„Wir brauchen keinen „Weckruf für Europa“, sondern einen „Weckruf aus Europa“, schreibt Ralf Wintergerst, CEO von Giesecke+Devrient in seinem Essay zu unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde. “Europa kann die Führungsrolle bei der Gestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunft übernehmen. Wir müssen dazu Europa wieder als großes Ganzes denken und unsere einzigartigen Stärken auf der globalen Bühne selbstbewusst präsentieren.”
Unsere Gesellschaft steht gegenwärtig unter dem Einfluss vieler gleichzeitig stattfindender Veränderungen: Politische und wirtschaftliche Umwälzungen, Digitalisierung und schnelle technologische Weiterentwicklungen, globale finanzielle Instabilität sowie der voranschreitende Klimawandel sind einige der wichtigsten Themenfelder.
Wie können Staaten und Institutionen, aber auch Unternehmen in dieser Zeit noch wirksam geführt werden? Wie kann die Komplexität unseres heutigen Lebens planbar gestaltet werden? Der in den letzten Jahren erstarkende politische Populismus liefert hier einfache – aber unrealistische – Formeln. Rückzug und nationale Orientierung sind keine Antworten auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, die beispielsweise durch die fortschreitende Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz eintreten werden. Und doch ist angesichts der zunehmend komplexen globalen Zusammenhänge eine wachsende politische Verdrossenheit und eine Überforderung erkennbar.
Damit sind wir bei einer entscheidenden Fragestellung für Deutschland und Europa: Setzen wir uns ausreichend mit den Veränderungen und den Hintergründen in unserer Gesellschaft auseinander? Ich meine, dass dies noch nicht geschieht. Ohne ein Verständnis für die Zusammenhänge wird letztlich auch kein Bewusstsein für neue Wege und Lösungen entstehen. Diese Frage ist nicht neu. Für den berühmten deutschen Philosophen Immanuel Kant stellte es ein erhebliches Problem dar, dass Menschen sich schnell ihrem Schicksal ergeben und sich dadurch in eine Situation der Unmündigkeit und Abhängigkeit begeben. Mit diesem Gedanken möchte ich gerne auf zwei Themenstellungen fokussieren, mit denen wir in Europa Akzente für die Zukunft setzen können und sollten.
Zum einen ist dies der Schutz der Werte und der Selbstbestimmung des Menschen, zum anderen die Stärkung der wirtschaftlichen Kraft im europäischen Raum. Warum sind neue Akzente wichtig, und warum müssen die europäischen Staaten diese gemeinsam und vereint setzen?
Neue Akzente für eine veränderte Welt
Veränderungen haben meistens vielfältige Dimensionen. Am Augenscheinlichsten lässt sich dies anhand der rasant voranschreitenden Digitalisierung aufzeigen, die auf alle Lebensbereiche Einfluss nimmt. Das Ergebnis dieser Entwicklungen ist im positiven Sinne phänomenal: Das gesamte Wissen der Menschheit kann über Internetplattformen binnen Sekunden abgerufen werden. Die Verbindung mit anderen Menschen ist einfach, schnell und grenzenlos über leicht zu nutzende Apps möglich. Neue Geschäftsmodelle haben in kürzester Zeit neue Unternehmen entstehen lassen. Die einfache Nutzung digitaler Anwendungen lässt bestehende Produkte und Dienstleistungen mitunter verschwinden. Soziale Netzwerke haben die Kommunikation und die mediale Wahrnehmung revolutioniert. Das Internet der Dinge drängt in unsere Wohnzimmer und die Produktionshallen, und Künstliche Intelligenz ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch, vom Übersetzungsroboter bis zum autonomen Fahrzeug. In der Medizintechnik können durch die Erkennung von Mustern und bisher nicht klar definierten Krankheitsbildern neue Möglichkeiten zur Heilung und Genesung entstehen. Zweifelsohne bringen die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz ungeheure Chancen und Möglichkeiten mit sich.
Dennoch hat der rasante technologische Fortschritt auch seine Schattenseiten: Datenansammlungen führen zu Datenmissbrauch, IT-Infrastrukturen werden durch Cyber-Angriffe manipuliert und das Darknet ist der Handelsplatz für Kriminelle. Zwei Beispiele führen die gesellschaftlichen Folgen der digitalen Welt bildhaft vor Augen.
Immer mehr Menschen kommunizieren und vernetzen sich über soziale Medien. In China nutzen dazu mittlerweile mehr als 800 Millionen die App „WeChat“. WeChat wird als das „Social Operating System Chinas“ bezeichnet, da über die App nicht nur kommuniziert, sondern beispielsweise auch bezahlt, ein Taxi bestellt oder Essen ausgewählt wird. Inzwischen kann der Nutzer über die App auch eine Bewertung im Sinne einer Beurteilung über andere „WeChat-Nutzer“ abgegeben. Diese Beurteilungen lassen Bewertungsskalen entstehen, die wiederum Rückschlüsse auf das Verhalten und die Lebensweise des Bewerteten erlauben und schon heute beispielsweise bei Kreditvergaben genutzt werden. Wohin wird diese soziale Kontrolle führen?
Als zweites Beispiel für die gesellschaftlichen Folgen möchte ich die Verwundbarkeit des Menschen in der digitalen Welt herausstellen. Die Verfügbarkeit und Verteilung von Informationen hat in den vergangenen Jahrhunderten dazu geführt, dass sich Menschen eine Meinung bilden konnten, und damit in die Position gelangt sind, sich kritisch mit Themenstellungen auseinander zu setzen. Die digitale Welt fördert zunächst die Verfügbarkeit von Informationen. Nie zuvor hatte der Mensch in kürzester Zeit Zugriff auf eine derartige Menge an Information und Wissen. Und doch ist durch die Struktur der digitalen Plattformen und die Aggregation von Daten und Informationen eine Verfälschung und Manipulation von Informationen möglich. Die Urteils- und Kritikfähigkeit des Nutzers sinken. Kontrolle und Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung sind die Folge. Wir befinden uns also auf dem Weg von einer Phase des kritischen Zeitgeistes in eine Phase übermäßiger Kontrolle.
Diese Entwicklung mit den exemplarisch beschriebenen Folgen für unsere Gesellschaft steht diametral zu den Grundwerten Europas und Deutschlands. Sie ruhen auf den Grundfesten von Sicherheit durch den Staat, Eigentum, Freiheit des Handelns und der Würde und Selbstbestimmung des Einzelnen. Der Preis, diese Werte zu erlangen, war – historisch gesehen – sehr hoch. Und dies macht diese Werte umso wertvoller.
Europa stellt die Würde seiner Bürger in den Mittelpunkt
In unseren Gesetzen und unserer Verfassung sind die Rechte und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen verankert. Somit stellt sich die Frage, wie Europa und Deutschland im digitalen Zeitalter seine Vielfalt, seinen Erfindungsreichtum und seine Leistungsfähigkeit neu gestaltet – mit seinen freiheitlichen und demokratischen Grundwerten vor Augen. Hierfür gibt es mehrere konkrete Ansatzpunkte, die in Verbindung mit den europäischen Verbündeten stets eine höhere Kraft entwickeln können, als in jeweils einzelnen Ländern für sich.
Zum einen gilt es, den Menschen in Europa die Möglichkeit zur Bewahrung ihrer Identitäten auch im digitalen Zeitalter zuzusprechen. So muss das Bewusstsein für die informationelle Selbstbestimmung gestärkt und durch eine praktikable Implementierung verankert werden. In ihrer strengen Ausprägung konnte die Gesetz gewordene Wahrung der informationellen Selbstbestimmung inklusive der Absicherung digitaler Identitäten tatsächlich so nur auf europäischem Boden entstehen. Sie stellt ein deutliches Unterscheidungsmerkmal zum Datenschutz und dem Schutz digitaler Identitäten in den USA oder China dar. Wir avancieren sozusagen zum „land of the digital free“.
Europa muss seine Kräfte bündeln
Doch mit der Bewahrung der informationellen Selbstbestimmung dürfen wir uns nicht zufrieden geben, denn die Digitalisierung macht eine weitere Herausforderung für jedes einzelne Land in Europa klar: Um leistungsfähig zu bleiben, um in der Weltliga der Wirtschaft mitzuspielen, um auf digitalen Plattformen eine Rolle zu spielen, braucht es eine Bündelung der Kräfte im gesamten europäischen Wirtschaftsraum. Dazu benötigt Europa eine klare und aktive Industriepolitik mit konkreten Ergebnissen und einer Fokussierung auf Zukunftstechnologien. Die heutige Kleinteiligkeit und Kompromissbildung in der Wirtschaftspolitik dienen kaum einer Stärkung der europäischen Wirtschaft, und verkennen die ungeheuren Potentiale, über die sie verfügt. Eine Lockerung und Anpassung des Fusions- und Kartellrechtes würde hierbei wichtige Akzente setzen können. Auch die gezielte Förderung und infolge der Einsatz von Schlüsseltechnologien aus Europa für Europa würde den europäischen Markt stärken.
Neue Akzente aus Europa
Daher: Wir brauchen keinen „Weckruf für Europa“, sondern einen „Weckruf aus Europa“. Europa muss ein Bewusstsein für seine künftige Führungsrolle entwickeln und seine einzigartigen Stärken auf der globalen Bühne selbstbewusst präsentieren.
In diesem Sinne kann Europa die Weltregion sein, die als der Kontinent der digitalen Selbstbestimmung für jeden Bürger steht, und sich damit dem Dogma einer digitalen Massenkontrolle entgegen stellt.
Dazu braucht es den Mut, die Kräfte zu bündeln, um dem starken Wettbewerb der anderen Kontinente standzuhalten. Kräfte bündeln in Europa und für Europa erhält unsere Wettbewerbsfähigkeit. Die Umsetzung kann einfach sein: Reduzierung und Vereinfachungen der teilweise unsinnigen Regulierung.
Letztlich steht Europa heute – trotz all seiner Probleme und Herausforderungen – für den Kontinent, in dem die Menschen selbst verantwortlich ihr Leben gestalten können. Auch wenn das nicht immer einfach ist. Im Gegenzug: Die Variante der Kontrolle wünsche ich mir für Europa in keinem Fall.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Ralf Wintergerst:
Ralf Wintergerst ist Vorsitzender der Geschäftsführung und CEO von Giesecke+Devrient (G+D). Er leitet damit eines der weltweit führenden Unternehmen für Sicherheitstechnologie. Seine Karriere dort begann er 1998 als Direktor der internationalen Tochtergesellschaften des damaligen Unternehmensbereichs „Cards and Services“. Zwischen 1999 und 2005 hatte er verschiedene Führungspositionen in der Division Banknotenbearbeitungssysteme inne, bis er 2006 deren Leitung übernahm. Seit 2013 ist er Mitglied der Geschäftsführung. 2016 wurde er zum Vorsitzenden der Geschäftsführung und CEO ernannt.
Neben seiner Rolle bei G+D ist Wintergerst Aufsichtsratsvorsitzender der secunet Security Networks AG. Darüber hinaus übt er diverse Tätigkeiten mit Bezug zu IT-Sicherheitsfragen aus, darunter Mitglied des Beirates der Cyber Defense Instituts der Bundeswehruniversität in München und Co-Vorsitzender der Digitalgipfel Plattform „Sicherheit, Schutz und Vertrauen“ des Bundesinnenministeriums.
Der gebürtige Niederrheiner hat Betriebswirtschaftslehre studiert, und hält zudem sowohl einen Masterabschluss in den Fachgebieten Management als auch in Politik, Philosophie und Wirtschaft. In Vorträgen und öffentlichen Auftritten schlägt er vielfach die Brücke zwischen technologischem Fortschritt im digitalen Zeitalter und den Auswirkungen auf die Gesellschaft und unser Sicherheitsverständnis.
Bereits in jungen Jahren hat sich Ralf Wintergerst für den Kampfsport Karate begeistert und mit Talent, Disziplin und Willensstärke an seiner Karriere als Leistungssportler gearbeitet. So war er viermal deutscher Meister und holte sich 1990 in Athen den Europameistertitel. Die internationalen Wettkämpfe und viele Reisen weckten sein Interesse für andere Länder und Kulturen und die Faszination für die Vielfalt der Völker und Lebensweisen. Erlebnisse auf seinen heutigen Reisen als CEO und die Zusammenarbeit mit Kollegen aus aller Welt bleiben ihm stets Inspiration für seine Arbeit und die Offenheit für Andersartiges und Veränderungen.
Ralf Wintergerst ist verheiratet, Familienvater und lebt in München.