar, um die Ausgangssituation für den EU-Beitritt zu verstehen.
Die Jugoslawienkriege und deren Nachwirkungen in den 1990er und frühen 2000er Jahren haben die Region nicht nur wirtschaftlich schwer beschädigt, sie forderten auch einen großen Teil der politischen Aufmerksamkeit. Der Fall des Eisernen Vorhangs auf dem Westbalkan löste nicht wie in anderen osteuropäischen Staaten eine Phase der Öffnung und Demokratisierung aus, sondern markierte den Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien. Die Staaten, die wir heute unter dem Begriff Westbalkan verstehen, mussten erst noch entstehen, während anderswo in Osteuropa bereits die Kopenhagener Kriterien studiert wurden.
Die Kriege, die den jugoslawischen Zerfall begleiteten, schnitten Wunden entlang Landesgrenzen und ethnischer Linien, die bis heute nicht vollständig verheilt sind. Zeugen sind der praktisch unregierbare Entitätenstaat Bosnien und Herzegowina, die noch immer nicht normalisierten Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien oder auch der erst jüngst beigelegte Namensstreit zwischen Nordmazedonien und Griechenland. In Kombination mit einer durch Krieg geschwächten Wirtschaft bot dies eine denkbar schlechte Ausgangslage für einen raschen Beitritt zur EU.
Der Jugoslawienkonflikt stellte die EU vor eine Herausforderung, auf die sich die Gemeinschaft schwertat, eine Antwort zu finden, wenn sie nicht sogar mit der Situation überfordert war. Erst das militärische Engagement der NATO vermochte es, den Kampfhandlungen und Kriegsverbrechen Einhalt zu gebieten, wohingegen die durch Sanktionen geprägte Interventionspolitik der EU wenig Wirkung entfaltete. Vor dem Hintergrund der eindrucksvollen Ohnmachtsdemonstration, besaß die Eröffnung einer europäischen Beitrittsperspektive auf dem Zagreber Gipfel im Jahr 2000 neben der nachhaltigen Friedenssicherung in der Region auch eine aufarbeitende Funktion, um den Einfluss der EU in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft geltend zu machen. Das Entsetzen über die in den Kriegen begangenen Verbrechen unterstreicht noch heute die Verantwortung der EU für die Stabilität in ihrer Nachbarschaft.
Die Gewährung des potentiellen Kandidatenstatus für alle Länder der Region im Jahr 2003 war eine wesentliche Triebfeder für wirtschaftliche, politische und institutionelle Reformen in den folgenden Jahren. Die Beitrittswelle im Jahr 2004 und der Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007 belebte den Reformfortschritt, zeigte sich die EU zu dieser Zeit durchaus erweiterungsfreudig. Bis zur Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 war die Region geprägt durch ein rasantes Wirtschaftswachstum, beflügelt durch marktwirtschaftliche Öffnung und politische Reformen, aber auch durch Aufbau der durch den Krieg geschädigten Länder.
Die Auswirkungen der Finanzkrise schließlich beendeten den Wachstumseifer und warfen einen langen Schatten auf die bisher optimistischen Aussichten für den Westbalkan. Neben den unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen in der Region sorgte die Krise dafür, dass die EU sich zunehmend mit sich selbst beschäftigte. Die sich anschließende Eurokrise forderte den Rest der europäischen Aufmerksamkeit, die nun fast vollständig auf das Innere der EU gerichtet war. Gleichzeitig verstärkte sich der Eindruck, dass der EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens vor seiner Zeit erfolgte. Das Zusammenspiel dieser Faktoren führte zur einer Erweiterungsmüdigkeit, die den Beitritt der Westbalkanstaaten zunächst in weite Ferne rücken ließ.
Seit 2014 erholt sich die EU langsam von ihrer Erweiterungsmüdigkeit. Der Austausch zwischen den Westbalkanstaaten und der EU intensivierte sich, woraufhin der damalige Kommissionschef Jean-Claude Juncker im Jahr 2018 den Staaten Montenegro und Serbien eine Beitrittsperspektive bis 2025 bot. Zum ersten Mal besteht nun ein zeitlicher Rahmen für den EU-Beitritt.
Unabhängig davon, ob ein Beitritt bis 2025 realistisch ist, ist die EU gut beraten, an einer Erweiterung im Südosten festzuhalten. Einerseits sendet der Blick auf eine Vergrößerung der Union ein wichtiges Signal in Zeiten des Brexits und spürbaren antieuropäischen Bewegungen in nicht wenigen Mitgliedsstaaten. Andererseits liegt die Integration der Westbalkanstaaten im ureigenen Interesse der EU. Neben der geografischen Lage inmitten von EU-Mitgliedern ist die Region seit langem ökonomisch und kulturell mit Europa verbunden. Diese Nähe zur EU sollte auch politisch spürbarer werden, da der schwindende Einfluss Europas sonst unmittelbar zum Einfallstor für undemokratische Akteure wird. China und Russland suchen schon seit einiger Zeit nach Mitspracherecht in der Region.
China konnte sich in den letzten Jahren durch Investitionen in strategische Infrastruktur einigen Einfluss erkaufen. Diese Investitionen, die für die Staaten selbst ohne fremde Hilfe unerschwinglich wären, werden durch großzügige Kredite aus Fernost ermöglicht. Langfristig hängt die Region somit am Tropf Chinas, was naturgemäß auch politische Abhängigkeiten schafft. Auf drastische Weise wird dies im 600.000-Einwohner-Staat Montenegro deutlich, der sich für den Bau einer Autobahn massiv bei chinesischen Geldgebern verschuldete. Der Kredit trieb die Staatsschulden von knapp über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf fast 80 Prozent. Angesichts der zweifelhaften ökonomischen Tragfähigkeit des Projekts bleibt es mehr als fraglich, ob Montenegro diese Schuldenlast fristgerecht, wenn überhaupt, zurückzahlen kann.
Auf der anderen Seite buhlt Russland offensiv um Einfluss auf dem Westbalkan. Das Land hat dabei eine kostengünstige Strategie entwickelt, um die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen. Serbien dient dabei als Blaupause für die gesamte Region. Das Betreiben von Think Tanks, Nachrichtensendern und öffentlichkeitswirksame Zuneigungsbekundungen wie das Geschenk von sowjetischen Kampfjets hat dazu geführt, dass Russland als vertrauenswürdiger Partner und nicht zuletzt als Alternative zur EU wahrgenommen wird. Diese Strategie hat sorgt dafür, dass die Präsenz Russlands weit über sein tatsächliches Engagement als Handelspartner und Entwicklungshelfer hinausgeht.
Russland als auch China sind jedoch nicht sonderlich an der langfristigen Entwicklung der Region interessiert. Es ist nicht besonders wahrscheinlich, dass zwei autokratisch regierte, überaus korrupte Staaten ein ernsthaftes Interesse an der demokratischen Entwicklung der Westbalkanstaaten haben. Somit ist ihr Engagement nicht an unbequeme Reformen gebunden, so wie es die Gelder der EU typischerweise sind. Die dadurch genährte Illusion, dass es auch ohne Reformen geht, ist für die EU als auch für die betreffenden Länder durchaus gefährlich. Zum einen erodiert dadurch der Rückhalt der EU in der Öffentlichkeit, zum anderen wächst der Einfluss solcher Akteure, denen es nicht um die Transformation in offene und prosperierende Demokratien, sondern um schieren geopolitischen Einfluss geht. Nicht auszudenken wäre der EU-Beitritt von Staaten, die durch wachsende Abhängigkeiten zum Trojanischen Pferd Russlands und Chinas geworden sind.
Die EU-Ratspräsidentschaft Kroatiens, dem einzigen Land der Region, dem bisher ein Beitritt in die EU gelungen ist, ist somit eine dringend gebotene Gelegenheit, den Fokus der EU auf den südöstlichen Teil des Kontinents zu lenken. In den Jahren der Erweiterungsmüdigkeit hat sich ein Vakuum aufgetan, das schnell durch Kontrahenten der EU gefüllt wurde. Es ist an der Zeit, wieder an Boden zu gewinnen.
Dabei ist die Vertiefung der Kooperation durch Öffnung und Engagement auf beiden Seiten unabdingbar. Noch immer sieht ein Großteil der Gesellschaften auf dem Westbalkan die Zukunft ihrer Länder in der EU. Diese Geduld gilt es nicht überzustrapazieren. Die EU muss glaubwürdige Angebote machen, die einen bezwingbaren Weg hin zu einer Mitgliedschaft öffnen. Das Veto des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien im Herbst 2019 war einem solchen Weg nicht zuträglich. Vielmehr sollte das Mantra „Fördern und Fordern“, verbunden mit der Belohnung von Fortschritten, zur Maxime der EU werden. Das Bekenntnis zur europäischen Zukunft der Region in Sonntagsreden ist wenig wert, wenn die entsprechende Politik am Ende ausbleibt.
Darüber hinaus genügt es nicht, im Verborgenen die Entwicklung der jungen Demokratien zu unterstützen. Der EU gelingt es nicht, ihre Bedeutung als Handels- und Entwicklungspartner in Form von öffentlicher Wahrnehmung auf die Straße zu bringen. Russland hingegen schafft es, seine Investitionen zu einem deutlich günstigeren Kurs in öffentlichen Zuspruch umzusetzen. Dies ist keineswegs ein Aufruf zu europäischer Propaganda à la Sputnik oder Russia Today, sondern vielmehr dazu anzuerkennen, dass die mehrheitliche Befürwortung eines europäischen Weges mitnichten gottgegeben ist. Der Schluss daraus muss die Erhöhung der Sichtbarkeit des europäischen Engagements sein.
In diesem Jahr, 20 Jahre nach der ersten Annäherung von EU und dem Westbalkan, ist die Integration der sechs Westbalkanstaaten mehr geboten denn je. Kroatien als Inhaber der Ratspräsidentschaft kommt hier eine entscheidende Rolle zu. Zum einen schaffte das Land vor nunmehr sieben Jahren den EU-Beitritt und kennt dadurch die damit verbundenen Hürden und Herausforderungen, aber auch die Vorteile einer Mitgliedschaft. Zum anderen bietet die Ratspräsidentschaft die notwendige Plattform, um die Aufmerksamkeit auf den EU-Beitritt jener Region zu lenken. Auf dem Westbalkan konzentrieren sich weitaus mehr Herausforderungen der EU als mithin wahrgenommen. Der weitere Verlauf des Beitrittsprozesses ist entscheidend für die Stabilität in der Nachbarschaft, die Positionierung gegenüber globalen Akteuren und nicht zuletzt das Selbstverständnis der EU.