Hat Europa die Euro-Krise bewältigt? Der österreichische Währungsexperte Thomas Wieser, Leiter der Arbeitsgruppe Eurogroup des EU-Ministerrats, gab eine verblüffende Antwort: Erstens sei die Krise noch nicht vorbei, und zweitens habe es sich überhaupt nicht um eine Euro-Krise gehandelt. “Die Industrie-Staaten befinden sich in einer Globalisierungskrise, die ihren Ausgang in ihrer fehlenden Anpassung an die Herausforderungen der Konkurrenz durch emerging markets nahm“, sagte Wieser bei einer United-Europe-Diskussion im kleinen Kreis., die am 24. Juni in München stattfand. „In dieser Zeit wurden die Schwellenländer zu einer zunehmenden Konkurrenz für Produktion und Beschäftigung am unteren Ende der Wertschöpfungskette. Netto war die Globalisierung für Europa ein Vorteil, aber die Verteilung war ungleichmäßig.“
Um das starke Absinken der Einkommen am unteren Ende der Skala zu verhindern, hätten die Regierungen der Industrieländer Gegenmaßnahmen ergriffen, sagte Wieser, der zugleich Vorsitzender des Wirtschafts- und Finanzausschusses des EU-Ministerrats ist. Als positives Beispiel nannte der EU-Experte dabei Schweden: Dort habe man sich um die bessere Qualifizierung der Arbeitskräfte bemüht, um zu erreichen, dass möglichst viele hoch oben in der Wertschöpfungskette arbeiten und produzieren könnten. Die meisten Industrieländer hätten dagegen vor allem Symptombekämpfung betrieben, um die sozialen Spannungen zu verringern: die Frühpensionierungen ausgeweitet wie Österreich, den Staatsdienst vergrößert wie Griechenland oder die Lohnnebenkosten und die Steuern auf niedrige Einkünfte ohne Gegenfinanzierung verringert.
Währungsunion beschleunigte Verschuldung
„Dies schien eine ganze Zeitlang zu funktionieren“, sagte Wieser weiter. „Über zwei oder drei Jahrzehnte hinweg wurde die Verflechtung des Welthandels immer enger. In den Industriestaaten ging damit allerdings ein erheblicher Anstieg der Verschuldung einher. Je nach Art der Maßnahmen stiegen die Staatsschulden, die Schulden im Privatsektor oder der leverage im Bankensystem.“
Dies war die ökonomische Basis, auf der 1999 die Währungsunion startete – mit dem Effekt noch höherer Schulden. Denn die Zinskonvergenz in der Euro-Zone habe in manchen Mitgliedstaaten zu einer „Konvergenz-Euphorie“ bei der Kreditaufnahme geführt, sagte Wieser. Durch den Wegfall des Wechselkursrisikos sei außerdem die fiskalische Disziplin geringer geworden; auch der Aufbau von negativen Leistungsbilanzsalden über längere Zeiträume wurde durch den Wegfall des Wechselkursrisikos von den Märkten nicht sanktioniert. Die Konsequenz war eine Überschuldung des Bankensystems in Ländern wie Spanien, wo die Institute die Sparüberschüsse des Nordens in die eigene Volkswirtschaft kanalisiert hatten.
Kein Plan B
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, schloss sich Wiesers Analyse weitgehend an. Er sprach von drei Krisen – einer Staatsschuldenkrise, eine Wirtschaftskrise und eine Bankenkrise. Entgegen der landläufigen Meinung habe die europäische Währungsunion aber diese Krisen nicht verschärft, im Gegenteil. „Der Euro war ein Garant dafür, dass die Krisen nicht noch viel tiefer wurden“, sagte Fratzscher, der zugleich Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin ist.
Fratzscher und Wieser warnten beide sehr nachdrücklich vor der Vorstellung, die Euro-Zone könne durch das Ausscheiden einzelner Länder wie beispielsweise Griechenland stabilisiert werden. Ein einziges solches Ereignis würde ausreichen, um Investoren dauerhaft vor Anlagen in allen denkbar betroffenen Staaten abzuschrecken. Einen „Plan B“ für die Euro-Zone – die Teilung in Nord- und Süd-Zone oder das Ausscheiden von zu tief verschuldeten Ländern – sei daher völlig unmöglich.
Wie schafft man Wachstum?
Die EU-Regierungen gingen einen anderen Weg. Als Konsequenz aus der Krise verabschiedeten sie ein ganzes Paket von Maßnahmen, um für die Zukunft die Fiskaldisziplin und die makroökonomische Überwachung zu verstärken. Auch die Bankenunion soll helfen, eine Wiederkehr der Krise zu verhüten. Dennoch, so Wieser, bleibe das Grundproblem der hohen Verschuldung von Staat, Banken und Privatsektor bestehen. Der Abbau dieser Schulden („deleveraging“) werde das Wachstum weiter dämpfen; in der Euro-Zone liege das Potenzialwachstum unter den derzeitigen Umständen bei höchstens einem Prozent im Jahr. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass Europa das nächste Jahrzehnt in Stagnation verbringt, wenn es nicht gelingt, neue Impulse zu setzen“, sagte Wieser.
Wie können solche Wachstumsimpulse aussehen? Fratzscher und Wieser warnten angesichts des hohen Schuldenstandes vor einer Erhöhung der Staatsausgaben. Erforderlich seien Umschichtungen im Haushalt. Seit Mitte der 90er Jahre habe der Anteil der rückwärtsgewandten und passivierenden Ausgaben stark zugenommen, sagte Wieser. Die öffentlichen Investitionen seien im Durchschnitt von 3,4 auf 1,8 Prozent des BIP gefallen. „Die Struktur unserer Haushalte ist wachstumsfeindlich, und dies müsste durch eine massive Umschichtung bei den Ausgaben korrigiert werden“, sagte der Brüsseler Fachmann. „Wachstum muss durch eine größere Wettbewerbsfähigkeit kommen, durch mehr Dynamik und neue Produkte, nicht durch noch mehr Schulden.“
Entscheidender Moment für die Zukunft Europas
Fratzscher wies auch auf die Reformschwäche der sogenannten Nicht-Programmländer hin – Mitglieder der Euro-Zone, die bisher nicht auf Hilfen in der Euro-Krise angewiesen waren und deren Wirtschafts- und Finanzpolitik deswegen keinen besonderen Auflagen unterliegt. „Wie bringt man ein Nicht-Programmland, das nicht die Pistole am Kopf hat, dazu, Reformen umzusetzen?“, fragte der Berliner Wissenschaftler. Sorgen machten vor allem Italien sowie in einem geringeren Maße Frankreich. Aber auch Deutschland sei wirtschaftlich weit weniger gut für die Zukunft gerüstet als die Öffentlichkeit glaube.
Wachstum, so wurde in der Diskussion im kleinen Kreis deutlich, verlangt wesentlich bessere wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Einen entscheidenden Impuls könnte die neue EU-Kommission setzen, wenn sie rasch und konsequent die Vollendung des Binnenmarkts angeht. Denn in vielen Bereichen, von der Energiepolitik hin bis zur Anerkennung von Berufsabschlüssen, ist der europäische Markt nach wie vor zersplittert.
Das Jahr 2014, so schloss Wieser, sei für die ökonomische Zukunft Europas ein entscheidender Moment: Jetzt würden die Weichen gestellt, ob der Kontinent in eine lange Periode säkularer Stagnation verfalle oder ob ein Durchstarten gelinge.