Die führenden Politiker Europas haben es versäumt, die strukturellen Probleme, die die Krise des Jahres 2008 offenlegte, zu lösen. Auch mit den Fragen, die in den letzten Jahren aufgeworfen wurden, haben sie sich nicht auseinandergesetzt. Beispiele hierfür sind die hohe Staatsverschuldung, die Börsenblase und die verzerrte Risikowahrnehmung, die aus den künstlich niedrigen Zinssätzen der Eurozone resultiert. Für den Moment hat sich die Situation stabilisiert. Die Finanzmärkte begeben sich in eine Periode der hohen Volatilität, doch eine Panik konnte vermieden werden. Die Frage lautet, ob diese Ruhe anhalten wird oder ob die wirtschaftlichen Herausforderungen der Europäischen Union zu neuen, ausgewachsenen Krisen führen werden.
Dieser Report ist Teil der GIS-Serie über Globale Trends, die Szenarien über das Gesamtbild beschreiben will – Szenarien, die die Welt in diesem Jahr und darüber hinaus formen werden.
IN LETZTER ZEIT verläuft die politische Gestaltung auf EU-Ebene eher enttäuschend. Nach Jahren der Rezession und Stagnation planten die meisten Regierungschefs eigentlich, die Krise der öffentlichen Finanzen und der Banken hinter sich zu lassen. Sie hofften, dass die wirtschaftlichen Wachstumsraten relativ schnell die Schulden und die Budget-Defizitquoten ihrer Länder eindämmen würden – was höhere Zinsen und Schuldendienstkosten erträglich machen würde und den Druck, den die notleidenden Kredite auf die Bankenbilanzen ausüben, lindern könnte. Dieser Plan sah auf dem Papier gut aus, doch dazu bräuchte man ein jährliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 2 bis 3 Prozent.
Das tatsächliche Wachstum in Europa im Jahr 2015 sah jedoch eher träge aus: In der Eurozone waren es nur 1,6 Prozent und in der EU etwa 1,9 Prozent, und das vor allem aufgrund der stärkeren Leistungen des Vereinigten Königreichs und Polens. Die drei größten Volkswirtschaften der Eurozone – Deutschland, Frankreich und Italien – wuchsen um rund 1,7 Prozent, 1,1 Prozent und 0,9 Prozent. Erschwerend kommt hinzu, dass die wiederholten Bemühungen, Leistung und Vertrauen durch eine äußerst großzügige Geldpolitik zu schaffen, zu armseligen Ergebnissen geführt haben. Ein Großteil der Liquidität versickerte in den Finanzmärkten, da die Investoren das Geld verwendeten, um Aktien und Hochzinsanleihen zu kaufen. Anstatt die Produktion zu stimulieren, schufen die neuen Euros Blasen, aus denen man nur schwer die Luft wieder herauslassen kann.
Politische Trägheit
Es ist unwahrscheinlich, dass die EU im Jahr 2016 oder in den folgenden Jahren hohe Wachstumsraten erreichen wird. Dazu bräuchte man deutliche Produktivitäts-Steigerungen, angetrieben durch den technologischen Fortschritt. Stattdessen ersticken die Überregulierung, der schwache Schutz der Eigentumsrechte, die hohen Steuern, zu großzügige Sozialsysteme und ineffiziente Bürokratien auf nationaler und supranationaler Ebene weiterhin die unternehmerischen Initiativen und die langfristigen Investitionen.
Dies sind die Kernprobleme vieler europäischer Länder, die sie aus den letzten zehn Jahren geerbt haben – und keines von ihnen hat sie ernsthaft bekämpft. Ein grundsätzlicher wirtschaftlicher Wandel ist nicht in Sicht. Im November veröffentlichte die Europäische Kommission ihre Prognose für das Wachstum in der EU im Jahr 2016: Für die Eurozone sagt ihr wirtschaftliches Modell lediglich 1,0 Prozent Wachstum voraus, die von der Kommission jedoch auf 1,8 Prozent aufgrund der niedrigen Rohstoffpreise und des schwachen Euro schöngerechnet werden konnten. Die Vorhersagen sind unterschiedlich, doch so viel ist klar: Das Wachstum wird bescheiden ausfallen sowie anfällig für viele Risiken sein, und eine quantitative Lockerung wird auch nicht helfen.
Vor diesem Hintergrund dürften die beiden wichtigsten Schwachstellen der EU-Wirtschaft keine Besserung erfahren – die öffentlichen Finanzen und das überkapitalisierte Bankensystem mit seinen großen Mengen an faulen Krediten. Angesichts der derzeitigen politischen Trägheit wird eines der folgenden drei Szenarien als Folge von Ereignissen eintreffen, die diese Schwachstellen sehr schnell in Notfälle verwandeln könnten.
Erschütterung der Banken
Das erste, wahrscheinlichste, Szenario geht davon aus, dass Europa weiter macht wie bisher. In diesem Zusammenhang würde die Europäische Zentralbank auch weiterhin ihre quantitative Lockerung beibehalten, in der Hoffnung, die Spannungen zu entschärfen und den
Finanzinstituten die Liquidität bereitzustellen, die sie benötigen, um neue öffentliche Schulden zu übernehmen und ihre Bilanzen zu stützen. Dieses Szenario würde dazu führen, dass die sehr niedrigen Zinsen beibehalten werden, solange zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Die Inflation bleibt bescheiden und das europäische Bankensystem wird von keiner großen Krise erschüttert.
Die erste Bedingung ist realistisch: Die schwelenden Spannungen und die Unsicherheit werden sicherstellen, dass die Gesamtnachfrage verhalten bleibt. Allerdings wird auch der Bankensektor weiterhin schwächeln. Zum Beispiel werden die italienischen Banken mit faulen Krediten im Gesamtwert von mindestens 200 Milliarden Euro belastet – vier kleine Banken waren bereits gezwungen, zu schließen. Sie sind nicht die einzigen faulen Eier. Man kann sich vorstellen, was passiert, wenn die Europäer beginnen, ihren Banken-Bilanzen mehr Aufmerksamkeit zu schenken – und es plötzlich sehr eilig haben, ihre Vermögenswerte dem zuverlässigsten Akteur zu übertragen. Es gibt keine Möglichkeit, dass die Währungsbehörden diese Flut eindämmen könnten: Viele kleine Banken würden zugrunde gehen. Die Öffentlichkeit würde vermutlich die großen Banken als sicherer erachten und es käme zu einer umfassenden Erschütterung des europäischen Finanzsystems. Die kleinen Banken würden verlieren, die großen Banken gewinnen.
Defizitabbau
Ein zweites Szenario reflektiert eine Situation, in der es den EU-Volkswirtschaften gelingt, ihre Haushaltsdefizite abzubauen. Dies würde die bestehenden strukturellen Ungleichgewichte verringern. Das Leben über den Verhältnissen und die zunehmende Verschuldung verhießen höhere zukünftige Steuern und sie würden langfristig das Vertrauen untergraben. Der Defizit-Abbau dürfte auch den Druck auf die Finanzmärkte verringern. Die Regierungen wären bei einem Zinsanstieg etwas weniger anfällig.
Darauf zählen die EU-Behörden. Nach den von der Europäischen Kommission veröffentlichten Daten wird das Haushaltsdefizit für den Euroraum im Jahr 2015 auf 2,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt (selbst wenn man die sieben Länder berücksichtigt, die Gefahr laufen, die EU-Defizitgrenze von 3 Prozent zu reißen) und im Jahr 2016 soll es knapp 1,8 Prozent betragen. Das Ziel ist realistisch. Es ist jedoch unklar, ob einige der wichtigsten Länder (darunter Spanien und Italien) Erfolg bei der Bereinigung ihrer öffentlichen Finanzen haben werden, ohne die Steuern zu erhöhen und so das Wachstum zu opfern.
Geliehene Zeit
Das dritte Szenario würde eintreten, wenn die Zinssätze bald zu steigen beginnen, unabhängig davon, was die Europäische Zentralbank tut. Mit anderen Worten, die Investoren beginnen, sich Gedanken über das Risiko zu machen, denn sie erkennen, dass eine Bruttorendite von 4 Prozent auf Risikoanlagen unzureichend ist und sie verlangen darum, dass die Kreditnehmer mehr bezahlen. In jüngster Zeit zeichnete sich der Markt für die so genannten „Hochzinsanleihen“ durch solch eine Denkweise aus. Während der nächsten Monate könnte dieser vorsichtigere Ansatz bei der Risikobereitschaft selbst relativ gute Kreditnehmer treffen.
Sollten sich die Kreditnehmer weigern, höhere Raten zu zahlen, und sollte die Inflation niedrig bleiben, werden die Investoren auch nicht mehr hohe Gebühren an ihre Vermögensverwalter entrichten, denn diese können nur noch Einnahmen anbieten, die nahe Null sind. Da die Asset-Management-Gebühren seit kurzem für viele Banken zu den wichtigsten Einnahmequellen geworden sind, hätte dies Auswirkungen auf die gesamte Branche. Und wie sähe die gegensätzliche Entwicklung aus? Falls die Kreditnehmer akzeptieren, dass sie höhere Zinsen zahlen müssen, werden in der Realwirtschaft Spannungen auftreten, da Tausende Unternehmen in der gesamten EU unter dem Gewicht der höheren Schuldendienstkosten zusammenbrechen könnten.
Ein süchtig machendes Medikament
Alles in allem sieht es danach aus, dass die Strategie, die die europäische Politik zurzeit verfolgt, darin besteht, einfach die Daumen zu drücken. Falls nichts passiert, wird die quantitative Lockerung wie ein Placebo wirken, das den Banken die Liquidität bietet, die sie brauchen, um einen plötzlichen Ansturm zu vermeiden. Doch keine der Krankheiten, die die Volkswirtschaften der EU befallen haben, kann damit geheilt werden. Im besten Fall wird die quantitative Lockerung als Schmerzmittel wirken, aber man muss dabei beachten, dass die meisten Volkswirtschaften bereits eine gefährliche Abhängigkeit von diesem Medikament entwickelt haben.
Eine zukünftige ausgeglichene Budgetierung macht hier keinen großen Unterschied. Sie könnte wieder etwas Vertrauen herstellen, doch sie dürfte kaum Europas wirtschaftliche Verwundbarkeit bei auswärtigen Schocks mindern. Letzteres kann aus verschiedenen Richtungen kommen. Der Dollar könnte abgewertet werden, vor allem, falls sich die US-Notenbank gegenüber einer neutralen Geldpolitik verschließt. Ein relativ starker Euro würde am Ende die Branchen bedrohen, die mit Importen konkurrieren. Traditionelle Exportmärkte für EU-Produzenten – vor allem China und andere große Entwicklungsländer – könnten einen Wachstumsstillstand erleiden, was wiederum die Aussichten für einige der führenden europäischen Hersteller verschlechtert.
Die nächsten Monate werden keine Übergangszeit sein. Stattdessen wird eine unbehagliche Ruhe herrschen, falls keine wichtigen Ereignisse eintreten oder eine große Panik ausbricht, wenn etwas schief läuft. Das entscheidende Barometer, das man im Auge behalten muss, ist der Zustand der europäischen Bankenbranche.
Dieser Bericht wurde von Professor Enrico Colombatto verfaßt und wird unseren Mitgliedern mit freundlicher Genehmigung von © Geopolitical Information Service AG, Vaduz zur Verfügung gestellt:
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