„Die europäische liberale Gesellschaft steht auf dem Spiel“, schreibt Dr. Rolf Martin Schmitz, CEO RWE AG, in seinem Essay zu unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde: „Nur eine vereinte und starke EU kann eine sichere Zukunft für ihre Wirtschaft garantieren.“
Mein Herz schlägt für die Europäische Union. Sie war und ist die richtige Antwort auf Krieg und Zerstörung. Dass die meisten Europäer 74 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Frieden und Wohlstand für selbstverständlich erachten, ist ihre größte Errungenschaft. Was für mich ebenso bedeutend ist: Die EU ist auch und vor allem die richtige Antwort auf die in der Zukunft liegenden Herausforderungen.
Am besten gelingt Europa immer dort, wo es viele Überschneidungen gibt, wo Menschen gemeinsam agieren oder eng zusammenarbeiten. Bei RWE, dem Unternehmen, das ich führe, ist das gut zu beobachten. RWE ist bislang vor allem in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden aktiv. Für die Zeit ab 2020 – wenn wir das Geschäft mit den erneuerbaren Energien von E.ON und innogy unter unserem Dach vereinen – ist das eine gute Basis, um mit internationalen Partnern in anderen Teilen der Welt noch stärker Handel zu treiben. Mir ist davor nicht bange. Im Gegenteil: Unsere internationalen Teams arbeiten hervorragend zusammen. Unterschiede müssen nicht trennen – sie können sich sehr gut ergänzen. Daraus entsteht weit mehr als gute Arbeit: Menschen interessieren sich füreinander, sie lernen sich kennen und schätzen. Das schafft Gemeinsamkeit, Respekt und Verständnis für manch länderspezifische Besonderheit. Das geht oft weit über das Berufliche hinaus. Und es ist ein gutes Mittel gegen Intoleranz.
Genau das ist der europäische Gedanke: Miteinander statt Gegeneinander, Respekt statt Abneigung. Für dieses freie, weltoffene und geeinte Europa trete ich ein. Wir alle, die ihre Stimme für Europa erheben können, sind jetzt gefordert. Schwarzmaler und Populisten haben derzeit Konjunktur. Sie bekämpfen das gemeinsame Bewusstsein für Europa und predigen nationale Abschottung. Leider in Teilen erfolgreich. Der Brexit zeigt, wie schnell sich Mehrheiten gegen den europäischen Gedanken bilden können. Er ist das unübersehbare Symptom des wiederkehrenden nationalen Denkens. Es verändert unsere Welt in eine falsche Richtung.
Ein Beispiel zeigt das sehr deutlich: Wer über Handelskriege liest, blickt wieder in Tageszeitungen statt in Geschichtsbücher. Das erschreckt mich, weil unser Modell der liberalen Gesellschaft und des freien Handels auf dem Spiel steht. Deutschland ist auf sich allein gestellt zu klein, um unsere Sicht auf Recht und Freiheit gegen China, die USA oder Russland zu behaupten. Das gelingt nur im europäischen Verbund, wenn 500 Millionen Europäer zusammenstehen. Dafür garantiert einzig die Europäische Union. Sie zu stärken ist oberste Pflicht.
Natürlich hat die EU auch ihre Schwächen – keine Frage. Auch mir ist sie oft zu behäbig und bürokratisch. Manch eine Regelung schießt über das Ziel hinaus, und nicht alle auf EU-Ebene gefundenen Kompromisse lösen bei mir spontane Begeisterung aus. Und dennoch: Für mich ist die EU das beste System, das ich mir für Europa vorstellen kann. Wo wir sie verbessern können, sollten wir das tun – verantwortungsvoll und von innen heraus.
Wo immer es möglich und sinnvoll ist, muss Europa weiter zusammenwachsen. Potenzial ist ausreichend vorhanden. Energie ist hierfür ein gutes Beispiel. Wir hätten viele Möglichkeiten, die Stromversorgung noch viel enger europäisch zu vernetzen. Sicher, bezahlbar und mit möglichst wenig CO2. Von einem solchen Verbundnetz ist Europa noch ein ganzes Stück entfernt. Beim Energiemix denken die meisten EU-Staaten leider immer noch eher national. Frankreich setzt weiter auf Kernkraft, Polen baut auf Kohle, und Deutschland richtet seinen Fokus vor allem auf die Erneuerbaren. Auch unser Leitungsnetz orientiert sich meist noch an nationalen Grenzen. Wo es ein gut eingespieltes Orchester geben sollte, sind unabgestimmte Soli an der Tagesordnung. Dass das dissonant statt harmonisch, teuer statt effizient ist, liegt auf der Hand.
Dabei würde gerade der Energiewirtschaft eine viel stärkere europäische Ausrichtung guttun. Über 50 große Verbände sowie Energieunternehmen aus ganz Europa haben deshalb bereits die „Vision of the European Electricity Industry“ unterzeichnet. Sie bekennen sich darin im Lichte des Pariser Klimaabkommens zum Ziel einer wettbewerbsfähigen, verlässlichen und bis zur Mitte des Jahrhunderts weitgehend CO2-neutralen europäischen Energieversorgung. Das ist ein guter Anfang, der für die Politik Ansporn sein sollte, die europäische Einigung auch im Energiesektor weiter voranzutreiben.
Mit dem Europäischen Emissionshandel, kurz ETS, ist grenzüberschreitend schon ein Leuchtturm gesetzt worden. Das System ist einfach – und gut: Wer in Europa zur Stromerzeugung CO2 ausstößt, muss dafür Zertifikate erwerben. Diese sind begrenzt, und jedes Jahr kommen weniger auf den Markt. Das führt automatisch dazu, dass die Energiewirtschaft immer weniger Treibhausgase ausstößt und die Emissionen in den Sektoren, die unter den Emissionshandel fallen, bis zum Jahr 2050 um ca. 87 Prozent zurückgehen werden. Den Preis für die Zertifikate regelt dabei der Markt, so dass durchgängig Anreize für innovative Lösungen gesetzt werden. Ein System für alle Mitgliedsländer der europäischen Union.
Um weniger Zertifikate erwerben zu müssen, ist der Einfallsreichtum der Unternehmen gefragt. Im Jahr 2017 haben allein bei RWE 550 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlicher Herkunft an über 320 Forschungs- und Entwicklungsprojekten gearbeitet. 76 Erfindungen wurden zum Patent angemeldet. Von der Stromerzeugung bis zur modernen Speichertechnik erforschen sie so ziemlich alles, was im Energiesektor denkbar ist. Aus Ideen entstehen Pilotanlagen – und am Ende international wettbewerbsfähige Spitzentechnologien.
So arbeiten Unternehmen wie RWE an Technologien, überschüssigen Windstrom in Gas umzuwandeln und zu speichern, um es zum Beispiel später wetterunabhängig wieder verstromen zu können. Zusammen mit anderen Unternehmen hat RWE auch ein Verfahren zur CO2-Abtrennung entscheidend weiterentwickelt. Hierdurch werden 30 Prozent weniger Energie benötigt, als das bei bisherigen Technologien der Fall war, um hochreines Kohlendioxid aus Rauchgas abzutrennen. Besonders bedeutsam, weil u. a. das UN-Klimabüro die CO2-Abscheidung für eine weltweite Klimaneutralität als wichtigen Baustein ansieht. Dabei kann das abgetrennte Kohlendioxid als Rohstoff in der chemischen Industrie verwendet oder gespeichert werden. Klima, Verbraucher und Energiewirtschaft profitieren so am Ende gleichermaßen.
Viele Menschen außerhalb der Mitgliedstaaten beneiden uns um die Europäische Union. Wegen ihrer wirtschaftlichen Stärke, der Rechtssicherheit, der sozialen Standards und auch wegen der Fähigkeit, Kompromisse zu schließen; auch wenn das, zugegeben, manchmal sehr mühsam und zäh wirken kann. Ich wünsche mir, dass eine zusätzliche Komponente hinzukommt: Europa muss wieder Technologieführer in Zukunftsmärkten werden. Besonders im Zuge der Digitalisierung hat Europa gegenüber Mitbewerbern aus Fernost und Amerika Federn gelassen. Das ist problematisch, weil die europäischen Unternehmen in einem globalen Wettbewerb stehen. Entschlossen und geschlossen für Forschung und Entwicklung – diese Haltung sollte daher innerhalb der EU einen neuen, einen höheren Stellenwert bekommen. Warum? Für mich sind drei Gründe entscheidend:
Erstens: So entsteht der technologische Vorsprung, den wir für unsere Produkte auf den globalen Märkten brauchen. Innovative und zukunftsfähige, global wettbewerbsfähige Unternehmen sind für unseren Wohlstand unabdingbar.
Zweitens: Aus Technologieführerschaft wächst Wirtschaftskraft. Eine starke europäische Wirtschaft ist die Basis, freien und offenen Welthandel unter fairen Bedingungen zu betreiben. Ein starkes und geeintes Europa kann Mindeststandards bei der Herstellung von Gütern für den europäischen Markt oder Arbeitnehmerrechte in den Produktionsländern durchsetzen. Ein schwaches Europa wird hier scheitern.
Drittens: Eine nachhaltige Fokussierung der EU auf Forschung und Entwicklung stabilisiert und stärkt die EU im Innern. Vor allem junge Europäer im Süden Europas sind heute von Arbeitslosigkeit betroffen. Forschung, Entwicklung und die damit verbundenen Investitionen können dazu beitragen, dass hieraus Zukunftsprodukte, neue Arbeitsplätze und Wohlstand entstehen – statt Hoffnungslosigkeit.
Mut und Zuversicht stünden so (endlich) wieder im Vordergrund europäischer Debatten. Selbstvertrauen und die Freude auf Zukunft wären die Folgen des Aufschwungs. Es würde dem Geist Europas guttun, neben den großen praktischen Vorzügen wie einheitliche Währung und Reisen ohne Grenzen eine wirtschaftliche Dimension hinzuzubekommen.
Ob es so kommt, haben wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union selbst in der Hand. Natürlich werde ich daher bei der Wahl zum Europäischen Parlament mein Kreuz machen. Weil ich als Bürger zu Europa, zur EU stehe. Und weil ich möchte, dass unsere Kinder und Enkel auf einem geeinten Kontinent groß werden. Deshalb wähle ich die Zukunft – und die ist proeuropäisch.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Dr. Rolf Martin Schmitz:
Dr. Rolf Martin Schmitz, geboren 1957 in Mönchengladbach, studierte an der RWTH Aachen Ingenieurswissenschaften. Nach seiner Promotion zum Dr.-Ing. im Jahr 1985 arbeitete er bei der Steag AG und der VEBA AG. Von 1998 bis 2001 war Dr. Rolf Martin Schmitz als Mitglied des Vorstands für die rhenag Rheinische Energie AG tätig. Es folgten Vorstandstätigkeiten für die Thüga AG und die Übernahme des Postens als Vorsitzender der Geschäftsführung der E:ON Kraftwerke GmbH. 2006 wechselte Schmitz zur RheinEnergie AG und wurde dort Vorsitzender des Vorstandes. Seit 2009 arbeitet Dr. Rolf Martin Schmitz für die RWE AG. Dort übernahm er verschiedene Aufgaben, zunächst als Chief Operating Officer, ab 2010 als Vorstand Operative Steuerung und ab 2012 als stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Seit Oktober 2016 ist Dr. Rolf Martin Schmitz Vorstandsvorsitzender der RWE AG.