Eisenbahnen sind ein gutes Vorbild für die Idee der EU, sagt Deutsche-Bahn-Chef Dr. Richard Lutz. Und nennt acht Punkte, auf die es dabei ankommt.
Tausende junger Menschen machen sich dieser Tage auf, um mit dem Zug Europa zu entdecken. Die EU stellt knapp 15.000 18-Jährigen ein Interrail-Ticket zur Verfügung, mit dem sie 30 Tage lang kreuz und quer über den Kontinent reisen können. Kaum eine Initiative zeigt aus meiner Sicht besser auf, wie die Schiene Europa verbindet. Mobilität und Logistik sind die Lebensadern unserer Gesellschaft. Sie sind wesentliche Voraussetzungen für die Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger am gesellschaftlichen Leben, für umweltfreundlichen Verkehr in Zeiten des Klimawandels und für nationales und globales Wirtschaftswachstum. Deutschland ist das Herzstück der Transeuropäischen Verkehrsnetze. Sechs europäische Schienenverkehrskorridore verlaufen durch die Republik.
Wer im Jahr 2001 geboren ist, kennt es nicht anders: Offene Grenzen und gut ausgebaute Verkehrsverbindungen ermöglichen freies Reisen sowie den beständigen Austausch von Waren und Dienstleistungen. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigen uns der Brexit und zunehmende nationalistische Tendenzen in einzelnen Mitgliedsländern.
Gerade in Zeiten, in denen Protektionismus, Abschottung und Angst vor dem Fremden propagiert wird, braucht es dringender denn je den Blick auf das Verbindende. Deshalb ist es mir eine Herzensangelegenheit zu sagen, was uns als Deutsche Bahn ausmacht. Wir stehen für ein Europa ohne Grenzen. Wir stehen für Vielfalt. Wir stehen für Toleranz. Wir stehen für internationale Arbeitsteilung und einen grenzüberschreitenden Warenaustausch. Allein in Deutschland arbeiten Kolleginnen und Kollegen aus über 100 Ländern für unser Unternehmen. Weltweit sind über 330.000 Menschen in mehr als 130 Ländern für die Deutsche Bahn tätig. Auch unsere Kunden kommen aus allen Teilen der Welt. Wir als Deutsche Bahn verbinden Menschen. Kurzum, engstirniger Nationalismus oder gar Fremdenfeindlichkeit sind das Gegenteil unserer Werte.
Wir sind ein Unternehmen mit starker europäischer Ausrichtung. Von Deutschland aus sind rund 150 Städte in Europa direkt mit dem Fernverkehr erreichbar. Täglich nutzen mehr als 40.000 Fahrgäste die rund 240 Verbindungen, von denen 50 Prozent mit dem ICE und weiteren Hochgeschwindigkeitszügen befahren werden. Im Schienengüterverkehr betreiben wir ein internationales Netzwerk und sind in 17 europäischen Ländern aktiv. Über 60 Prozent unseres Schienengüterverkehrs geht über mindestens eine Landesgrenze und reicht zum Teil weit über Europa hinaus.
Die Schiene ist damit ein starkes Rückgrat für Europa, die europäischen Eisenbahnen ein gutes Vorbild für die dahinterstehende Idee: nicht nur gute nachbarschaftliche Beziehungen, sondern gemeinsames Agieren auf europäische Ebene, um das Zusammenwachsen von Menschen und Wirtschaft zu unterstützen. Anhand von acht konkreten Punkten möchte ich darlegen, welche europäischen Rahmenbedingungen wir für eine erfolgreiche Zukunft als unerlässlich erachten.
1. Binnenmarkt:
Als Mobilitätsdienstleiter erfüllen wir die Grundidee des Binnenmarkts täglich mit praktischem Leben. Wir haben ein vitales Interesse daran, dass der Binnenmarkt – auf der Säule der vier Grundfreiheiten – reibungslos funktioniert.
Eine Kernaufgabe der EU ist es dabei, fairen Marktzugang mit gleichen Spielregeln für alle in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen und noch bestehende bürokratische oder technische Marktzugangsbarrieren zu beseitigen. Von früheren nationalen Eisenbahnsystemen sind immer noch zu viele uneinheitliche Standards geblieben, von der Signaltechnik bis hin zur Betriebssprache auf Grenzstrecken, die im Sinne eines europäischen Eisenbahnraums harmonisiert werden sollten.
2. Faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern:
Wirtschaftliche Rahmenbedingungen für Investitionen und Wachstum sollten positiv gestaltet werden. Dies bedeutet, den europäischen Unternehmen in ihrem jeweiligen Markt die gleichen Chancen zu bieten.
Die Schiene steckt jedoch nach wie vor in einer paradoxen Situation: Im Schienenverkehr steigen die Kosten bei sinkenden Preisen und Margen, während die Straße insgesamt günstiger unterwegs ist. Hier ist schnelles Handeln gefragt, denn der motorisierte Individualverkehr stößt an seine Grenzen. Daher brauchen wir faire Wettbewerbsbedingungen, um die umweltfreundliche Schiene zu stärken.
3. EU-Infrastrukturfinanzierung:
Der Ausbau der Transeuropäischen Netze ist eine Kernaufgabe der EU, bei der die Anstrengungen von Bund, Ländern, EU und Eisenbahninfrastrukturbetreibern nahtlos ineinandergreifen. Eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist das Rückgrat der Wettbewerbsfähigkeit Europas, ohne die das zukünftige Verkehrswachstum nicht zu bewältigen ist.
Aktuell wird in Brüssel der neue Vorschlag der Kommission zur Finanzierung der Infrastruktur diskutiert. Darin ist ein Volumen von 42 Mrd. € für den Ausbau der Transeuropäischen Netze in den Bereichen Verkehr, Energie und Digitales vorgesehen. Dies sind gute Neuigkeiten für die europäische Verkehrswelt, denn jeder Euro, der in grenzüberschreitende Infrastruktur investiert wird, lässt Europa und seine Menschen enger zusammenwachsen, und trägt zu Wachstum und Beschäftigung bei.
4. Digitalisierung:
Die Schiene muss die Chancen der Digitalisierung mit ganzer Kraft nutzen, um den Kunden ein zeitgemäßes Verkehrsangebot machen zu können. Europäische Initiativen sind dabei in verschiedenen Bereichen enorm wichtig. So hat die EU mit dem digitalen Zugleit- und Sicherungssystem ETCS (European Train Control System) einen entscheidenden Baustein für ein einheitliches europäisches Eisenbahnnetz geschaffen. Sie sollte sich weiter für einen zeitnahen und harmonisierten Ausbau in allen Mitgliedstaaten einsetzen.
Deutschland verfolgt mit dem Programm „Digitale Schiene Deutschland“ einen konsequenten technologischen Modernisierungskurs. Durch den Einsatz von ETCS und die Digitalisierung des gesamten Systems werden wir die Kapazität auf dem Netz um bis zum 20 Prozent erhöhen. So werden zukünftig mehr Züge fahren, gleichzeitig wird die Zuverlässigkeit des Verkehrs steigen und das Netz wird europäischer.
5. Klimaschutz:
Die EU hat sich durch das Pariser Klimaschutzabkommen ehrgeizige Ziele zur Reduktion der CO2-Emissionen gesetzt. Dabei stellt insbesondere der Verkehrsbereich eine Herausforderung dar. Wir sind überzeugt, dass eine nachhaltige Verbesserung der Emissionen nur über eine Stärkung der grünen Schiene möglich ist, denn Bahnfahren ist Klimaschutz.
Schon heute leistet die Deutsche Bahn durch ihre eigenen Anstrengungen einen ganz unmittelbaren Beitrag zu den Klimaschutzzielen der EU. Bis zum Jahr 2030 wollen wir unsere spezifischen CO2-Emissionen über alle weltweiten Verkehre im Vergleich zu 2006 halbieren. Bis 2050 wollen wir klimaneutral aufgestellt sein. Dafür setzen wir konsequent auf den Einsatz erneuerbarer Energien, auf Energieeffizienz sowie auf Modernisierung, beispielsweise mit der Hybridisierung der Diesel-Flotte, der genannten Ausrüstung von Netz und Fahrzeugen mit ETCS oder mit der Entwicklung und Implementierung alternativer Antriebe.
6. Soziale Säule:
Die EU hat mit der Europäischen Säule sozialer Rechte wichtige Standards gesetzt. Die Deutsche Bahn trägt als einer der größten Arbeitgeber Deutschlands eine hohe soziale Verantwortung für die Beschäftigten. Dies betrifft neben den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen wichtige andere Bereiche wie Ausbildung, Mitarbeiterzufriedenheit, Arbeitgeberattraktivität und digitale Kompetenzen. Auch in diesem Themenbereich bestehen große inhaltliche Überschneidungen mit den Zielen der EU.
7. Sicherheit:
Die Sicherheit der Bürger ist eines der Kernelemente der EU-Politik, da in unserer international verflochtenen Welt kein Land alleine wirksamen Schutz gewährleisten kann. Hier gilt es, die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden weiter zu stärken und einheitliche Standards zu schaffen, auch wenn die Rahmenbedingungen von Land zu Land unterschiedlich sein mögen. Die offenen Grenzen und das offene System Schiene sind wesentlich, um die Menschen zu verbinden und sollten so wenig wie möglich eingeschränkt werden.
8. Globale Stellung der EU:
Die EU sollte ihre Interessen im globalen Maßstab aktiv vertreten, in Punkten wie Marktzugang, faire Handelsbeziehungen oder Investitionsschutz und Rechtssicherheit in Drittstaaten. Denn die Schienenverbindungen reichen weit über Europa hinaus. Auch die Deutsche Bahn ist außerhalb Europas in zahlreichen Ländern und in unterschiedlichen Märkten aktiv.
Fazit: Die genannten europäischen Rahmenbedingungen und Initiativen sind von zentraler Bedeutung für den Verkehrsträger Schiene. Sie ermöglichen es, dass die Eisenbahn ihrer wichtigen Rolle für die Menschen und die Wirtschaft in Europa auch in Zukunft gerecht werden kann.
Die angesprochenen Punkte zeigen am Beispiel der Schiene auf, dass wir in Europa gerade heute in vielen Bereichen die Bereitschaft zu mehr Integration benötigen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch den Mut haben, nationale und regionale Lösungen dort zuzulassen, wo sie vor Ort besser gefunden werden können. Ein Europa, das sich kontinuierlich weiterentwickelt, sich aber auch hinterfragt, wird aus den Herausforderungen der heutigen Zeit gestärkt hervorgehen.
Der Artikel ist Teil der Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“. Sie erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Dr. Richard Lutz:
Richard Lutz wurde am 6. Mai 1964 als Sohn einer Eisenbahnerfamilie geboren. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre arbeitete er zunächst als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Kaiserslautern, wo er 1998 promovierte.
Seit 1994 ist Richard Lutz bei der Deutschen Bahn AG tätig. In den folgenden Jahren übte er verschiedene führende Positionen sowie strategische Projektleitungen im Vorstandsressort Finanzen / Controlling aus.
2003 folgte die Leitung des Bereichs Konzerncontrolling. Im April 2010 wurde Richard Lutz zum Vorstand Finanzen und Controlling berufen. Diese Position verantwortete er bis Ende 2018.
Richard Lutz ist seit März 2017 Vorsitzender des Vorstands der DB AG. Sein besonderes Augenmerk liegt auf der Transformation der DB, die er gemeinsam mit seinem Vorstandsteam konzernweit vorantreibt. Das Ziel ist ebenso klar wie ehrgeizig: Die Deutsche Bahn in all ihren Facetten und mit all ihren Vorzügen und Chancen erfolgreich in die Zukunft zu führen.
Lutz ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.