“Den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefängnisse.” – so lautet ein bekannter Ausspruch der abwechselnd Churchill, Orwell oder Dostojewskij zugeschrieben wird. Ebenso zutreffend, doch weniger bildhaft: den Zustand einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick auf ihre Sicherheitsgesetzgebung.
Die terroristischen Anschläge (New York, London, Madrid, Oslo, Paris, Nizza) der vergangenen 15 Jahre waren ein Katalysator für die Sicherheitsgesetzgebung nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und der EU. Sie führten zur wiederholten Verlängerung der Anti-Terrorgesetze, der Einführung der Vorratsdatenspeicherung und neuestens – nach dem Anschlag in Berlin im Dezember 2016 – auch zu einer Diskussion um eine flächendeckende Videoüberwachung.
Die Angst vor Terror beeinflusst den Gesetzgeber. Sie legitimiert neue und immer schärfere Sicherheitsgesetze. Doch dieser Handlungslogik wohnt eine Gefahr inne: Das panische Bedürfnis nach mehr Sicherheit verstellt zunehmend den Blickwinkel auf die Freiheitsrechte. Der Gesetzgeber muss bei der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit immer aufs Neue einen rechtsstaatlichen Balanceakt vollführen.
Dies führt unweigerlich zu der Frage:
Ist Terror die größte Bedrohung der Freiheit oder sind es strenge Sicherheitsgesetze?
Die Anforderung an den gesetzgeberischen Seiltanz ist groß, das Ergebnis nicht immer überzeugend. Der Gesetzgeber muss Sicherheit gewährleisten, ohne die Freiheitsrechte über Gebühr zu beschränken. Dies sollte ihm auch im Affekt gelingen, tut es aber nicht immer. Das Korrektiv muss oftmals die Judikative leisten, wie die Entscheidungen zur Abschussberechtigung von Passagiermaschinen nach 9/11 im Luftsicherheitsgesetz und die Urteile zur Vorratsdatenspeicherung zeigen. Im ersten Fall war es das Bundesverfassungsgericht, im zweiten der Europäische Gerichtshof, der das Gesetz wegen schwerwiegender grundrechtlicher Bedenken kippte.
Neben den Gerichten spielt auch die Wissenschaft bei der Beurteilung des Balanceakts eine wichtige Rolle. Viele Gesetze enthalten eine Halbwertszeit (Evaluationsklauseln), nach der sie einer Prüfung unterzogen werden sollen. Diese geht allerdings nicht sehr oft zu Gunsten der Freiheitsrechte aus. Einmal in Kraft gesetzte Gesetze werden nur selten zurückgenommen oder eingegrenzt.
Ein erstaunlicher Gegenentwurf zur Affektpolitik gelang in Norwegen als Reaktion auf den Anschlag von Anders Breivik im Juli 2011. Obwohl eine Vielzahl von Menschen getötet wurde und der Anschlag der Mitte der Gesellschaft galt, wurden die Sicherheitsgesetze des Landes zunächst nicht verschärft. Der Gesetzgeber ließ sich Zeit und agierte mit Augenmaß. Den Kern der Änderungen, die erst am 21. Juni 2013 erfolgten, war die strafrechtliche Sanktion der Vorbereitung von Anschlägen und die Beteiligung an terroristischen Gruppierungen mit dem Ziel der Bekämpfung von „Soloterrorismus“.
Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung oder der Ausbau von Zugriffsbefugnissen auf Daten waren nicht Gegenstand der Gesetzesänderung. Diese außergewöhnliche Reaktion fußte auf der bewussten und ausgesprochenen Entscheidung, die Freiheitsrechte nicht zum Zwecke eines vermeintlich höheren Maßes an Sicherheit aufzugeben. Die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit ging – man muss es so sagen – „erstaunlicherweise“ zugunsten der Freiheit aus.
2006, als es um die Unterstützung und Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung ging, rühmte sich auch der deutsche Gesetzgeber mit seinem „Augenmaß“. Trotzdem befand es das BVerfG wenige Jahre später für nötig, die Vorratsdatenspeicherung für nichtig und nicht mit den Grundrechten vereinbar zu erklären. Die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit war dem Gesetzgeber offensichtlich doch nicht gelungen. Zeitdruck und Überlastung mögen ein Grund hierfür gewesen sein. Die Bundesregierung musste 2011 zugeben, dass „bei fast 30 neuen Gesetzen seit dem 11. September 2001 (…) ein distanziertes, sachliches Abwägen zwischen legitimen Sicherheitsinteressen und den verfassungsrechtlich verbrieften Freiheitsrechten kaum noch möglich (war)“.
Sicherheitsgesetze dienen nicht nur der Sicherheit, sondern auch dem Sicherheitsgefühl
Auf eine akute Bedrohung und Gefährdung zu reagieren, ist für Politiker relativ leicht. In einer solchen Situation finden Sicherheitsmaßnahmen in der öffentlichen Meinung Anklang und damit auch Mehrheiten in den Parlamenten. Die vorgreifende Aktion auf neue Szenarien möglicher Gefährdungen, Bedrohungen oder Schäden ist hingegen weniger populär. Der Rechtfertigungsaufwand ist höher, und Mehrheiten sind umso schwieriger zu organisieren, je weiter die Gefahr weg scheint.
Wie schnell sich der Wind in der Politik jedoch drehen kann, zeigt eine Entschließung des Bundestages von 2006 zur Vorratsdatenspeicherung. Im Lichte der Anschläge von London befürworteten die Abgeordneten die Umsetzung der Richtlinie, obwohl sie sich ein Jahr zuvor noch dagegen ausgesprochen hatten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Studie von Ende 2008/Anfang 2009 (Bott/Koch-Arzberger, Der Faktor Furcht: Auswirkungen der islamistischen Terrorgefahr; Befunde einer repräsentativen Studie in Hessen, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 2012, S.132-141).
Bei dieser Umfrage gaben 47 % der Befragten an, der islamistische Terrorismus beunruhige sie. Eine Mehrheit befürwortete deswegen auch die staatlichen Antiterrormaßnahmen, obwohl ihre konkrete Tauglichkeit zur Verbesserung der Sicherheitslage nicht nachgewiesen war. Zugleich befürchteten aber nur sehr wenige der Befragten, sie könnten selbst Opfer eines Anschlags werden.
Der Grund für eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze liegt also nicht allein darin, tatsächlich mehr Sicherheit zu erzeugen, sondern auch einer diffusen „Beunruhigung“ zu begegnen. Gleichzeitig versucht man den Erwartungen und dem Sicherheitsbedürfnis der Bürger gerecht zu werden. Alles sicher oder zumindest gefühlt sicherer zu machen, ist der inhaltliche Auftrag der Sicherheitspolitik.
Vor diesem Hintergrund erscheint die politische Reaktion, Sicherheitsgesetze zu entwickeln und zu erweitern als allzu verständlich und geradezu natürlich.
Neue Herausforderungen für ein europäisches Sicherheitsrecht
Zunehmend problematisch und ein europäisches Problem in Zeiten der globalen Digitalisierung ist, dass der Fokus neuer Sicherheitsgesetze nicht nur auf immer weiterreichenden „analogen“ Befugnissen liegt. Den Schwerpunkt bildet eine digitale Strategie der Datensammlung. Wie es Wolfgang Schäuble formulierte, als er noch Bundesinnenminister war, ist „die Information“ das wichtigste Instrument im Kampf gegen den Terrorismus.
Es liegt in der Natur von Datensammlungsbefugnissen, dass ihre Auswirkungen kaum fühlbar sind. Auch unter den Kritikern neuer Datensammlungsbefugnisse wird es nur Wenige geben, deren Freiheitssphäre nachweisbar beeinträchtigt wird. Das Problem ist die schiere Angst vor einer staatlichen Datensammlungsmaschine, die sich drohend über die Freiheitsausübung legt. Im schlimmsten Fall ist der Einzelne dann zu eingeschüchtert, um seine Freiheit wahrzunehmen.
Zwar ist diese Freiheit nicht genau dieselbe wie die, die der Staat mit Hilfe der Sicherheitsmaßnahmen schützen will, doch stellt sie sich nicht als weniger schützenswert dar. Die Freiheit des Einzelnen ist nicht teilbar in mehr oder weniger schützenswerte Bereiche der freiheitlichen Selbsterfüllung. Dem einen mag der Stadion- oder Konzertbesuch genau so viel wert sein wie dem anderen das Ausleben seiner Persönlichkeit im digitalen Raum.
Große Vorsicht ist daher geboten, denn die „Versicherheitlichung“ mit dem Ziel der Optimierung der faktischen Sicherheit und der Etablierung eines hohen Sicherheitsgefühls und Vertrauens in die Sicherheitsmaßnahmen ist geeignet, ihre eigenen Ziele zu sabotieren. Zwar mag es für den Staat eher möglich werden, terroristische Anschläge zu verhindern oder zumindest in ihrem Ausmaß zu begrenzen, doch zu welchen Kosten? Wer das Haus nicht mehr verlässt, wird nicht Opfer eines Verkehrsunfalls werden. Dieses Beispiel mag aus der Luft gegriffen wirken, doch es zeigt, wie sehr die persönliche Freiheit Schaden zu nehmen vermag, gerade wenn die faktische Sicherheit im täglichen Beieinander zunimmt.
Die Lösung: Eine evidenzbasierte Sicherheitsgesetzgebung
Die Politik muss ständig Freiheit gegen Sicherheit abwägen, Sicherheit für Freiheit aufgeben, Freiheit für Sicherheit einschränken. In diesem Spannungsverhältnis reagieren Demokratien auf den Terror des 21. Jahrhunderts. Wie steht es aber um die Beantwortung der Frage: Ist der Terror die größte Bedrohung der Freiheit, oder ist es die Sicherheitsgesetzgebung? Die Wahrheit liegt – wie immer – irgendwo dazwischen. Der Gewöhnungseffekt der immer neuen staatlichen Eingriffe in verbürgte Freiheitsrechte ist nicht außer Acht zu lassen, selbst in einem Land wie Deutschland, das demgegenüber eine historisch begründete Skepsis hegt.
Was benötigt wird, sind Evaluationsmechanismen. Diese dürfen nicht ein formales Zugeständnis an die Verfassungsmäßigkeit bleiben. Sie müssen ernst genommen werden. Maßnahmen, die die Grundrechte einschränken, müssen objektiv und wissenschaftlich unabhängig überprüft und bewertet werden. Sicherheitsgesetzgebung sollte möglichst evidenzbasiert erfolgen. Der Staat läuft sonst Gefahr, seine eigene Rechtsstaatlichkeit fragwürdig erscheinen zu lassen.
Gerade, weil Sinn- oder Unsinn einer Maßnahme im Vorhinein schwer zu bestimmen ist, sollte Europa im Bereich des Sicherheitsrecht stärker zusammenwachsen. Der Gesetzgeber darf sich den Erfahrungen anderer Länder nicht verschließen. Ist der Nutzen einer Maßnahme in einem europäischen Mitgliedsstaat nicht nachgewiesen, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch hierzulande versagen wird.
Der Gesetzgeber muss sich bei jeder Verlängerung von Sicherheitsgesetzen oder deren Implementierung zudem aufs Neue fragen: Regiert Panik und Affekt, oder lässt sich die Entscheidung auch rational und mit Augenmaß noch vertreten, sobald der Schock eines Terrorangriffs überwunden ist? Die Quittung für ein solches Handeln wird er spätestens mit einem negativen Evaluationsergebnis erhalten.
Hierbei muss sich die Politik auch Gewahr werden, dass nicht jedes Risiko verhindert werden kann. Wird die Gesetzgebung von einer tatsächlichen Bedrohung abgekoppelt, treiben seltsame Blüten, wie es zum Beispiel die Abschussberechtigung für Passagiermaschinen veranschaulicht. Nicht jede Bedrohungslage, nicht jeder terroristische Anschlag erfordert neue, schärfere Sicherheitsgesetze. Wir müssen damit leben, dass wir konkreten Gefahren ausgesetzt sind. Angst ist ein Gefühl, dass nicht rational ist und weder durch Fakten noch durch schärfere Sicherheitsgesetze verschwindet. Im Gegenteil: Einige Menschen mag es beruhigen, andere sind gerade durch neue Sicherheitsgesetze beunruhigt.
Dr. Jakob Dalby ist Legal Counsel von British American Tobacco und Mitglied von United Europe.