Vor dem Hintergrund des 70. Jahrestags der Schuman-Erklärung veröffentlichen wir eine Reihe über die Zukunft der EU. Unsere Young Professionals Advisors reflektieren den gegenwärtigen Zustand der EU und schlagen Wege zur Überwindung der Krise vor.
EU-INTEGRATION
Die aktuelle COVID-19-Pandemiekrise hat den Integrationsprozess der EU massiv behindert und die bestehenden Spannungen innerhalb der Union in den Vordergrund gerückt. Dennoch hat die Union diese Länder weiterhin im Fokus, und die Krise bietet eine Gelegenheit, die Kompetenzen der EU zu erweitern und den Integrationsprozess mit den Kandidatenländern zu verstärken.
Verlangsamte Integrationspläne: der Lackmustest für den Westbalkan
Die EU kann auf eine starke Integrationsleistung zurückblicken; dennoch hat COVID-19 erneut die entscheidenden Herausforderungen in Bezug auf Demokratie, Wirtschaft und Sicherheit in ihren Mitgliedsstaaten aufgezeigt. Für europäische Länder, die noch nicht Mitglied der EU sind (z.B. der Westbalkan), ist die aktuelle Situation entscheidend geworden. Die fragilen Demokratien und Volkswirtschaften dieser Länder müssen zusehen, wie sich der wichtige „Leuchtturm der Demokratie” seit dem Ausbruch der Pandemie nach innen wendet. Die Mitgliedsstaaten kämpfen mit steigender Arbeitslosigkeit, überlasteten Gesundheitssystemen und fragilen Finanzreserven. Das führt zu Debatten zwischen den EU-Mitgliedern, wie sie ihre internen EU-Beziehungen nach dem Abklingen der Pandemie gestalten sollen. Angesichts der gegenwärtigen Situation bezweifeln wir, dass bestimmte Länder (insbesondere Italien, Griechenland und Spanien) in der Lage sind, ihre Wirtschaft wieder anzukurbeln und ihre Schulden ohne koordinierte Unterstützung zu finanzieren. Dies erklärt zum Teil, warum der Vorschlag für die Corona-Anleihen so umstritten war. Vor diesem Hintergrund ist die Frage der EU-Erweiterung von entscheidender Bedeutung: Wird die EU trotz der immensen Herausforderungen, die durch COVID-19 noch verstärkt werden, weiterhin auf die Erweiterung und wichtige Reformen in den Ländern drängen, die eine Mitgliedschaft anstreben?
Während die Aufmerksamkeit der EU in Bezug auf die Erweiterung nachlässt, zögern die Staats- und Regierungschefs der westlichen Balkanstaaten bei ihren Fortschritten auf dem Weg zur Demokratisierung (z.B. die Verlangsamung der albanischen Justiz- und Wahlreformen). Alternative Verbündete, die sich eher wenig um demokratische Reformen kümmern, sind bereit, die Lücke zu füllen. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic erklärte kürzlich, dass „europäische Solidarität nicht existiert”, und fügte hinzu: „Serbien wendet seine Augen nun nach China.“ (1) Während Vucic den Mangel an europäischer Solidarität kritisierte, äußerte er sich nicht zu der Entscheidung der Europäischen Kommission, 374 Millionen Euro für den ökonomischen Aufschwung und 38 Millionen Euro Soforthilfe für die Region bereitzustellen, um den Gesundheitsnotstand zu bekämpfen.Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, bemerkte, dass „es komisch ist, dass Serbien ausschließlich China seine Dankbarkeit erwies.”
Der anfängliche Ausschluss der Westbalkanländer aus dem Ausfuhrgenehmigungssystem für Schutzausrüstungen wurde zu einer Zeit, als ein starkes Signal der EU am dringendsten benötigt wurde, als ein Imstichlassen empfunden, da sie die Pandemie mit ihren begrenzten Mitteln allein bewältigen mussten. Einige Länder in der Region reagierten auf ihren Ausschluss, indem sie Kooperationen ihrer Gesundheitssysteme initiierten, was auf die Bereitschaft hindeutet, sich auch an Integrationsprojekten zu beteiligen, die nicht von der EU geleitet werden.
Wir müssen betonen, dass die derzeitige Politik der vorübergehenden Lösungen, wie sie im vorigen Absatz erwähnt wurden, unzureichend ist und dass ein ernsthaftes Engagement auf dem Westbalkan so bald wie möglich wieder aufgenommen werden muss. Eine stärkere EU-Präsenz in der Region wird die Manöver ausländischer Akteure ausgleichen und bisherige Errungenschaften sichern. Dazu gehören die gelockerten EU-Reisebeschränkungen für die Bürger der Region, eine stärkere wirtschaftliche Integration und klare Wege für legale Beschäftigung innerhalb der EU für die Bürger des Westbalkans. Obwohl Frankreich im vergangenen Jahr sein Veto gegen weitere Fortschritte im Beitrittsprozess für Albanien und Nordmazedonien eingelegt hat, billigte der Europäische Rat eine neue Erweiterungsmethodik (der Grund für das Veto Frankreichs im November), die es der Kommission ermöglicht, mit einem Plan für die weitere Integration der Region fortzufahren. Das Engagement der EU auf dem Westbalkan sollte nicht nur eine diplomatische Schönwetterübung sein. Die Solidarität mit der Region in einer Notsituation muss integraler Bestandteil eines jeden Aktionsplans der Union sein und darf nicht ein nachträglicher, durch geopolitische Überlegungen hervorgerufener Gedanke sein.
Während einer kürzlich abgehaltenen Videokonferenz mit den Young Professional Advisors wies Günther Oettinger, Präsident von United Europe, darauf hin, dass die Länder des Westbalkans zusammen etwa 20 Millionen Menschen haben, nicht viel mehr als Ostdeutschland zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung und nicht viel mehr als Rumänien, als es 2007 neben Bulgarien der EU beitrat. Alle Staaten des Westbalkans haben eine große Diaspora in die EU-Mitgliedsstaaten, sind gut vernetzt und tauschen Informationen aus. Wenn die Westbalkanstaaten ihr Bekenntnis zu Reformen, die den Beitrittsprozess beschleunigen, bekräftigen, und wenn die EU-Institutionen ihr Engagement sowohl durch größere finanzielle Unterstützung, aber auch durch eine bessere Überwachung und Bewertung der Situation in der Region verstärken, wird das Endergebnis für alle positiv sein.
Wir plädieren für ein direktes Engagement, eine engmaschige Überwachung der in den Westbalkanländern durchgeführten EU-Programme und die Einbeziehung dieser Länder in wichtige Entscheidungen auf EU-Ebene mit gesamteuropäischer Wirkung.
EU-Hilfe für Länder der Östlichen Partnerschaft in der aktuellen Krise
Im gegenwärtigen Kontext stellt die EU sechs Ländern der Östlichen Partnerschaft finanzielle und andere Hilfe zur Verfügung. 140 Millionen Euro gingen seitens der EU-Kommission in die Deckung des unmittelbaren Bedarfs in Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und der Ukraine (3). Darüber hinaus wird die Kommission den Einsatz bestehender Instrumente im Wert von bis zu 700 Millionen Euro neu ausrichten, um die sozioökonomischen Auswirkungen der Krise abzuschwächen. Diese konkrete Hilfe in Notsituationen muss klar herausgestellt werden, um deutlich zu machen, woher die wirkliche Unterstützung für die Region kommt. Die Gewährleistung der wirtschaftlichen Stabilität der Östlichen Partnerschaft dient nicht nur als Akt der Solidarität, sondern ermöglicht es, den Prozess des Engagements und der Integration mit der EU fortzusetzen. Dadurch erhöht sich die Möglichkeit, dass die EU und ihre Nachbarstaaten einen wirtschaftlich zusammenhängenden Raum bilden, der die Grundlage für eine verstärkte Zusammenarbeit in anderen Bereichen in der Zukunft schaffen kann.
Medizinische Maßnahmen und künftige Reaktionsmechanismen
Die Europäische Kommission stellt in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 30 Millionen Euro zur Verfügung, um sicherzustellen, dass in den kommenden Wochen medizinische Hilfsgüter gekauft und nutzbringend an die Gesundheitssysteme der westlichen Balkanländer verteilt werden. Darüber hinaus wird die Ausbildung von Ärzten und Laborpersonal durch die nationalen Gesundheitsverwaltungen gefördert und aufklärende Informationskampagnen für die Bevölkerung unterstützt. Dies zeigt, dass die Kommission weit davon entfernt ist, isoliert zu handeln und eigene Richtlinien durchzusetzen (was der EU oft vorgeworfen wird). Im Gegenteil, die EU ist dazu bereit, mit anderen wichtigen Institutionen zusammenzuarbeiten, um auf Krisensituationen zu reagieren und dabei auch selbst von einer verstärkten Interaktion mit diesen Institutionen profitiert kann. Mit Blick auf die Zukunft beweist dies, dass die EU-Institutionen am besten in einer internationalen Arena funktionieren, in der Abkommen zwischen supranationalen Organisationen die wichtigsten Triebkräfte der internationalen Zusammenarbeit sind und nicht etwa die Abkommen zwischen einzelnen Staaten.
Die Kommission hat zudem über 11,3 Millionen Euro in Form kleinerer Zuschüsse für Organisationen der Zivilgesellschaft zur Verfügung gestellt. Diese Mittel dienen der Deckung des unmittelbaren Bedarfs im Rahmen des laufenden regionalen „Krisenreaktionsmechanismus”, wie z.B. der Unterstützung von Schulen mit Fernunterricht. Bis zum Sommer wird die Kommission als Teil dieses Pakets das „Solidaritätsprogramm im Rahmen der Östlichen Partnerschaft” auf den Weg bringen. Das Solidaritätsprogramm richtet sich an die am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen und zwar durch gezielte Unterstützung der Zivilgesellschaft und Zuschüsse an kleinere, lokale Organisationen.
Wir plädieren dafür, dass die gemeinsamen medizinischen RescEU-Vorräte (2), die zur Bekämpfung der Pandemie angelegt wurden, dauerhaft angelegt werden. Hier sollten die Mitgliedstaaten regelmäßig Mittel, Ausrüstung und ständiges Personal beisteuern. Die EU reagierte nur langsam auf COVID-19, da die Gesundheitsversorgung in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Eine „europäische Reaktion” war materiell nicht möglich und hing von den Initiativen der einzelnen Mitgliedstaaten ab. Die Beibehaltung dieses zentralisierten Vorrats und Pools von Notfallpersonal als ständige Einrichtung wäre von großem Vorteil. Im Falle künftiger Gesundheitskatastrophen mit länderübergreifendem Charakter oder bei besonders schweren Gesundheitskrisen in einem Mitgliedstaat kann dadurch in Zukunft eine rasche Reaktion ermöglicht und ein Wettlauf um rare Ressourcen vermieden werden.
Die sozioökonomischen Auswirkungen: Schadensminderung und Prävention für die Zukunft
Die Kommission arbeitet eng mit den Internationalen Finanzinstitutionen (IFI) und den einschlägigen Finanzierungsinstitutionen der EU-Mitgliedstaaten zusammen und bietet eine koordinierte europäische Antwort für die Realwirtschaft. Dazu gehört der Start eines neuen Unterstützungsprogramms in Höhe von 100 Millionen Euro. Es soll kleinen und mittleren Unternehmen, Selbstständigen und anderen helfen, einen Zugang zu Krediten zu erhalten und ihre Unternehmen nach der Krise anzukurbeln. Es dient unter anderem durch die EU4Business-Initiative auch der Erleichterung, Vereinfachung, Beschleunigung und Stärkung der bestehenden Kreditlinien und Zuschüsse im Wert von 200 Millionen Euro für kleine und mittlere Unternehmen in der Landeswährung. Darüber hinaus hat die EU ihr wichtigstes De-Risking-Instrument, den Europäischen Fonds für nachhaltige Entwicklung (EFSD), mit einem Gesamtvolumen von 1,55 Milliarden Euro mobilisiert, wobei 500 Millionen Euro für die Nachbarländer der EU zur Verfügung stehen. Dadurch wird in der Nachbarschaft rasch Liquidität bereitgestellt, unter anderem durch Betriebskapital, Handelsfinanzierung oder Moratorien für den Schuldendienst.
Diese Unterstützung erfolgt zusätzlich zu den laufenden Finanzhilfen für Partner, darunter Georgien, Moldawien und die Ukraine. Dies ist zwar sehr zu begrüßen, sollte aber nur der Anfang eines größeren Vorstoßes zur Integration dieser Länder in den europäischen wirtschaftlichen und politischen Raum sein. Wenn diese Länder ernsthaft beginnen, sich anderswo (z.B. in China) nach Wirtschaftsbeziehungen und anderen Formen der Zusammenarbeit umzusehen, dann liegt das zum Teil daran, dass die EU es versäumt hat, ein beträchtliches Engagement für den Integrationsprozess dieser Länder zu zeigen – sei es in Bezug auf die Förderung von Investitionen, das Angebot für den Personen- und Warenverkehr, die Bereitstellung von Ressourcen für die Überwachung politischer Reformprozesse und den Transfer von Fachwissen und institutionelle Kapazitäten. Die EU muss ihr Versprechen einlösen und zeigen, dass die Östliche Partnerschaft von großer Bedeutung ist und nicht nur ein peripherer regionaler Block, der nur dann anerkannt wird, wenn eine Krise in diesen Regionen ernsthafte Auswirkungen auf die EU-Mitgliedstaaten haben könnte.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Trotz der manchmal angespannten Beziehungen zwischen Menschen, Regierungspolitikern, Staaten und Institutionen hat die Pandemie einen Moment des Nachdenkens geboten. Auch wenn sie die stattfindenden Integrationsprozesse unterbrochen haben mag, hat sie uns doch auch gezwungen, die Frage zu stellen: „Waren die bestehenden Integrationsprozesse angemessen und ausreichend?“ Seien es nun der Westbalkan, die Östliche Partnerschaft oder die bestehenden Kooperationsmechanismen zwischen den Mitgliedsstaaten: Die Antwort wird immer klarer: Die EU muss noch mehr tun!
Die manchmal feindselige Haltung gegenüber der erweiterten europäischen Nachbarschaft, das Fehlen zentralisierter Notfallmechanismen und nachhaltiger Finanzierungsabkommen für gefährdete Staaten gehören zu den Themen, die die EU-Führung bisher vermieden hatte. Doch nun wird sie von der Pandemie dazu gezwungen, all diese Probleme auf einmal anzugehen.
Die Pandemie bietet die große Chance mit neuem Elan die Ziele der EU zu verfolgen und bessere Vorkehrungen auszuarbeiten, um auf diese Ziele hinzuarbeiten.
Unsere Position von United Europe ist eindeutig: Die Staats- und Regierungschefs der EU müssen aus früheren Fehlern lernen, nach vorne schauen und diese Ziele als Priorität betrachten. Der Preis von Zeit, finanziellen Ressourcen und Anstrengungen mag hoch sein, aber die Folgen von Untätigkeit werden deutlich höher ausfallen.
Quellen:
[1] http://europa.rs/eu-assistance-to-serbia/?lang=en
[2] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_476
[3] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_20_562
Autoren: Albert Guasch, Kalina Trendafilova, Dyria Alloussi, Raiko Puustusma, Dinand Drankier, Justinas Lingevicius, Mihkel Kaevats, Felix Klein, Karl Luis Neumann, Silja Raunio, Anna Penninger, Armando Guçe, Mihály Szabó, Andranik Hovhannisyan, Luca Contrino, Raphael Kohler, Jens-Daniel Florian, Elif Dilmen, Eshgin Tanriverdi, Robert Grecu, Visar Xhambazi.
Über die YPAs: Wir sind eine Gruppe von 36 United Europe Alumni aus 20 Ländern. Wir verstehen uns als eine Task Force für United Europe e.V., das junge Führungskräfte aus verschiedenen Regionen Europas fördert. Wir vertreten unterschiedliche, junge europäische Stimmen zu den drängendsten Fragen der EU. Unser Ziel ist es, das Vertrauen der Jugend und der Bürger Europas in das europäische Projekt wiederherzustellen. Wir sind ein Netzwerk, das den beruflichen Austausch zwischen jungen Europäern fördert und Impulse für eine europäischere Denkweise gibt. Wir fördern die Pluralität und wollen neue Ideen für eine intelligente Analyse der EU-Politik entwickeln.
DISCLAIMER: Dieser Artikel ist das Werk mehrerer Autoren, die unter dem Dach von United Europe’s Young Professional Advisors arbeiten. Es handelt sich um eine auf Fakten basierende Produktion, die die persönlichen Ansichten ihrer Mitarbeiter repräsentiert. Dieser Artikel repräsentiert in keiner Weise die Ansichten der Europäischen Kommission, der europäischen Institutionen oder einer nationalen oder subnationalen Regierung.