Nach mehr als fünf Jahrzehnten ist das St. Gallen Symposium in der Schweiz heute die weltweit bedeutendste Plattform für den generationenübergreifenden Dialog. Das 51. St. Gallen Symposium beschäftigte sich mit aktuellen Dilemmata und neuen, wirkungsvollen Modellen der Zusammenarbeit. Wie können wir bei der Bewältigung unserer dringendsten Herausforderungen ein Gleichgewicht zwischen Unabhängigkeit und gegenseitiger Abhängigkeit finden? Und welche Fähigkeiten, Werte und Rahmenbedingungen sind erforderlich, um effektiver zusammenzuarbeiten? Angesichts des Ukraine-Krieges, der Corona-Pandemie, der klimatischen Herausforderung und des demografischen Wandels wird immer deutlicher, dass die westlichen Gesellschaften einen neuen Generationenvertrag entwickeln müssen, um ihre Institutionen nachhaltig und generationengerecht zu gestalten.
United Europe beteiligte sich im Mai 2022 als Ko-Organisator mit der Podiumsdiskussion “A New Generational Contract: Visions for Business, Politics and Society” an diesem zukunftsweisenden Dialog.
Unsere Gäste waren:
- Mamphela Ramphele, Co-Präsidentin, Club of Rome
- Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU
- Claudia Plakolm, österreichische Staatssekretärin für die Jugend
- Moderator: Prof. Christoph Frei, Staatswissenschaftler, Publizist und Titularprofessor an der Universität St. Gallen
Highlights der Podiumsdiskussion:
Prof. Christoph Frei: Frau Dr. Ramphele, wo sehen Sie derzeit die größte Herausforderung im Hinblick auf Generationengerechtigkeit und Fairness?
Mamphela Ramphele: Ich möchte mit einem Zitat eines Club of Rome-Mitglieds, Roman Krznari, beginnen. In seinem Buch “The Good Ancestor” bezeichnet er das, was er die Pathologie der Kurzsichtigkeit nennt, als die größte Bedrohung, die wir der nächsten Generation hinterlassen. Diese Kurzsichtigkeit zeigt sich darin, dass wir zu viel konsumieren und dabei zu wenig Rücksicht auf die nächsten Generationen nehmen. Aber auch, dass Politiker nur auf die nächsten Umfragen schauen und Entscheidungen treffen, von denen sie wissen, dass sie für die nachfolgenden Generationen nicht gut sind. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft. Mit Blick auf den Aktienkurs werden Entscheidungen getroffen, die nicht im Interesse der Zukunft sind.
Die Weisheit vieler indigenen Gesellschaften, die von vielen Zivilisationen auch heute noch gelebt wird, stellt die Verantwortung zwischen den Generationen in den Mittelpunkt ihrer Lebensphilosophie. Vor allem Frauen wird die Bewahrung des Lebens, der Saat anvertraut. Diese Ehrerbietung an das Leben wird von einer Generation an die nächste weitergegeben. Dass die Menschheit jetzt durch vielerlei Katastrophen herausgefordert wird, liegt daran, dass wir diese Weisheit nicht respektieren. Das hat etwas mit unserer Bereitschaft zu tun, unsere Denkweise zu ändern, was durchaus nicht unmöglich ist. Wir alle könnten lernen, wie man auf eine neue Art Mensch sein kann.
Prof. Christoph Frei: Herr Merz, wenn ich die Frage wiederholen darf: Wo sehen Sie derzeit die größte Herausforderung mit Blick auf die Generationengerechtigkeit?
Friedrich Merz: Mein erster Punkt ist, dass wir zurzeit den Beginn einer neuen Weltordnung erleben, denn der Krieg in der Ukraine verändert unser gesamtes politisches Handeln. Dieser Krieg ist mehr als nur ein lokales Ereignis im östlichen Teil von Europa. Er verändert unsere gesamte politische Ordnung. Wir erleben in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine neue globale Machtverteilung. Zwei globale Großmächte stehen bereits fest: Die Vereinigten Staaten von Amerika und China. Die Frage ist: Wo werden die Europäer, die Russen, die Afrikaner und der pazifische Raum am Ende stehen? Der schwächste Akteur in der gegenwärtigen politischen Situation ist Europa, das sich fragen muss, wie es einheitlich und gestärkt aus dieser Situation herauskommen kann.
Ich stimme vollkommen mit dem überein, was Mamphela Ramphele zu Beginn sagte: Wir leiden unter der Pathologie der Kurzsichtigkeit. Wie können wir dieses Problem überwinden? Wenn wir nicht bereit sind, den Verbrauch zu senken und die Ausgaben und Investitionen zu erhöhen, werden wir die Probleme nicht lösen können. Dazu gehören auch unsere Rentensysteme, und ich nenne Ihnen hier eine Zahl: Mehr als ein Viertel unseres Bundeshaushalts in Deutschland wird jedes Jahr für das Rentensystems ausgegeben. Deshalb konzentriere ich mich auf die Ausgaben und den Haushalt, dazu gehören Investitionen in die Infrastruktur und Investitionen in die Bildung. Und daran mangelt es uns hier in Deutschland. Und meine Beobachtung ist, dass es in vielen anderen Teilen der Europäischen Union ähnlich aussieht.
Prof. Christoph Frei: Ich danke Ihnen, Friedrich Merz. Ich darf Ihnen versichern, dass wir in der Schweiz die gleiche Situation haben. Claudia Plakolm, wo sehen Sie die größten Herausforderungen, wenn es um die Frage der Generationengerechtigkeit geht?
Claudia Plakolm: Ich kann nur unterstreichen, was Friedrich Merz gesagt hat. Es ist nicht nur eine Herausforderung in Deutschland oder der Schweiz, sondern auch in Österreich und weiteren Ländern. Die Generationengerechtigkeit stellt viele Regierungen auf der ganzen Welt vor große Herausforderungen. Eines der dringendsten Probleme in unserem Wohlfahrtsstaat ist die Schaffung eines nachhaltigen und gerechten Rentensystems. Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus Österreich geben: Im Jahr 1970 war der durchschnittliche Österreicher acht Jahre in Pension, heute ist der durchschnittliche Österreicher 22 Jahre in Pension. Das bringt viele Herausforderungen mit sich, nicht nur in finanzieller Sicht, sondern das betrifft auch Themen wie die Alterseinsamkeit.
Ein weiterer Aspekt ist, dass die heutige Zeit ein zentrales Narrativ lebt, das seit langem in der Gesellschaft verankert ist: Jede Generation soll es besser haben als die Generation davor. In der Vergangenheit gab es einen impliziten Vertrag und einen Generationenvertrag, der besagte, dass auch zukünftige gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllt werden sollten. Der Klimawandel ist so ein großes Thema sowie unsere öffentlichen Haushalte und der technologische Wandel. Das zeigt uns, dass wir die junge Generation in den Mittelpunkt dieser Diskussion stellen und offener über Generationengerechtigkeit sprechen müssen.
Prof. Christoph Frei: Frau Dr. Ramphele. „Der Krieg in der Ukraine verändert alles”, sagte Friedrich Merz gerade. Ich frage mich, wie das bei Ihnen ankommt. Und um auf das Thema der Generationengerechtigkeit zurückzukommen: Auf dem afrikanischen Kontinent sind die demografischen Verhältnisse ja etwas anders als in Europa. In Nigeria machen junge Menschen den Großteil der Gesellschaft aus. Das Durchschnittsalter liegt derzeit bei 18 Jahren. Das Generationenproblem muss also in afrikanischen Gesellschaften ein anderes sein. Könnten Sie das näher erläutern?
Mamphela Ramphele: Zunächst zum Krieg in der Ukraine: In der afrikanischen Kultur gibt es ein Sprichwort: „Wenn die Elefanten kämpfen, leidet das Gras.” Der Krieg ist eine globale Herausforderung und Afrika kann hier nicht im Abseits stehen. Aber ich möchte auch die Weisheit eines unserer Vorfahren, Desmond Tutu, zitieren: „Es kann keine Neutralität geben, wenn ein Elefant auf dem Schwanz einer Maus steht.” Und so müssen wir den Krieg in der Ukraine als Aufgabe der Menschheit angehen.
Ich komme zur Frage der Demographie zurück. Ja, Afrika ist mit einer der jüngsten Bevölkerungen gesegnet, aber Afrika ist auch mit dem höchsten Durchschnittsalter seiner Führungskräfte verflucht! Eine Diskrepanz, die nicht funktionieren kann und ein Nachbeben der kolonialen Eroberung ist. Wir stehen auf dem afrikanischen Kontinent vor der Herausforderung, dass unsere politischen Spitzen die Weisheit des Generationenwechsels neu erlernen müssen. Die Ältesten werden nicht respektiert, weil sie sprinten können, sondern weil sie zur Seite treten, damit junge Menschen ihre Weisheit und Kreativität einbringen können. Die Weisheit der nächsten Generation wird in jeder neuen herausfordernden Ära benötigt.
Gestern hörten wir die ehemalige Handels- und Industrieministerin von Botswana, Bogolo Kenewendo, eine der jüngsten Politikerinnen ihres Landes. Sie hat Botswanas Registrierungsverfahren von 49 Tagen auf weniger als 7 Tage verkürzt. Und warum? Sie hat keine Angst vor Veränderungen, keine Angst davor, das Unerforschte zu erkunden. Auch haben wir gestern den Schweizer Bundespräsidenten Ignazio Cassis gehört, der die jungen Leute aufforderte: „Wartet nicht darauf, dass meine Generation etwas tut, um eure Zukunft zu gestalten. Ihr seid die Macher des Wandels! Ihr seid diejenigen, die den Moment ergreifen müssen. Jede Generation muss ihre Mission finden.” Mein Appell an die jungen Menschen in diesem Saal und anderswo auf der Welt, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, ist es, zu wiederholen, was Präsident Cassis sagte: „Wir brauchen eine Revolution!” Eine Revolution unserer Mentalität und Denkweise.
Prof. Christoph Frei: Wo fangen wir an, unsere Mentalitäten zu ändern? Wie gehen wir vor, um Denkweisen zu revolutionieren?
Mamphela Ramphele: Das Schöne an der Mentalitätsänderung ist, dass wir keine Schule brauchen. Es geht darum, Gespräche in sicheren Räumen zu führen, wo immer man ist. Es beginnt damit, dass man sich selbst herausfordert. Wir vom Club of Rome schlagen vor, dass der einzige Weg, wie wir aus diesen multiplen Krisen herauskommen können, darin besteht, dass wir bereit sind, wieder zu lernen, lebenslang zu lernen. Diese Gespräche sollten in jeder Gemeinschaft, in jedem Unternehmen, in jeder Regierung, in jedem Kabinett und in jedem Parlament stattfinden. Dabei sollten wir uns immer fragen: Ist dies wirklich eine gute Entscheidung, wenn wir an die zukünftigen Generationen denken?
Prof. Christoph Frei: Kommen wir zu Ihnen zurück, Friedrich Merz, und zu weiteren Themen, auf die Sie aufmerksam machen, wie die Haushaltsverantwortung und die finanzielle Nachhaltigkeit. Für Sie hat die Frage der Generationengerechtigkeit viel damit zu tun, wie viel wir verdienen und wie viel wir ausgeben. Bleiben Sie dabei?
Friedrich Merz: Ja, ich bleibe dabei. Aber das ist keine Austeritätspolitik! Das ist aus meiner Sicht Haushaltsdisziplin, um genügend Spielraum für Investitionen und Bildung zu haben. Deshalb mein Plädoyer, dass wir uns wieder auf das besinnen sollten, was uns in der Vergangenheit geholfen hat und was uns in Zukunft helfen wird. Sie haben vielleicht gehört, dass unser Bundeskanzler das Wort „Zeitenwende” kreiert hat. Aber was bedeutet das, wenn wir das ernst nehmen? „Zeitenwende” bedeutet, dass wir fast alle unserer Prioritäten ändern müssen. Und das ist mein Punkt. Neue Prioritäten zu setzen bedeutet, dass wir Dinge, Ideen oder Projekte planen, die sehr wichtig sind wie die Verteidigung, aber auch Bildung, Infrastruktur und Investitionen. Dahinter aber stehen der Konsum und die Subventionierung unseres Rentensystems. Es geht hier nicht um Austerität, sondern um Haushaltsdisziplin, um genügend Spielraum für Ausgaben und neue Prioritäten zu schaffen. Dies ist keine Austeritätspolitik! Das ist das genaue Gegenteil davon! Es ist die Politik, die es uns erst ermöglicht, zu investieren. Und das ist es, was wir in den meisten europäischen Mitgliedsstaaten tun müssen, einschließlich Deutschland, Österreich und weiterer Staaten.
Prof. Christoph Frei: Claudia, was könnte getan werden, um den Dialog zwischen den Generationen zu fördern?
Claudia Plakolm: Wir haben ein großes Problem, das demographische Element. Wir stehen vor der großen Herausforderung, der jungen Generation bei der Entscheidungsfindung eine Stimme zu geben. In Österreich sind wir eine Art Vorreiter, da wir vor 15 Jahren das Wahlrecht ab 16 Jahren eingeführt haben. Wir sind eines von zwei europäischen Ländern, das andere ist Malta. Das hat große Auswirkungen auf die Politik, denn die Politiker konzentrieren sich jetzt mehr auf die junge Generation. Wir berücksichtigen bei der Gesetzgebung jetzt auch die Auswirkungen auf die junge Generation. Welche Auswirkungen hat ein spezielles Gesetz für Kinder und Jugendliche in Bezug auf Finanzfragen oder Umweltfragen? Wir sollten die Generationen nicht auseinanderdividieren, wir sollten zusammenarbeiten.
Prof. Christoph Frei: Friedrich Merz: Würden wir mit Ihnen als politischen Führer eine Senkung des Wahlrechts auf 16 Jahre erleben?
Friedrich Merz: Dies ist Teil des politischen Programms der deutschen Regierung und wird in einem größeren Rahmen verhandelt, da unser Wahlsystem grundlegend geändert werden muss. Der Verfassungsgerichtshof drängt uns, unser Wahlsystem mehr oder weniger vollständig zu reformieren. Das ist der Grund, warum ich Ihnen hier noch keine Antwort geben kann. Ich hoffe sehr, dass wir noch in diesem Jahr dazu in der Lage sein werden.
Wir danken den Organisatoren des St. Gallen Forums und unseren Podiumsteilnehmern für die spannende und lebhafte Diskussion.
Die vollständige Aufzeichnung unserer Podiumsdiskussion und weiterer Beiträge finden Sie hier. (Ab Minute 01:18:10)