„Um einen vollständig integrierten Binnenmarkt zu schaffen, der weitere Vorteile aus der Finanzintegration zieht, muss nun der Schwerpunkt daraufgelegt werden, die verbleibenden Hindernisse zu beseitigen“, schreibt Prof. Jörg Rocholl, Präsident der ESMT Berlin in unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde. In seinem Text erläutert er, worin diese Hindernisse bestehen und wie sie überwunden werden können.
Europäische Unternehmen verlieren den Anschluss an amerikanische und chinesische Wettbewerber. Zu diesem Schluss gelangt man, wenn man sich die am höchsten bewerteten börsennotierten Unternehmen der Welt anschaut. Unter den Top 10 befinden sich laut einem aktuellen PwC-Ranking acht amerikanische und zwei chinesische Unternehmen, aber kein europäisches. Deutsche Unternehmen folgen sogar erst ab Rang 60 – nur vier von ihnen schaffen es unter die Top 100 weltweit. Nun kann man zwei Punkte einwenden: Zum einen ändern Börsenkurse sich ständig, so dass das Bild morgen schon wieder anders aussehen kann als heute. Zum anderen profitiert besonders die deutsche Wirtschaft von ihrem starken Mittelstand und den vielen Hidden Champions. Börsenkurse sind also nicht das Maß aller Dinge.
Die Tendenz aber ist klar: Kapitalmärkte sehen die Zukunft eher bei amerikanischen und chinesischen Unternehmen als bei europäischen. Diese Entwicklung wird umso bemerkenswerter, wenn man folgende Aspekte bedenkt: Die wertvollsten Unternehmen weltweit wie Apple, Google und Amazon in den USA oder Tencent und Alibaba in China sind erst über die letzten Jahre in ihre jetzige Position gekommen. Ihr Aufstieg symbolisiert die rasante Entwicklung bei daten- und plattformgetriebenen Geschäftsmodellen. Diese Unternehmen greifen mit ihren Modellen und ihrer enormen Finanzkraft Wettbewerber in anderen Industrien und anderen Ländern an, die händeringend nach strategischen Antworten auf die neuen Herausforderungen suchen. Europäische Unternehmen stehen hier eher in einer Verteidigungsposition. Sie sind in diesen dynamischen Wachstumsmärkten nicht umfassend genug vertreten, um selbst signifikanten Einfluss nehmen zu können. Vielmehr werden europäische Start-ups häufig nach erfolgreichem Start kurz vor dem richtigen Durchstarten von den internationalen Giganten aufgekauft.
Warum erleben wir diese Entwicklung trotz des enormen Erfolgs des Europäischen Binnenmarkts? Auf den ersten Blick bietet dieser alle Voraussetzungen, um europäischen Unternehmen jeglichen Alters und jeglicher Größe eine Entwicklung über Ländergrenzen hinweg zu ermöglichen. Die Freizügigkeit von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen ist die zentrale Basis für die Integration der europäischen Volkswirtschaften und damit für wirtschaftliches Wachstum in Europa. Forscher messen der Schaffung des Binnenmarktes in dieser Hinsicht sogar größere Bedeutung bei als der Einführung der gemeinsamen Währung im Jahr 1999. Mehr als 500 Millionen Menschen leben und arbeiten in diesem Raum – mit einer Wirtschaftskraft, die es mit jedem anderen Wirtschaftsraum weltweit aufnehmen kann. Niemand kann also ernsthaft den enormen Erfolg des europäischen Binnenmarktes und seinen entscheidenden Beitrag zum Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union über die vergangenen 25 Jahre nach seiner Einführung bestreiten. Kann er diesen auch über die kommenden 25 Jahre gewährleisten?
Hier empfiehlt sich ein zweiter Blick. Der wirtschaftliche Erfolg bei daten- und plattformgetriebenen Geschäftsmodellen hängt besonders von ihrer schnellen und umfassenden Skalierung ab. Denn jeder neue Nutzer einer Plattform erhöht den Wert dieser Plattform für alle anderen Nutzer. Möchte man sich zum Beispiel mit Freunden online austauschen, muss man dort sein, wo bereits viele Freunde sind. Ab einer bestimmten kritischen Grenze wächst die Anzahl der Nutzer umso stärker, denn niemand kommt mehr an dieser Plattform vorbei. Das Zauberwort heißt Skalierung – man könnte auch sagen Wachstum um jeden Preis bei vorläufiger Missachtung von Margen. Diese folgen automatisch, wenn man erst den Status als Marktführer eingenommen hat. Und dann ist eine solche Plattform nicht nur für die Nutzer von Interesse, sondern für weitere Akteure wie die Anbieter von Gütern und Dienstleistungen, Kapitalmärkte und Finanzinstitutionen. Die zentrale Frage lautet also, ob der Europäische Binnenmarkt die Skalierung neuer Geschäftsmodelle ermöglichen kann. Die Antwort lautet: Ja, aber.
Denn es gibt nach wie vor einige erhebliche Hürden, die eine vollständige Marktintegration in Europa behindern. Die zentrale wirtschaftliche und politische Herausforderung besteht darin, diese Hürden zu identifizieren und möglichst schnell zu beseitigen. Der konkrete wirtschaftspolitische Vorschlag ist also eine Inventur aller praktischen Hürden im Europäischen Binnenmarkt, um das ungenutzte Potenzial einer vollständigen Marktintegration ausschöpfen zu können. Die ESMT Berlin und die Bertelsmann-Stiftung haben mit dieser Aufgabe im Bereich der Kapitalmärkte und Finanzdienstleistungen begonnen und damit die Einladung an andere Akteure verbunden, diese Inventarliste zu vergrößern und für andere Märkte zu erweitern.
Bei Kapitalmärkten und Finanzdienstleistungen kann eine stärkere Integration ehemals getrennte Märkte zusammenbringen, wodurch der Austausch von Informationen, grenzüberschreitende Kapitalflüsse und Investitionen, der Handel mit Finanzprodukten sowie die Anziehung ausländischer Finanzmittel ermöglicht werden. Der Weg zu einem vollwertigen EU-Finanzmarkt begann 1957 mit dem Vertrag von Rom. Im Vertrag von Maastricht wurde dann im Jahr 1993 das Ziel formuliert, den Europäischen Binnenmarkt vollständig zu verwirklichen. Weitere Schritte wie der Financial Services Action Plan und die Schaffung der Europäischen Währungsunion haben seitdem zu immer stärker integrierten Märkten geführt. Als Reaktion auf die Finanzkrise wurde zudem ein einheitlicher regulatorischer Rahmen mit gemeinsamen Regeln für den Finanzsektor geschaffen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten und ein robusteres Finanzsystem zu entwickeln. Viele der tiefer hängenden Früchte wurden im Zuge dieses langen Prozesses bereits geerntet. Um einen vollständig integrierten Binnenmarkt zu schaffen, der weitere Vorteile aus der Finanzintegration zieht, muss nun der Schwerpunkt daraufgelegt werden, die verbleibenden Hindernisse zu beseitigen. Im Folgenden soll erläutert werden, worin diese bestehen und wie sie überwunden werden können. Dabei wird zwischen solchen Hürden unterschieden, die Banken, Unternehmen sowie Investoren betreffen.
Banken
Abschirmung der Zahlungsflüsse zwischen Banken und deren Tochtergesellschaften durch nationale Regulierungsbehörden
Konzerninterne Kredite für Banktöchter mit Muttergesellschaften in anderen europäischen Ländern können von nationalen Aufsichtsbehörden stark eingeschränkt werden. Weitere Regulierungsbefugnisse sollten daher auf die europäische Ebene übertragen werden.
Inkonsistente Anwendung von Abwicklungsregeln
Bailout-Regeln, die in der Bank Recovery and Resolution Directive (BRRD) festgeschrieben sind, wurden bisher lediglich bei der spanischen Bank Banco Popular angewendet. Die Europäische Kommission muss sicherstellen, dass das Beihilferecht so reformiert wird, dass es mit den Anforderungen der Bankenunion im Einklang steht.
Probleme bei der Verbriefung von Bankkrediten
Banken sind häufig mit hohen Abschlägen bei der Verbriefung von Krediten konfrontiert. Es könnte helfen, wenn ein unabhängiges und vertrauenswürdiges Institut, etwa die Europäische Investitionsbank, diese Kreditpakete zertifiziert und bewertet und so die Verbriefung erleichtert.
Unternehmen
Bürokratie und Rechtsunsicherheit durch Vorschriften für IPO-Prospekte
Derzeit ist die Europäische Kommission dabei, die Regeln für Börsengang-Prospekte zu reformieren. Dieser Schritt ist zu begrüßen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die aktuellen Reformvorschläge die Bürokratie eher erhöhen. Die Prospekte sollten nützliche Informationen für potenzielle Investoren enthalten, nicht aber eine umfassende Auflistung sämtlicher Faktoren, die die Geschäftsaussichten unter allen denkbaren Umständen beeinflussen könnten.
Unternehmensbesteuerung verzerrt Finanzierung und schadet grenzüberschreitender Risikoteilung
In den meisten Unternehmenssteuersystemen der EU-Mitgliedstaaten können Zinszahlungen von der Körperschaftssteuer abgezogen werden – für die Finanzierung über Eigenkapital gibt es jedoch keine entsprechende Regelung. Dies verzerrt die Finanzierungsentscheidungen der Unternehmen in Richtung der Fremdkapitalfinanzierung. Die Beseitigung des Schulden-Bias könnte daher wesentlich zur Entwicklung der Aktienmärkte in Europa beitragen.
Unterschiedliche Insolvenzregeln schaffen Unsicherheit und behindern grenzüberschreitende Kreditvergabe
Die Insolvenzverfahren unterscheiden sich stark von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat, was eine Reihe von negativen Folgen hat. Während eine vollständige Harmonisierung des nationalen Insolvenzrechts auch mittelfristig eher unrealistisch ist, sollte es möglich sein, ein europäisches Insolvenzrecht einzuführen, auf das sich die Unternehmen in Absprache mit ihren Gläubigern freiwillig einlassen können.
Investoren
Geringe Beteiligung am Aktienmarkt
Im Vergleich zu Bürgern anderer entwickelter Staaten investieren Europäer eher wenig in Aktien. Aktien bieten über einen längeren Anlagehorizont jedoch deutlich höhere Renditen als die meisten anderen Anlageklassen. Ein möglicher Grund für die mangelnde Akzeptanz von Aktien ist die Regulierung von Aktienkäufen und die damit verbundene Bürokratie bei der Beratung von Privatanlegern. Es könnte sich lohnen, eine Opt-out-Regel einzuführen, mit Hilfe derer informierte Anleger ohne wiederholten bürokratischen Aufwand in eine große Klasse von Finanzprodukten investieren können.
Informationsasymmetrien durch Unterschiede in der Anwendung von Rechnungslegungsvorschriften
Die Bilanzen sowie Gewinn- und Verlustrechnungen von Unternehmen gehören zu den wichtigsten Informationsquellen für Investoren. Versuche, die Rechnungslegungsstandards in der EU komplett zu vereinheitlichen, waren bisher nicht von Erfolg gekrönt. Investoren müssen sich die nötigen Informationen meist auf kostspielige Weise beschaffen. Um die dadurch entstehenden Informationsasymmetrien zu verringern, sollte eine zentrale Regulierungsbehörde die einheitliche Anwendung der Vorschriften in der gesamten EU durchsetzen.
(Dieser Beitrag basiert auf dem White Paper „Financial market integration in the EU: A practical inventory of benefits and hurdles in the Single Market“ von Katharina Gnath, Benjamin Grosse-Rüschkamp, Christian Kastrop, Dominic Ponattu, Jörg Rocholl und Marcus Wortmann.)
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Jörg Rocholl:
Prof. Jörg Rocholl, Ph.D., ist Präsident der ESMT Berlin. Er ist darüber hinaus stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums sowie stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik.
Professor Rocholl hat an der Universität Witten/Herdecke studiert und dort im Fach Wirtschaftswissenschaften mit Auszeichnung abgeschlossen. Nach seiner Promotion an der Columbia University in New York wurde er zum Assistant Professor an die University of North Carolina in Chapel Hill berufen. Rocholl forscht und lehrt seit 2007 an der ESMT und wurde 2011 zum Präsidenten der ESMT ernannt. Seit 2010 ist er Inhaber des EY Chair in Governance und Compliance.
Professor Rocholls Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Corporate Finance, Corporate Governance, Financial Intermediation, Zentralbanken und Finanzregulierung. Seine Forschung wurde in führenden wissenschaftlichen Fachmagazinen wie dem Journal of Finance, dem Journal of Financial Economics und Review of Financial Studies veröffentlicht.
Professor Rocholl ist Research Fellow am Centre for Economic Policy Research (CEPR), Forschungsmitglied des European Corporate Governance Institute (ECGI), Forschungsprofessor am ifo Institut, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Forschungsdaten- und Servicezentrums (FDSZ) der Deutschen Bundesbank, stellvertretender Vorsitzender des Wirtschaftsbeirats der Deutschen Welle und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des DIW Berlin. Er war sowohl Lamfalussy als auch Duisenberg Fellow der Europäischen Zentralbank (EZB).