
Europa steht vor einer Zerreißprobe. Das mag abgedroschen klingen, aber Brexit, der nationale Populismus und Amerikas Radikalschwenk zu Isolationismus und Protektionismus stellen die EU tatsächlich vor gewaltige Herausforderungen. Nicht wenige gehen davon aus, dass sie daran scheitern kann.
Aber ist das wirklich so? Mittlerweile wissen wir, dass der Brexit die Briten stärker treffen wird als uns Kontinentaleuropäer – schon deswegen, weil 48% der britischen Exporte nach Kontinentaleuropa fließen, aber nur 6% in die andere Richtung. Das ist Grund genug für mehr Selbstbewusstsein, auch in den anstehenden Austrittsverhandlungen. Und Amerika? Wie immer die neue amerikanische Wirtschafts- und Außenpolitik aussehen mag: Unser Wirtschaftsraum mit über 500 Millionen Menschen bleibt attraktiv. Er ist zudem ein nicht zu unterschätzender politischer Machtfaktor.
Allerdings stimmt das nur dann, wenn dieser Machtfaktor auch machtvoll ausgespielt wird. Hier hilft kein Schönreden: Genau das findet nicht statt! Was der ehemalige deutsche EU-Kommissar Günther Verheugens über die europäische Bürokratie sagte, trifft heute mehr zu denn je: sie ist technisch, arrogant, von oben herab. In Verbindung mit der andauernden Wachstumsschwäche, einer unerträglich hohen (Jugend-) Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas und einer genauso unerträglichen politisch/populistischen Vielstimmigkeit hat dies dazu geführt, dass viele Menschen nicht mehr an Europa glauben.
Natürlich ist das Problem erkannt. Folgt man der aktuellen Diskussion, geht es vor allem um zwei mögliche Auswege: Die einen sagen, dass wir nur dann weiter kommen, wenn wir uns auf unsere Werte besinnen und Europa wieder in den historischen Kontext von Frieden und Freiheit stellen. Die anderen schlagen eine neue Verfasstheit vor, ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“, oder – wenn nicht jetzt, wann dann? – eine schnelle Bewegung hin zu einem Vereinten Europa.
Beide Wege sind richtig, und beide schließen einander nicht aus. Aber beide haben ein Problem: Sie kosten Zeit, die wir möglicherweise nicht haben. Hinzu kommt ein weiteres, so bitter es klingen mag: Die allermeisten Europäer kennen Kriegserfahrungen nur aus Geschichtsbüchern. Ein Appell an die friedensstiftende Wirkung Europas bleibt abstrakt, wenn es nicht gelingt, ihn mit spürbaren Verbesserungen und mit einer den neuen Herausforderungen entsprechenden Botschaft zu kombinieren.
Für mich gibt es deswegen einen dritten Weg: Priorisieren und Umsetzen. In all dem Aktionismus, den man von Donald Trump hört – in einem hat er Recht: „It’s time for execution!“ Das gilt für Europa allemal. Schnelle Umsetzung setzt Prioritäten voraus. Zwei liegen für uns auf der Hand: Wachstum und Verteidigung.
Priorität 1: Wirtschaftswachstum
Nur wenn es gelingt, vor allem jungen Menschen handfest zu beweisen, dass die europäische Wirtschaft stark und dynamisch wächst und die Perspektive schafft, der Arbeits- und Hoffnungslosigkeit zu entrinnen, schaffen wir ein Fundament für einen europäischen Neustart. Jetzt geht es darum, die Aufbruchsstimmung, die viele von uns einst mit Jacques Delors‘ Binnenmarkt verbunden haben, neu zu entfachen.
Die gute Nachricht ist: Viele dafür notwendige Projekte liegen schon in Brüsseler Schubladen, von der Reaktivierung des Binnenmarktes, der Stärkung von Industrie und Mittelstand bis hin zum Ausbau von Infrastruktur und der Digitalisierung. Im Kern geht es darum, die industrielle Kompetenz, die weite Teile Europas auszeichnet, mit digitaler Kompetenz zu kombinieren.
Anders gesagt: die industriellen Wurzeln – unsere Handwerkskultur und Innovationskraft – zu nutzen und mit neuen Technologien zukunfts- und wettbewerbsfähig zu machen. Studien unsers Hauses zeigen, dass damit Wachstumsimpulse von 1,25 Billionen Euro bis 2025 allein in 17 EU-Staaten zu erreichen sind. Solche Nachrichten brauchen wir jetzt!
Eine weitere Nachricht passt in diesen Zusammenhang: Sollte Amerika uns den Marktzugang tatsächlich erschweren, haben wir eine valide Alternative in Asien. Nicht sofort, aber ganz sicher perspektivisch ist das so, denn unsere industrielle Kompetenz, die Verfasstheit unserer Unternehmen, unsere Erfahrungen und bisherigen Erfolge prädestinieren uns als starker und wachsender Handelspartner. Der Abschluss eines europäischen Handelsabkommens mit China und Indien gehört also ganz oben auf die Handlungsagenda, und sei es, um den Verhandlungsspielraum mit Amerika zu erhöhen.
Priorität 2: Verteidigung
Die zweite Priorität liegt in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Denn nicht erst seit der Trump-Wahl ist klar geworden, dass die Zeiten der Friedensdividende, die wir seit dem Mauerfall einfahren konnten, endgültig vorbei sind. Deshalb gilt es, die europäischen Verteidigungsausgaben erheblich intelligenter einzusetzen und endlich nachhaltig zu gestalten. Das gilt erst recht, wenn wir die Nato handlungsfähig halten wollen.
Die Militärausgaben der EU sind mit 203 Milliarden Euro die zweithöchsten weltweit, doch wird das Geld hochgradig ineffizient für die derzeit noch 28 unterschiedlichen Streitkräfte ausgegeben. Die Europäische Kommission hat jüngst festgestellt, dass ungefähr 80 Prozent der Verteidigungsgüter ausschließlich im jeweiligen Mitgliedstaat beschafft werden. Allein im Bereich der Beschaffung verursacht die mangelnde Zusammenarbeit laut EU-Kommission jährliche Kosten von bis zu 100 Milliarden Euro, die man einsparen könnte, wenn man auf europäische Waffen- oder Fahrzeugsysteme setzen würde.
Mir geht es hier nicht um das große Ziel einer gemeinsamen europäischen Armee, so wünschenswert sie wäre. Sondern es geht um robuste Schritte: Pooling und Sharing von Ressourcen, gemeinsame Rüstungsentwicklungsprojekte und ein europäischer Verteidigungsbinnenmarkt, der zudem die europäische Verteidigungsindustrie erheblich stärken würden. Wichtige Impulse könnten die europäischen Verteidigungsminister auf der Münchner Sicherheitskonferenz setzen. Auch das ist schließlich eine Antwort auf Trumps Eskapismus!
Gelingt damit ein großer Wurf? Wahrscheinlich nicht. Und ja, man kann einen intellektuelleren Zugang zu Europas Zukunft finden, als den, den ich hier gewählt habe. Aber mein Vorschlag verschafft uns Zeit und erhöht unsere Schlagkraft. Notwendig dafür ist eigentlich nur ein Bekenntnis, nämlich dazu, Prioritäten zu setzen und sich daran messen zu lassen. Dass sich die Kommission entlang dieser Prioritäten aufstellt, dass das Parlament sie mitträgt und der Rat sie nicht verlangsamt, sondern ihre Umsetzung einfordert. Viel verlangt? Vielleicht. Aber angesichts der Alternativen erscheint es mir nicht zu viel.
Eine Anforderung kommt noch hinzu: dass anders kommuniziert wird. Ein Klicken auf die EU-Websites zeigt, worum es geht. Die Kommunikation ist solide, detailliert, politisch korrekt. Anders gesagt: Empathie geht anders! Es geht nicht um das Trump‘sche Twittern, aber schon darum, direkter, persönlicher und zielorientierter zu kommunizieren. Die EU sollte konkrete Projekte und Ziele in den Vordergrund stellen, damit deutlich wird, worum es geht: um Stärke, Stolz, Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit.