Dr. Albrecht Conze, deutscher Botschafter in Uganda, fordert die europäischen Regierungen auf, nicht länger zu zögern, das Mandat der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) auf Subsahara-Afrika auszuweiten. „Es ist an der Zeit, die Sahara zu durchqueren und die große Erfahrung und Kapazität der EBWE zur Förderung der Weiterentwicklung ganz Afrikas zu nutzen“, schreibt er in seinem Vorschlag, den er erstmals am 6. Mai in Berlin beim CEO-Roundtable “Afrika und Europa im 21. Jahrhundert” von United Europe vorstellte (die Zusammenfassung finden Sie hier). „Unsere höchst erfolgreiche Entwicklungsbank sollte zu einer beide Kontinente stabilisierenden tragenden Säule werden“:
1. Das Problem
Seit geraumer Zeit schlagen die europäischen Botschaften in Afrika Alarm wegen der wachsenden Abhängigkeit des Kontinents von China. In Europas Hauptstädten muss also bekannt sein, dass schon in wenigen Jahren eine zweite Staatsschuldenkrise die erfolgreiche Entschuldung zunichte machen könnte, die den meisten afrikanischen Ländern nach der Jahrhundertwende zuteil wurde. Von der G8 initiiert und von Weltbank und IWF umgesetzt, hatte die „Heavily Indebted Poor Countries Initiative“ (HIPC) den meisten Ländern Afrikas die Chance zum Neustart gegeben. Es ist unwahrscheinlich, dass westliche Länder und Institutionen Afrika ein zweites Mal zu Hilfe kommen werden, denn der größte Teil der neuen Schulden des Kontinents ist China zuzurechnen.
Eine neue Staatsschuldenkrise könnte unsere europäischen Bemühungen gefährden, die Ursachen der illegalen Migration anzugehen. Wenn wir uns auf reaktive Notfallmaßnahmen beschränken, werden wir scheitern. Europa muss eine umfassende und ganzheitliche Politik gegenüber Afrika verfolgen, die auf geopolitischer Analyse beruht und mit wirksamen Instrumenten ausgestattet ist. Nur mit einer solchen Politik werden sich das empfindliche Gleichgewicht zwischen Europa und Afrika aufrechterhalten und die Risiken der Massenmigration begrenzen lassen. Sie sollte von Diplomaten und Ökonomen konzipiert werden und schnell zu einem Kernstück der europäischen Außenpolitik werden. Auf keinen Fall darf sie den Technikern der traditionellen Entwicklungspolitik überlassen werden.
Die europäischen Regierungen sollten jetzt nicht länger zögern, das Mandat der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) auf Afrika südlich der Sahara auszudehnen. Diese sehr erfolgreiche Institution hat seit 1991 viel Nützliches geleistet, zunächst für Ost- und Mitteleuropa, in jüngster Zeit auch für eine Reihe anderer Länder und Regionen, darunter den größten Teil Nordafrikas. Es ist an der Zeit, die Sahara zu durchqueren und die große Erfahrung und Kapazität der EBRD zu nutzen, um die weitere Entwicklung ganz Afrikas zu fördern. Unsere höchst erfolgreiche Entwicklungsbank sollte zu einer beide Kontinente stabilisierenden tragenden Säule werden.
2. Der Hintergrund und die Lösung
Europa und Afrika sind ein Doppelkontinent wie Nord- und Südamerika. Wir haben diese geopolitische Tatsache lange vernachlässigt, können dies aber nicht länger tun, da trotz aller Abschreckungsmaßnahmen viele unserer südlichen Nachbarn weiterhin an den Stränden von Lampedusa und Andalusien landen werden. Die Kontinente gehören zusammen, ob es uns gefällt oder nicht. Wir müssen das Beste daraus machen.
Das aktuelle offizielle Leitmotiv Europas im Umgang mit Afrika heißt „Bekämpfung der Ursachen der Migration“. Es ist richtig, aber unzureichend. Unsere langfristige Strategie muss über dieses begrenzte und vorwiegend reaktiv begründete Konzept hinausgehen. Trotz Europas großer Tradition staatspolitischen Denkens lässt sich Geostrategie heute am besten von China lernen. Es hat eine neue Seidenstraße ausgerufen, umgesetzt durch die globale „Belt and Road Initiative“.
Daran ist nichts Zwangsläufiges, im Gegenteil. Europa und Afrika liegen viel näher beieinander als China und Afrika. Die Stärkung der Verbindungen über das Mittelmeer hinweg ist eine geopolitische Notwendigkeit. Die Nutzung aller potenziellen Synergien wird zum geowirtschaftlichen Vorteil beider Kontinente beitragen. Wir sind seit Jahrhunderten durch eine gemeinsame Geschichte verbunden, mit Vorläufern seit Jahrtausenden. Die Europäer sind den Afrikanern kulturell näher als jeder andere Partner.
Geographie, Geopolitik, Geoökonomie, Geschichte und Kultur sprechen also für eine sorgfältig konzipierte strategische Annäherung zwischen Europa und Afrika. Teil des geopolitischen Ansatzes Europas muss es dabei sein, andere daran zu hindern, sich neokolonial zu verhalten. Mit diesem Verdikt haben der malaysische Premierminister und viele andere die geoökonomischen Bemühungen Chinas letzthin beschrieben. Hat ein zweiter Wettlauf nach Afrika begonnen? Obwohl China dies immer wieder heftig bestreitet, sieht seine „Belt and Road Initiative“ sehr nach einer neuen Kolonisation aus.
Europa und Afrika sind ein Doppelkontinent wie Nord- und Südamerika. Das haben wir seit den nicht enden wollenden Tragödien auf dem Mittelmeer unter Schmerzen gelernt, obwohl wir es lange vorher schon hätten wissen müssen.
Wir gehören für immer zusammen und müssen das Beste daraus machen. Im Augenblick heißt unser Leitmotiv Fluchtursachenbekämpfung. Das ist nicht falsch, aber unzureichend. Unsere Strategie muss weit über dies von der Tagespolitik diktierte Konzept hinausgehen. Wie man geostrategisch denkt, lehrt uns China. Es proklamiert eine neue Seidenstraße. Warum denken wir nicht im Gegenzug an die Leistungen der Phönizier? Weil wir immer noch nicht zurechtkommen mit der Kolonialzeit? Sie ist unvergessen und wirkt vielfältig nach, aber sie liegt heute hinter dem Doppelkontinent. Oft scheint es, als sprächen die Nachfahren der Kolonisatoren mehr über diese 100 Jahre als die Enkel der damals Kolonisierten. Heute geht es um ganz andere Kategorien und Dimensionen.
Europa braucht ein neues Selbstbewusstsein gegenüber Afrika. Verschwinden muss das schlechte Gewissen und mit ihm die fast automatische Dichotomie der Entwicklungshilfe: Wir geben, die Afrikaner empfangen. Sie ist unzeitgemäß und herablassend. Neuerdings beginnen wir zu verstehen, dass wir auch Forderungen an Afrika haben. Öffentlich erhoben haben wir sie zum ersten Mal beim Migrationsgipfel von La Valletta im November 2015. Das hat manche afrikanische Regierungen überrascht und irritiert. Aber nach dem ersten Schreck ist Europa in Afrika besser verstanden worden als manche offizielle Verlautbarungen es vermuten lassen. Langfristig ist ein allmählicher Übergang zu interessengeleiteter Partnerschaft gut für das Verhältnis der Kontinente zueinander.
China hat fast überall in Afrika Europa als ersten Partner verdrängt. Die von Peking energisch vorangetriebene Belt and Road Initiative (BRI) wird, wenn Europa nicht entschlossen reagiert, die geopolitischen Gewichte weiter zugunsten Chinas verschieben. Auf die Vereinigten Staaten als gleichgesinnten Partner können wir dabei nicht zählen. Sie sind in Afrika – vom Bergbausektor abgesehen – wirtschaftlich wenig präsent. Anderthalb Jahrzehnte nach seiner umfassenden Entschuldung durch westliche Gläubiger ist Afrika auf dem Weg in eine neue Abhängigkeit, diesmal von China. Ein zweites “Scramble for Africa” ist im Gange. Es trägt Züge einer neuen Kolonisation, auch wenn Peking das heftig abstreitet.
Da kein Afrikaner nach China auswandern will, könnte sich langfristig die absurde Entwicklung ergeben, dass der Wanderungsdruck Richtung Europa erneut zunimmt, weil aufgrund von Chinas Dominanz die wirtschaftliche Emanzipation Afrikas stockt. Chinas Präsenz in Afrika kann schon bald ein Problem für Europa werden.
Infrastrukturfinanzierung ist dabei seit Beginn des Jahrhunderts Chinas wichtigster Hebel. Die Liste der Projekte ist historisch beispiellos, und viele von ihnen sind nützlich. Als Finanzierungsinstrumente nutzt China jeweils bilateral die China Development Bank (CDB) und die Export-Import Bank of China (CEXIM), sowie multilateral die 2014 gegründete Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), zu deren Gründungsmitgliedern auch Deutschland und die meisten anderen europäischen Staaten gehören. We couldn’t beat them, so we joined them.
Der Westen im Allgemeinen und Europa im Besonderen haben China das Feld der Infrastruktur in Afrika weitgehend kampflos überlassen. Einige der Motive dafür mögen verantwortungsgetrieben und honorig gewesen sein: die Furcht vor weiteren weißen Elefanten und neuer Verschuldung strukturschwacher Empfängerländer; die Selbstverpflichtung zu sehr strikter Übertragung westlicher Maßstäbe von due diligence und Sozial- und Umweltverträglichkeit, mit den bekannten Verzögerungseffekten für Großprojekte; und die Fokussierung auf good governance und Minimalstandards von Demokratie und Menschenrechten.
Noble Prinzipien allesamt, jedoch leider mit dem Resultat der de-facto-Abdankung Europas als erster Infrastrukturpartner Afrikas. Wir beklagen Chinas Skrupellosigkeit, doch wir setzen ihr keine eigenen Konzepte entgegen. Mit unseren guten Absichten und hehren Prinzipien haben wir uns vielerorts marginalisiert. Afrikanische Minister sagen uns, China sei schneller, billiger und stelle keine Fragen. Wenn man dann unter vier Augen mit ihnen spricht, geben sie zu, dass sie sich mit China unwohl fühlen und lieber mit uns arbeiten würden. Sie durchschauen die propagandistische Semantik der chinesischen Ideologie („win-win“, Süd-Süd-Solidarität, „the struggle“). Sie wissen, dass das dicke Ende kommen wird: nach der anfänglichen Periode der Zinsfreiheit steigen die Finanzierungskosten plötzlich an, und wenn man die Kredite nicht mehr bedienen kann, wird China – wie schon unlängst in Sri Lanka beim Hafen von Hambantota – debt for equity swaps durchsetzen und damit am Ende Kolonialmacht sein.
Wir haben seit dem Höhepunkt der Migrationskrise 2015 zwar Afrika stärker in den Fokus genommen und erste Antworten formuliert. Im G20-Rahmen wurde der Compact with Africa auf den Weg gebracht. Bisher wird er in Afrika – jedenfalls dort, wo er nicht greift – noch nicht verstanden. Unser „Marshall-Plan mit Afrika“ ist eine nationale Initiative, bislang ohne EU-Unterstützung. Brüssel arbeitet mit schwerfälligen Fünfjahresplänen, im traditionellen DEVCO-Verständnis von Entwicklungspolitik. Den europäischen Botschaftern in Afrika fehlt es an Instrumenten, um sich neben ihren wie Prokonsuln auftretenden chinesischen Kollegen zu behaupten. Mit einem Wort: wir sind überall eklatant im Hintertreffen.
Wir könnten es besser machen ohne unsere Prinzipien zu verraten. Dabei sollten wir uns dazu durchringen, einige Elemente von Chinas Erfolg nicht a priori mit Misstrauen zu sehen.
Dazu gehören Chinas weltweit einzigartige Finanzierungsinstrumente. CDB und CEXIM hatten 2016 für Investitionen in Afrika dreieinhalbmal mehr Kapital zur Verfügung als IBRS, EWFE, EIB, ADB, AfDB, IADB und IFC zusammen. Im Schlepptau der Weltbank haben die westlichen Entwicklungsbanken ihre bürokratischen Anforderungen an Projektfinanzierungen immer weiter erhöht. Afrikanische Regierungen sehen daher insbesondere die Weltbank oft eher als Entwicklungshindernis denn als Partner.
Warum fällt uns das Gegenhalten so schwer? In den westlichen Gesellschaften haben wir doppelten Gegenwind. Von rechts mit dem populistischen Einwand gegen „Hilfe“ für Afrika, angeblich zu Lasten bedürftiger Menschen zu Hause, und von links mit der von vielen NGOs betriebenen Opposition gegen Infrastrukturprojekte aus den genannten noblen Gründen. Im Ergebnis drängen beide Tendenzen Europa da an den Rand, wo es im Zentrum stehen sollte: bei der geopolitisch notwendigen Entwicklung des Doppelkontinents Europa/Afrika und dem Abbau der immensen Risiken für sein Gleichgewicht.
Um diesen doppelten Gegenwind zu neutralisieren, müssen wir unserer Öffentlichkeit einen Lösungsweg präsentieren, der über Compact und Marshallplan hinausgeht. Die 30 Mrd. Euro pro Jahr, die Bundesminister Müller als EU-Leistung für Afrika fordert, werden die Mitgliedstaaten am ehesten aufzubringen bereit sein, wenn man ihnen für deren Umsetzung ein schlagkräftiges Instrument vorschlägt, mit dem Europa China Paroli bieten kann.
Diesen Lösungsweg gibt es. Sir Suma Chakrabarti, der Präsident der EBRD, hat im April 2018 vorgeschlagen, das Mandat der Bank schrittweise über die Sahara hinaus nach Süden auszudehnen. Die Gouverneure der Bank – niemand Geringeres als die europäischen Finanzminister – lehnten den Vorschlag jedoch ab. Sir Suma gab nicht auf. Er versuchte es erneut auf dem diesjährigen EBRD-Jahrestreffen in Sarajewo. Diesmal scheint der Widerstand schwächer gewesen zu sein. Der Rat der Gouverneure entschied, die Idee prüfen zu lassen und zumindest 2020 substanziell darüber zu beraten.
Sir Suma hat Recht. Mit der EBRD verfügt Europa über eine Institution mit fast dreißig Jahren Erfahrung. Sie ist für die Finanzierung der afrikanischen Infrastruktur ebenso geeignet wie für die Ertüchtigung unserer afrikanischen Partner zu ihrer Instandhaltung. Wenn Europas Regierungen sich entschlössen, seinem Vorschlag zu folgen, wäre ein wichtiger Schritt getan, um Chinas Dominanz in Afrika einzugrenzen. Europa, heute schon fast verdrängt, wäre wieder im Spiel.
Warum sollte die EBRD Europas erste Wahl für ein erneuertes Engagement in Afrika sein?
Sie hat seit ihrer Gründung 1991 wesentlich zur Entwicklung der Marktwirtschaft in Mittel- und Osteuropa beigetragen. Dabei hat sie reiche Erfahrungen bei der Förderung des Wandels in der Region – und in den letzten Jahren auch darüber hinaus – gesammelt. Sie begünstigt den Übergang zur offenen Marktwirtschaft und fördert die private und unternehmerische Initiative. Sie liegt damit auf einer Linie mit den Initiativen von Bundesregierung und G20 mit und für Afrika.
Für den Bezug zu Afrika ist relevant, dass die EBRD bis heute über 30 Länder darin unterstützt hat, ihre Banken und Finanzsysteme zu reformieren, die Preisbildung zu liberalisieren, Staatsunternehmen zu privatisieren und adäquate rechtliche Rahmenbedingungen für Eigentums- und Landrechte zu schaffen.
Die Reformen wurden durch solide Beratung, Training und technisches Expertenwissen untermauert und von Investitionen in den öffentlichen und privaten Sektor begleitet – übrigens alles Dinge, die die Chinesen nicht anbieten. Wo inländisches Kapital nicht ausreichte, um die Transformation zu finanzieren, half die Bank, externes Kapital aus privaten und öffentlichen Quellen zu mobilisieren.
Die Erfahrungen halfen der Bank bei der Ausweitung ihres Mandats auf die Mongolei (2006), die Türkei (2009) und Jordanien, Marokko, Tunesien, Ägypten und Kosovo (2012), Zypern (2014) und Griechenland (2015).
Die geographische Ausdehnung des Mandats der Bank auf Subsahara-Afrika müsste sorgfältig vorbereitet werden, um Überschneidungen mit anderen in Afrika tätigen Entwicklungsbanken, einschließlich der EIB, zu vermeiden. Bestehende Synergien sollten berücksichtigt werden. Es gibt keine schnelle Lösung für das Dilemma, einerseits menschenwürdige Governance-Standards einzuhalten und andererseits so schnell, effektiv und flexibel wie möglich zu sein. Anders als das autokratisch zentralisierte China kann Europa Infrastruktur nicht aus einer Hand anbieten. Dieser Nachteil muss daher auf andere Weise ausgeglichen werden, etwa durch Betonung unserer traditionellen Qualitäten bei Ausbildung, Technologietransfer und Empowerment durch echte Partnerschaft. Da kann China nicht mithalten.
Wenn die europäischen Regierungen sich jetzt rasch entschließen könnten, die EBRD auch südlich der Sahara arbeiten zu lassen, bekämen afrikanische Regierungen eine Alternative zu Chinas Umarmung, ohne lange Anlaufzeit. Afrika wartet auf uns. Wir sind und bleiben sein erster natürliche Partner auf unserem doppelten Kontinent. Aber wir müssen bereit sein, unsere Rolle auszufüllen.
Albrecht Conze, Kampala, Juli 2019
Der Autor ist zur Zeit Deutschlands Botschafter in Uganda. Dieser Aufsatz gibt seine persönliche Meinung wieder und verpflichtet in keiner Weise die Bundesregierung.