
Trump, Erdoğan, Nordkorea, Brexit, Le Pen: Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, um deutlich zu machen, warum Europa nun aus seinem Dornröschenschlaf gerissen wird. So fatal die Entwicklungen in der Weltpolitik sind, so groß ist die Chance für Europa und die Europäer, sich neu zu positionieren und – vor allem nach innen – stark zu werden.
Europa ist für mich ein Synonym der Freiheit, die sich die Generationen vor uns erkämpft haben. Wir jungen Europäer genießen sie seit unserer Kindheit, ohne je selbst dafür kämpfen zu müssen. Für uns ist sie selbstverständlich. Deswegen sind wir eine Generation, die kaum Leidensdruck oder großes Interesse zum Erhalt dieser so wichtigen Freiheit verspürt. Und doch werden gerade wir jungen Europäer sehr lange mit den europafeindlichen Entscheidungen der letzten Zeit leben müssen.
Europäische Identität – was bedeutet das eigentlich?
Artikel 2 des EU-Vertrages definiert die gemeinsamen Werte, zu denen sich Europa bekennt. Sie geben ein ganzheitliches, europäisches Identitätsbild vor. Meine Perspektive wird allerdings stärker durch ein höchst persönliches Empfinden geprägt: Mir ist wichtig, mich emotional zu der Gemeinschaft „Europa“ zugehörig zu fühlen. In meiner Wahrnehmung fängt die gemeinsame europäische Identität damit an, wie alle tagtäglich in ihrem Umfeld mit anderen Menschen agieren und kommunizieren, unabhängig von Grenzen und kulturellen Unterschieden.
„Die Freiheit nutzt sich ab, wenn Du sie nicht nutzt[1]“
Europa erwacht zum Leben, indem sich viele Menschen dafür einsetzen. Dies fällt in letzter Zeit vor allem auch durch die öffentlichkeitswirksamen Bewegungen auf der Straße wie „Pulse of Europe“ auf.
Als junger Europäer habe ich mich gefragt: Wie kann ich mich, als einzelner, dessen Handlungsrahmen auf das Private beschränkt ist, überhaupt dafür einsetzen, meine europäische Identität nachhaltig zu stärken? Was können andere Bürger tun, die sich für Europa engagieren möchten? Bewusst gehe ich hier nicht auf parteipolitische Aspekte ein, denn der Kampf für Freiheit, für Europa ist für mich zunächst keine Angelegenheit der Parteien. Vielmehr beruht er auf der tagtäglichen Umsetzung dessen, was wir unter Europa verstehen und der Werte, die uns verbinden. Das mag trivial klingen. Ich stelle aber immer wieder fest, dass vielen die Tragweite ihres täglichen Handelns nicht bewusst ist.
Europa fängt vor der Haustür an: im Alltag, im Supermarkt, beim Bäcker. Jeder von uns hinterlässt Spuren. Über eine aufgehaltene Tür freue ich mich, über ein unfreundliches Meckern ärgere ich mich. Geht das nicht jedem so, der sein Umfeld überhaupt wahrnimmt?
Genau hier sehe ich die Chance für uns Europäer. Europa ist dann erfolgreich, wenn wir spüren, dass es zusammen besser geht als alleine. Dass wir jeden Tag von anderen Menschen auch über Grenzen hinweg lernen – unsere Erfahrungen sind doch so vielfältig. Unabhängig von Herkunft, Ausbildung und Geschlecht gilt es sich in der Art und Weise zu üben, wie wir miteinander umgehen. Es geht darum vorzuleben, was man selbst von anderen erwarten möchte. Die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen im Alltag werden damit leicht greifbar: Mit Bewusst-Sein vor die Haustür treten und mit jedem Handeln etwas Kleines bewirken.
Für uns Europäer bedeutet dies: Erst wenn ich Neugier und damit Interesse für einen neuen Menschen entwickeln kann, ihm auch über nationale und kulturelle Grenzen hinweg zuhöre und versuche ihn zu verstehen; erst wenn ich mir auch manchmal selbst den Spiegel vorhalte: erst dann erhält die europäische Identität eine Chance fühlbar zu werden. So dramatisch die gegenwärtige weltpolitische Situation auch sein mag, es ist gut, dass wir jungen Europäer endlich zu spüren bekommen, dass Freiheit ein knappes Gut ist.
[1] aus dem Lied „Sei wachsam“ von Reinhard Mey, 1996