„Lest den Draghi-Bericht – ich habe noch nie so ein perfektes Drehbuch für die Zukunft Europas gesehen“, sagte Wilhelm Molterer, ehemaliger österreichischer Vizekanzler und Vorstandsvorsitzender von GLOBSEC, bei unserem jüngsten Young Leaders Advocacy Seminar in Wien. Er fuhr fort: „Franz Josef Strauß hat in den 60er Jahren Airbus ins Leben gerufen. Es war die einzige substanzielle europäische Initiative. Das zeigt, wie groß und dramatisch unsere Lücken sind!“
Um Europa zu stärken, müssen wir in vier Dimensionen vorankommen: wirtschaftliche Stärke, militärische Fähigkeiten, globale Ambitionen (z.B. Erweiterung) und innere Stabilität (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie). Diese Bereiche sind miteinander verknüpft und erfordern eine koordinierte Strategie sowie Finanzierung. Der Draghi-Bericht legt einen kraftvollen, multidimensionalen Plan für die wirtschaftliche Zukunft des Kontinents vor. Seine zentrale Botschaft ist klar: Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit sind untrennbar – vorausgesetzt, wir verstehen Nachhaltigkeit nicht als Einschränkung, sondern als Transformation.
Ein Vier-Säulen Ansatz für die europäische Wettbewerbsfähigkeit:
1. Wirtschaftliche Sicherheit: Erreicht durch offene strategische Autonomie – oder besser: strategische Verantwortung – um kritische Abhängigkeiten zu verringern und gleichzeitig offen und engagiert zu bleiben.
2. Globaler Wettbewerb: Europa muss seine Investitionslücke gegenüber den USA und China schließen, die in Schlüsselbereichen wie KI, Technologie und Verteidigung weiterhin die Nase vorn haben.
3. Marktintegration: Zersplitterung bei Planung, Investitionen und Regulierung schwächt den Binnenmarkt. Wahre Wettbewerbsfähigkeit erfordert die Vollendung der Kapitalmarktunion, den Fortschritt bei Energie- und Digitalintegration und den Aufbau eines echten Telekom-Einheitsmarkts.
4. Resilienz: Europa muss seine Fähigkeit stärken, auf Schocks – militärischer, wirtschaftlicher oder ökologischer Natur – zu reagieren, indem es langfristige und kohärente Investitionsstrategien aufbaut.
Schließen der Kapital- und Investitionslücken: Europa benötigt 750- 800 Millilarden €, um die kommenden Investitionslücken zu schließen. Das Fehlen einer echten Kapitalmarktunion, fragmentierte Energiepolitik und ein nicht existierender europäischer Telekom-Markt sind zentrale Engpässe.
Der Binnenmarkt ist der größte Motor wirtschaftlicher Entwicklung, aber sein derzeitiger fragmentierter Zustand untergräbt sein Potenzial. Vorschläge von Enrico Letta beinhalten:
- Eine „fünfte Freiheit„: freie Bewegung von Forschung, Innovation und Wissen
- Eine europäische Infrastrukturstrategie, insbesondere für den Schienenverkehr, um Mitgliedsstaaten besser zu verbinden – allein dafür werden 500 Milliarden € benötigt.
- Öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) in der Verteidigung, unterstützt von Initiativen wie SAFE (150 Milliarden €), die als die Blaupause für die Mobilisierung öffentlicher und privater Mittel dienen.
Überwindung von Haushaltsbeschränkungen: Eine neue europäische Finanzstrategie: Nationale Haushalte sind überlastet, und die übermäßige Abhängigkeit von ihnen hat die Fragmentierung verschärft. Die Mitgliedsstaaten handeln weiterhin nach nationalen Interessen statt nach europäischer Strategie. Der aktuelle EU Haushalt (nur 200 Milliarden €), mit lediglich 2.6 Milliarden € für Verteidigung und 21 Milliarden € für Innovation, ist unzureichend. Lösungen beinhalten:
- Umschichtung von Agrar- oder Kohäsionsmitteln (politisch explosiv)
- Ausbau EU-eigener Finanzierungsinstrumente wie der Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF) und Eurobonds, die sich als glaubwürdig und marktfreundlich erwiesen haben.
- Umstieg auf projektbasierte Finanzierung auf europäischer Ebene, ähnlich dem US Modell, wo Kapitalmärkte Bankkredite ergänzen und zur schnelleren Erholung nach Krisen beigetragen haben.
Mobilisierung des europäischen Privatkapitals: Es mangelt nicht an Kapital. Mit einer Sparquote von 15% und fast 30 Billionen € unter institutioneller Verwaltung liegt die Herausforderung nicht beim Geld, sondern bei seiner Mobilisierung. Viel Kapital liegt außerhalb der EU – in der Schweiz und im Vereinigten Königreich – sowie in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Investoren beklagen mangelnde finanzierbare Projekte und komplexe Regulierung. Eine kombinierte Kapital- und Investitionsunion könnte folgendes freisetzen:
- Erschließung von privatem und institutionellem Eigenkapital
- Erleichterung grenzüberschreitender Kapitalflüsse
- Sicherstellung, dass europäisches Geld in europäische Prioritäten investiert wird
Stärkung europäischer Institutionen:
Institutionen wie die Europäische Investitionsbank (EIB) sind unterschätzt. Mit AAA Rating und Eigentum der Mitgliedstaaten kann sie Milliarden an privaten Investitionen mobilisieren, insbesondere wenn diese durch EU Haushaltsgarantien abgesichert sind. Finanzinstrumente mit solchen Garantien haben sich bereits bewährt: Aus 33 Milliarden € an Garantien wurden 100 Milliarden € an Finanzinstrumenten generiert, was über 500 Milliarden an Investitionen und 400 Milliarden € an privaten Mitteln freisetzte.
Nationale Förderbanken – etwa in Deutschland, Polen oder Ungarn – sollten besser in eine europäische Investitionsstrategie integriert werden. Selbst einfache Schritte, wie der Abbau interner Handelsbarrieren würden ohne zusätzliche Haushaltskosten Effizienzgewinne bringen.
FAZIT
Europa kann es nicht länger leisten, einfach weiter zu machen wie bisher. Die letzten 70 Jahre brachten Frieden und Wohlstand, aber aauch eine gefährliche Naivität. Die Welt wartet nicht länger auf Europa.
Q&A
Wie stehen Sie zur Einführung steuerlicher Erleichterungen – wie etwa Mehrwertsteuerbefreiungen – für kritische Infrastrukturen oder für die Verteidigungsindustrie?
Die zentrale Frage lautet: Inwieweit sollte die EU ihre fiskalischen Regeln lockern? Meiner Meinung nach ist der bessere Weg, die Maastricht-Kriteren gezielt aufzuweichen – insbesondere durch Ausnahmen für Verteidigungsausgaben. Das ist besser als eine Lockerung der Steuervorschriften, die zu einem gefährlichen Unterbietungswettlauf innerhalb der EU führen könnte. Sobald man beginnt, Steuersysteme anzupassen, riskiert man Wettbewerbsverzerrungen zwischen Mitgliedsstaaten – besonders problematisch angesichts der EU Bemühungen für mehr Steuergerechtigkeit, etwa bei der Unternehmensbesteuerung. Gerade die Mehrwertsteuer muss weiterhin der Logik des Binnenmarkts folgen. Auseinanderlaufende verbrauchsbasierte Steuern untergraben die Marktintegration. Daher ist es entscheidend, ein kohärentes, am Binnenmarkt orientiertes Steuersystem aufrechtzuerhalten. Für mich ist die Priorität klar: Flexibilität bei fiskalischen Regeln, aber Harmonisierung beim Steuersystem.
Sie erwähnten Airbus als erfolgreiche europäische Industrieinitiative. Sollte Europa angesichts seiner strengen Wettbewerbsregeln mehr „europäische Champions“ zulassen – auch wenn das Marktdominanz bedeutet?
Die Verteidigung drängt uns zwangsläufig in diese Richtung – vor allem nach dem Weckruf durch Trump. Wir können uns nicht mehr leisten zu zögern. Artikel 42 der NATO Verträge wurde noch nie in einer echten Krise getestet, und wir haben keine praktische Erfahrung in kollektiver Notreaktion. Dennoch müssen wir lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.
Der einzige Fall, in dem Artikel 42 aufgerufen wurden, war nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo – was die Schwäche unserer gemeinsamen Verteidigungsmechanismen verdeutlicht.
Alle Bemühungen um eine europäische Verteidigungsfähigkeit müssen auf gemeinsamen Investitionen, gemeinsamer Beschaffung und vollständiger Interoperabilität basieren.
Eine aktuell diskutierte – wenn auch informelle – Idee ist, dass eine Einigung aller 27 Mitglieldsstaaten unrealistisch ist, solange es keine echte Angleichung gibt. Die Führung muss daher von den „Big Five“ kommen: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen. Diese Länder müssen den Prozess vorantreiben. Eine klare europäische Priorisierung in der Verteidigung ist unerlässlich. Verteidigung wird nicht nur eine Sicherheitsfrage sein – sie wird zum Treiber wirtschaftlicher Transformation.
Viele Schwächen Europas beruhen auf Fragmentierung. Liegt die Lösung in stärkerer Integration – bis hin zu einem föderalen Europa, das mit den USA und China mithalten kann?
Die Europäische Kommission wurde geschwächt, während der Europäische Rat gestärkt wurde – ein konzeptioneller Fehler. Es ist, als würden wir die Zentralregierung schwächen und gleichzeitig die Gouverneure stärken.
Ich stelle mir eine mehrschichtige EU vor. Eine alte Idee – der Europäische Wirtschaftsraum – könnte ein pragmatischer erster Schritt für Länder wie die Ukraine und die westlichen Balkanstaaten sein. Diese Struktur erlaubt eine schrittweise Integration, ohne den Kern der Union zu verwässern.
Dänemark erwägt inzwischen ernsthaft die Einführung des Euro – das zeigt: Wir haben ein gemeinsames Ziel, aber unterschiedliche Geschwindigkeiten. Schengen sollte für alle gelten, aber nicht zwingend gleichzeitig. Entscheidend ist das gemeinsame Ziel: Eine EU – nicht zwei parallele Versionen. Ein Europa mit unterschiedlichen Werteverständnis würde letztlich Kohärenz und Glaubwürdigkeit untergraben.
Herfried Münkler hat über eine multipolare Welt mit fünf Machtzentren gesprochen. Doch wir müssen uns fragen: Gehen wir auf eine wirklich multipolare Welt zu – oder doch nur auf eine bipolare Welt, dominiert von USA und China?
Und vor allem: Hören wir Afrika zu? Viele afrikanische Länder stehen inzwischen zwischen Russland und China. Europa ist oft nicht einmal eingeladen – weder von Washington noch von Peking oder Moskau. Das sollte ein Weckruf sein.
Europas Wettbewerbspolitik blockierte häufig Großfusionen – etwa Siemens und Alstom im Schienenverkehr oder Konsolidierungen im Telekomsektor. Gleichzeitig fordert der Letta-Bericht, mehr große Fusionen zuzulassen. Wie lässt sich das Gleichgewicht zwischen Binnenmarkt-Wettbewerb und globaler Schlagkraft halten?
Das ist der Kern des Problems. Wenn Europa global mithalten will, muss es das Gleichgewicht zwischen internem Wettbewerb und industrieller Stärke finden. Airbus ist ein Paradebeispiel: ein globaler Wettbewerber, ohne dass kleinere Länder Marktvielfalt oder Zugang verlieren. Das zeigt, dass gemeinsame Regeln und ehrgeizige Industriepolitik vereinbar sind. Im Telekom-Sektor hat Europa 29 nationale Anbieter, die USA dagegen nur fünf große. Das Ergebnis: Fragmentierung – und letztlich zahlen Verbraucher und Unternehmen den Preis. Wollen wir das wirklich auf Dauer so akzeptieren?