Wir sagen “Nie wieder”, gedenken wir des Zweiten Weltkriegs.
Wir versprechen uns selbst und den künftigen Generationen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Wir wollen den europäischen Frieden wahren und unbedingt verhindern, dass der Krieg einen Konflikt auslöst, der die ganze Welt verschlingen würde.
Und doch haben wir versagt.
Es herrscht Krieg in Europa, und er wird so schnell nicht aufhören. Am 24. Februar 2022 startete Russland die groß angelegte Invasion in der Ukraine. Innerhalb von zwei Monaten töteten die Russen Zehntausende von Ukrainern, verübten Massaker, die der Definition eines Völkermords entsprechen und zwangen mehr als 10 Millionen Ukrainer zur Flucht aus ihrer Heimat. Die Hälfte der ukrainischen Kinder wurde vertrieben.
Aber der Krieg hat nicht am 24. Februar begonnen. Er begann im Jahr 2014, als Russland die Krim annektierte und den Donbas, den östlichen Teil der Ukraine, besetzte.
Der Krieg hat den Charakter eines Völkermordes. Niemand wird hier als Gewinner rausgehen. Russland kann die Ukraine nicht ohne große Verluste erobern. Die Ukraine kann Russland nicht besiegen, ohne enorme Opfer zu beklagen. Und der Rest Europas kann nicht so tun, als sei alles wie immer. Die Zahlen zeigen es. Nach dem 24. Februar hat die EU die Ukraine mit rund einer Milliarde Euro unterstützt. Dieses Geld ist für humanitäre und militärische Hilfe bestimmt. Im gleichen Zeitraum hat Russland fast 40 Milliarden Euro von der EU erhalten. Das ist die Bezahlung für russisches Öl, Gas und Kohle. Das ist europäisches Geld, das den Krieg finanziert.
Die EU befindet sich in einer schwierigen Lage, seit Russland die groß angelegte Invasion gestartet hat. Einerseits hat sie der Ukraine ihre volle Unterstützung zugesagt. Sie hat Sanktionen angekündigt und Russland auch verurteilt.
Auf der anderen Seite kauft die EU weiterhin russische Energie und versorgt den Kreml mit Geld für den Krieg. Für ein Energie-Embargo gibt es keine Mehrheit. Einige der großen russischen Banken sind nicht von den Sanktionen betroffen. Und es gibt eine ständige Debatte darüber, ob der Ukraine schwere Waffen geliefert werden sollen oder nicht. Europa ist hier bereits gespalten.
Zum einen gibt es europäische Länder, die auf ein vollständiges Energie-Embargo drängen. Dabei handelt es sich vor allem um Osteuropäer, die die Ukraine unterstützen und wegen der anhaltenden russischen Aggression Alarm schlagen.
Dann haben wir eine Reihe von westeuropäischen Ländern, die unterschiedlich reagieren. Einige sind wegen der wirtschaftlichen Kosten nicht bereit, auf russische Energie zu verzichten. Einige würden es lieber früher als später tun, warten aber auf eine gesamteuropäische Entscheidung. Und einige wollen Putin nicht noch mehr provozieren. Offenbar ist ein Massaker an ukrainischen Zivilisten kein ausreichendes Argument, um die Einstellung der Finanzierung des Kremls durchzusetzen.
Die Position Deutschlands ist hier besonders interessant. Einerseits ist es ein Land, dessen Führung die Ukraine rhetorisch unterstützt hat und das sich als Verbündeter der Ukraine versteht. Auf der anderen Seite spricht die deutsche Energiepolitik eine andere Sprache. Deutschland lehnt die Kernenergie ab, steigt schrittweise aus der Kohlenutzung aus und erhöht seine Versorgung mit erneuerbaren Energien. Der größte Teil der Energie – über 70 % – stammt nach wie vor aus Öl, Gas und Kohle. Russland ist die Hauptquelle für diese drei Energieträger.
Nachdem Russland 2014 die Krim annektiert und Teile des Donbass besetzt hat, unterstützte die deutsche Regierung trotzdem Nord Stream 2. Und das, obwohl es in diesen letzten acht Jahren – wie auch der Rest der EU – viel Zeit hatte, sich mit der Bedrohung durch die Abhängigkeit von russischer Energie auseinanderzusetzen. In dieser Zeit hätten die europäischen Demokratien ihre Energiequellen diversifizieren können, ohne sich auf ein Land verlassen zu müssen, das von einem rücksichtslosen Diktator regiert wird. Das ist nicht geschehen.
Jetzt diskutieren die EU-Länder über ein Energie-Embargo gegen Russland. Ein Schritt, der schon längst hätte passieren können, hätten die Europäer auf die zahlreichen Warnungen der Ukraine und anderer osteuropäischer Länder gehört, die in der Vergangenheit direkt von der russischen Aggression betroffen waren.
Die deutsche Regierung hat wiederholt die Lieferung schwerer Waffen abgelehnt, hat Nord Stream 2 unterstützt und Russland jahrelang beschwichtigt. Sie hat auch das Energie-Embargo als eine der wichtigsten Sanktionen gegen Russland abgelehnt. Würde die deutsche Regierung ein Energie-Embargo vorantreiben, würden die Debatte in Europa anders verlaufen.
Die Europäer könnten bis Ende 2022 aufhören, russisches Öl (nicht Gas!) zu kaufen. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass das Geld, das Europa jetzt zahlt, und noch mindestens bis Dezember zahlen wird, dazu dient, Russlands Krieg zu unterstützen. Und je schneller Deutschland und die anderen sich weigern, den Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung zu finanzieren, desto besser wäre es für Europa als Ganzes.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Putin und seine Unterstützer so lange kämpfen werden, wie sie können. Und sie werden den Krieg weiterhin führen können, wenn europäisches Geld ihn finanziert.
Für die russische Energie gibt es Alternativen. Studien zeigen, dass es sechs bis neun Monate dauern könnte, russisches Öl volständig zu ersetzen. Gas mag schwieriger sein, aber es ist realistisch und machbar, LNG-Terminals aufzubauen. Dazu kommen die erneuerbaren Energien, deren Potenzial seit Jahren in Europa diskutiert wird, aber das noch nicht ausgeschöpft ist.
Die Entscheidung, keine russische Energie mehr zu kaufen, ist eine politische Entscheidung. Wir sprechen hier über Milliarden von Euro, die die deutschen Unternehmen wegen des Ausfalls von Nord Stream 2 nicht verdienen werden. Wir sprechen von der Notwendigkeit, sich anzupassen, möglicherweise die Preise zu erhöhen und die Wähler mit hohen Preisen zu konfrontieren. Dazu kommt eine starke Wirtschaftslobby, die es nicht erwarten kann, zu einem normalen Handel mit Russland zurückzukehren.
Und wir sprechen auch über die kontinuierliche Finanzierung des russischen Krieges. Wir sprechen über einen Völkermord, der sich live abspielt, über niedergebrannte Städte, gefolterte Zivilisten und Tausende, wenn nicht Zehntausende Tote. Wir sprechen von einem geteilten Europa, in dem die Demokratien kein Problem damit haben, einen Diktator zu finanzieren.
Europa hatte Jahre Zeit, sich von der russischen Energieabhängigkeit zu befreien. Es hat es nicht getan. Aber es kann – und muss jetzt handeln – wenn es zu den Werten steht, die es vertritt.
Vor zwei Monaten ist Russland in die Ukraine einmarschiert. Wir haben gesehen, was die Russen in Butscha, Hostomel, Irpin, Borodyanka und anderen Orten angerichtet haben. Wir sehen die Bilder des zerstörten Mariupol. Die Ukrainer kämpfen weiter. Sie verteidigen ihr Land und somit auch Europa. Wir bitten nur darum, dass der Rest Europas das Töten von Ukrainern nicht finanziert.
Anna Romandash, Ukraine, Advocate bei United Europe