Zweiter Teil eines Interviews von Anna Penninger, Young Professional Advisor bei United Europe, mit Pascal Nufer, einem ehemaligen Auslandskorrespondenten für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in China.
AP: „ Der chinesische Traum, der kommt auch in Ihrem Buch vor. Vollbeschäftigung, Wohlstand ist ja in unseren Breiten und in Asien sehr anziehend. Der American Dream wurde wahrscheinlich vor 50-70 Jahren durch den Zweiten Weltkrieg legitimiert durch eine unabhängige freie Macht Amerika und den wirtschaftlichen Wohlstand, den Amerika dargestellt hat. Das mag skurril sein, aber können Sie sich vorstellen, dass wir den chinesischen Traum annehmen? Und was passiert mit den benachbarten Ländern um China herum?”
PN: „Nun, lassen Sie mich den Advocatus Diaboli spielen: Seit Beginn der Corona-Pandemie und der Berichterstattung darüber, beobachte ich Äußerungen auf Plattformen wie Twitter. Ich wundere mich, dass der Ruf nach Strenge und Autorität so laut ist – aber diese «Sehnsucht» der Menschen nach Kontrolle nicht zu Ende gedacht wird. Ich meine, dass China ein autoritäres System ist. Ausgerechnet aus der Schweiz kommt der Ruf nach mehr Autorität aus gewissen Kreisen, aus dem Land mit einer urdemokratischen Struktur. Das müsste man eigentlich untersuchen, warum genau in unserem Raum Kurzschlussaussagen getroffen werden, die diesem chinesischen Traum entsprechen. Der chinesische Traum, eine starke Führung sorgt für alle, bewältigt Krisen, dachte ich, fällt vielleicht in zentralasiatischen Ländern auf fruchtbaren Boden oder in Afrika. Man lässt sich schnell hinreissen zu der Aussage: «Ach, China, dieses System hat doch nichts mit uns zu tun.» Allerdings, so scheint es, gibt es auch in unseren Breitengraden einige Personen, die sich durchaus offen für autoritäre Systeme zeigen. Ich glaube deshalt, das System China zwingt uns gewissermassen dazu, einen Wertedialog zu führen. Der chinesische Traum mag diffus sein und sich verändern – eigentlich ist er auch nebulös definiert – aber er ist ein Gegenentwurf für einen Großteil der Welt. Ob wir die Inhalte hinterfragen, das so leben – das ist eine andere Frage. China tritt auf mit einfachen Formeln. Die «helping hand» kommt mit der Belt and Road Initiative, wird ausgestreckt und kann für Reichtum sorgen auf der Seite eines Partners. Dieser Ideologie wird damit entsprochen. 1989 hat sich eine Gruppierung mit ihrer Abwanderung als lebender Beweis gesehen, dass man im Kommunismus nicht reich werden kann. Jetzt, auch in der Regierungszeit von Donald Trump konnte China gewissermassen zeigen, dass die Werte auch in westlichen Ländern mit Füßen getreten werden. Das ist natürlich günstig für ihre Narrative und ihr System. Myanmar ist ein Beispiel für ein Land, das sich nun am Scheideweg befindet, zwischen Ost und West als Wackelkandidat. Aber der Demokratisierungsprozess stellt sich ungleich anstrengender und langwieriger dar, als ein autoritäres System, das man übers Land stülpt.”
AP: „Anstrengend ist das eine – aber die Konditionierung ist in China eine andere…”
PN: „Ich bin kein Soziologe, aber ich würde sagen, die Konditionierung ist da gegeben, wo das autoritäre System als Grundlage über Generationen hinweg in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dann wird Demokratisierung sehr diffizil. Um nochmal auf das Beispiel zurückzukommen. Ich habe Myanmar auch früher schon beobachtet, auch während die «Öffnung» in Südostasien stattgefunden hat. Die iterative Aufstandsbewegung gegen das autoritäre System war durchaus vorhanden. Aber – das demokratische Denken wird nicht von der breiten Masse gestützt. Erneut kommt es zu autoritären Tendenzen, was sicher mit der Konditionierung von vorher zu tun hat. Das Gegenbeispiel könnte Taiwan sein, auch Südkorea. Für die erfolgreiche Etablierung der demokratischen Strukturen muss man den wirtschaftlichen Beweis in Form von Wohlstandserhöhung erbringen können. Die untersten Besitzlosen, die «NoHaves», deren Situation sollte sich verbessern. Das hat in Myanmar nicht geklappt, da sind eben diese «NoHaves» genau auf ihrer Stufe geblieben, die gleichen Klüngelstrukturen haben sich bereichert und als einige der wenigen von der Veränderung profitiert. Dieser Trigger muss aber funktionieren. Die breite Akzeptanz gegenüber dem politischen System hat in China auch nur geklappt, weil sich innerhalb einer Generation diese Chance auf Reichtum ergeben hat. Die einen sagen, es hat trotz der Regierung funktioniert, die anderen sagen, es hat wegen der Regierung funktioniert. Fakt ist einfach: Es ist jetzt in der Regierungsperiode passiert, die diversen Schlussfolgerungen lassen sich nun nicht zu einer einzigen, eindeutigen kausalen Beziehung verknüpfen.”
AP: „Es ist gewissermassen ein Live-Experiment, ich glaube das lässt sich so sagen. Und daher ist es sogar von China aus schwer zu beurteilen, an was es wirklich liegt. Die Unsicherheitstoleranz in China scheint generell höher zu sein als in Zentraleuropa.”
PN: „Natürlich, da stimme ich zu. Jede Generation seit der Volksrepublik hat ein vollkommen anderes China erlebt. Die vier Generationen haben eine Kulturrevolution erlebt, andere den wirtschaftlichen Aufschwung. Ich hatte ursprünglich geplant, eine Dokumentation zu diesen Generationen-Realitäten aufzuziehen. Eine essentielle Frage, die ich Teilnehmern in der Dokumentation gestellt hätte, lautete: Was sind die zentralen Themen ihrer Jugend und Kindheit? Dadurch wird der Kontrast der Generationen offensichtlich. Die Antworten auf solche Fragen bleiben größtenteils gleich in Europa, sie variieren allerdings enorm in China. Dort ist die Unsicherheitstoleranz hoch, weil man gewohnt ist, dass nichts so bleibt wie es war. Damit gehen Chinesen ungleich besser um als wir in Europa. Wenn Sie und ich nach chinesischem Gesetz arbeiten müssen, wenn jemand uns fragen würde, einen Businessplan für China zu schreiben – das wäre aller Wahrscheinlichkeit nach haarsträubend für alle Europäer. Da schleicht sich schnell das Gefühl ein, immer an der Grenze der Illegalität zu stehen, denn wir sind das Gegenteil gewohnt. In China ist das Normalität, man lernt früh, damit zu leben. Die daraus entstehende Erfahrung fördert eine Stehaufmännchen-Mentalität. Bei der reichen sich – interessanterweise – ausgerechnet der amerikanische und chinesische Traum die Hand. Das führt dazu, dass auch nach einer Pleite schnell wieder Investoren gefunden werden. Wenn du eine gute Idee verkaufen kannst, fließt das Geld wieder. Chinesische Investoren sind sowieso schnell. Der Nachteil ist allerdings, dass wir Chinesen nicht festlegen können und das führt wiederum in Europa zu Unmut: Es ist schwer, auf einen Vertrag zu verweisen oder auf gewisse IP-Rechte. Die chinesische Antwort lautet nämlich häufig: «Wir wissen schon, dass der Vertrag unterzeichnet wurde. Aber sehen Sie, die Situation hat sich geändert.» Diese Reaktion muss man mit einrechnen, auch wenn es für uns schwierig ist. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass diese Anpassung an Veränderung nicht böswillig ist, auch überlisten gilt als legitim. In China ist das eine Tugend, es zeigt, dass man schlauer ist als sein Gegenüber.”
AP: „Europa wirkt träge, das kommt in der Berichterstattung heutzutage überhaupt nicht vor. Europa als bürokratischer und schwerfälliger Apparat, der fast altertümlichen Gesetzen folgt – in einer VUCA Welt. Bei Handelsdeals wird trotz aller Bürokratie viel möglich, wenn es drauf ankommt. Wir verstecken uns teilweise hinter den Werten, und manchmal vertrete ich die Hypothese, dass sich Europa einfach nicht anpassen will. Das Mercator-Institut schlägt eine wertebasierte Verhandlung vor, als Beispiel. Das klingt vernünftig, aber auch illusorisch – denn die Währung Werte zählt ja so nicht überall…”
PN: „Naja, hier ist auch Europa nicht ganz unbelastet. Da kommt durch die Aufarbeitung der Nachkriegszeit schon die Frage auf, wer hat mit wem kollaboriert – und damit welches Wertesystem unterstützt. Taten zählen schon mehr als Worte, aber die Wertehaltung dürfen wir keinesfalls von Anfang an verwerfen. Meiner Beobachtung zufolge hat China auch ein Problem. Denn in der chinesischen Gesellschaft fehlt ein Wertefundament, und mit ihm fehlt das Vertrauen ins Gegenüber. Immer damit rechnen zu müssen, dass man verraten wird, dass einem jemand in den Rücken fällt, ob das nun ein Mitglied der Familie oder ein Nachbar ist, das ist wahrlich Gift für eine Gesellschaft. Die Religion eignet sich nicht mehr als Werkzeug. In dem Wertevakuum lautet die Devise der Regierung nun: lasst uns bessere Bürger schaffen – mit Überwachungssystemen, Social Rating und künstlicher Intelligenz. Der Bürger soll animiert werden, Verantwortung zu übernehmen und selbstkontrolliert zu handeln, und da wird nachgeholfen – damit Bürger sich an Verkehrsregeln halten, Müll entsorgt wird, und nicht auf der Straße landet und so weiter. Die letzte Generation fühlte sich im Gegensatz zur heutigen noch als Teil des Ganzen, da war das nicht nötig – die hat da anders gehandelt. Die zentrale Frage in der heutigen Zeit lautet somit: Wie können wir den Bürger verantwortlich machen für die Realisierung der Wertevorstellung? Ob das geschäftlich dann wirklich zählt oder relevant wird, das ist nochmal ein ganz anderes Thema. Meine Antwort war jetzt vielleicht etwas ausführlich.”
AP: “Das darf sein. Aber mit der Antwort ist auch quasi meine nächste Frage – welche Studie wir zusammen initiieren würden – bereits beantwortet: Diese Generationen-übergreifende Studie zu China wäre ein äusserst interessantes Projekt.”
PN: “Richtig. Das müsste man eigentlich schnell machen, denn die älteste Generation lebt nicht mehr lange…”
Pascal Nufer hat mehrere Jahre als Auslandskorrespondent für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in China gelebt und gearbeitet. Nach seiner Rückkehr hat er einige seiner Erlebnisse in dem Buch „Faszination China – Mythen, Macht und Menschen” veröffentlicht. Er ist weiterhin für das SRF tätig, und hat sich bereit erklärt, einige seiner Erfahrungen während seiner Chinazeit mit uns zu teilen und in einem Interview für United Europe einzuordnen.