Die Ausbreitung der Corona-Krise über ganz Europa hat mich an ein Zitat unbekannter Herkunft erinnert: „Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts geschieht; und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte geschehen.“
Als die Pandemie ausbrach und die ersten Lockdowns verkündet wurden, wirkte das auf die fortschreitende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wie ein Beschleuniger. Ein historischer Prozess wurde auf diese Art und Weise im Eiltempo vorangetrieben, und was sowieso unvermeidbar war, geschieht jetzt nach einem beschleunigten Zeitplan.
In der EU kann man aus Sicht der „Internet Governance“ und des Datenschutzes jedoch einen besorgniserregenden Trend beobachten, der eines genaueren Blickes bedarf. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie stellte ein wachsender Chor von Stimmen in Medien und auf den Social-Media-Kanälen im Hinblick auf eine effektive Gesundheitsversorgung die Gewährleistung des im Grundgesetz verankerten Schutzes der Privatsphäre in Frage. Besonders im März, als die Fallzahlen in Europa explodierten und die Infektions-Kurve in China offenbar erfolgreich zurückgegangen war, gab es angesichts der akuten Krise eine auffallende Zurückhaltung bei der Verteidigung der Unantastbarkeit des Datenschutzes.
Glücklicherweise liegt in Europa die Messlatte sehr hoch, wenn es darum geht, in Ausnahmezeiten bestimmte Rechte im Bereich der öffentlichen Gesundheit einzuschränken. Es gibt weitreichende Bestimmungen in den EU-Verträgen, in der Datenschutz-Grundverordnung und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, die nachdrücklich die Idee verteidigen, dass Daten Einzelpersonen gehören – und nicht ihren Regierungen. Akzeptable Ausnahmen von diesen Schutzbestimmungen müssen immer streng vorgeschrieben, zeitlich begrenzt und verhältnismäßig sein.
Dennoch pflegten die Regierungen angesichts der sich explosiv entwickelnden Situation einen permissiveren Ansatz als sonst bei der Datenerhebung und -verarbeitung. Die europäische Zusammenarbeit mit Mobilfunkbetreibern zur Überwachung der Einhaltung sozialer Distanzierungsmaßnahmen auf aggregierter Basis und andere Formen des Datenaustauschs zwischen Regierungen wurden zur Norm. In einigen politischen Kreisen gab es zunächst eine Debatte darüber, ob Tracking-Apps verpflichtend sein müssten, um sich abzeichnende Infektionszyklen zu unterbrechen.
Vorteile und Gefahren dieser Maßnahmen könnten ganze Bände füllen und würden sicherlich eine viel längere Analyse erfordern, als es dieser Text erlaubt. Doch es gibt zwingende Gründe dafür, dass die Messlatte für Einschränkungen des Datenschutzes weiterhin extrem hoch bleiben muss.
Erstens: In einer Welt der aufkommenden Digitalisierung spiegelt die Aussetzung des Rechts auf Datenschutz im Interesse der öffentlichen Gesundheit oft das „Gesetz des Instruments“, auch als „Maslows Hammer“ benannt, wider. Das bedeutet, dass Menschen, die an ein spezielles Werkzeug gewöhnt sind, es auch dann benutzen, wenn ein anderes Instrument besser geeignet wäre.
Entscheidungsträger, die in der Lage sind, die Geolokalisierungsdaten von Millionen von Bürgern zu verfolgen, könnten annehmen, dass jedes Problem durch die Verwendung dieser Daten gelöst werden könnte. Die eingeschränkte Nutzung von Daten, die rechtmäßig den Bürgern gehören, könnte durch die Regierung schnell auf andere, nicht verwandte Bereiche ausgeweitet werden.
Zweitens könnte, sobald Präzedenzfälle für eine – wenn auch nur vorübergehende – Ausweitung der Regierungsbefugnisse geschaffen wurden, die Tür für weitere Formen der Überwachung geöffnet werden. Dies ist eine Lektion, die die Vereinigten Staaten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gelernt haben, wie uns die Verfechter der bürgerlichen Freiheiten in Erinnerung rufen. In liberalen Gesellschaften, in denen das Recht auf Privatsphäre kulturell tief verwurzelt ist, sind Veränderungen, die den Datenschutz bedrohen, eher schleichend als plötzlich zu erwarten.
Der dritte und meiner Meinung nach einer der wichtigsten Gründe, die Messlatte besonders hoch zu legen, ist folgender: Für Regierungen, die Zugang zu den persönlichen Daten ihrer Bürger haben, könnten Überwachung und Zwang die politische Überzeugungskraft und demokratische Debatten ablösen. Demokratische Regierungen überzeugen; autokratische Regierungen setzen sich durch. Liberale Politiker und Regulierungsbehörden, die Zugang zu den Daten ihrer Bürger haben, könnten versucht sein, sich auf die Einhaltung der Vorschriften mit Zwang anstatt durch Debatte und Dialog zu konzentrieren.
Es liegt auf der Hand, dass unter außergewöhnlichen Umständen Kompromisse erforderlich sind, um das kollektive Wohlergehen zu gewährleisten. Aber die Hürden für Kompromisse in Bezug auf die Unantastbarkeit des Datenschutzes sind – und sollten es auch bleiben – extrem hoch.
Stephan Bürklin ist Chief of Staff des European Managing Partner der Brunswick Group, München. Er hat an unserem Online-Seminar für Young Professionals zum Thema „Governing the Internet and Opening the Data: What is Europe’s digital future?” am 26. Juni und 3. Juli teilgenommen.