Trotz der jüngsten Eurobarometer-Ergebnisse, die zeigen, dass mehr als zwei Drittel der EU-Bürger (68%) davon überzeugt sind, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat, kann uns der Optimismus dieser Zahlen nicht vergessen lassen, dass 50% der Befragten der Meinung sind, dass die EU nicht in die richtige Richtung geht, schreibt Ignacio S. Galán, Vorstandsvorsitzender und CEO von Iberdrola, einem spanischen öffentlichen multinationalen Energieversorgungsunternehmen. „Die Ambivalenz, die sich in diesen Ergebnissen widerspiegelt, ist ein Weckruf hinsichtlich der entscheidenden Bedeutung für die Zukunft der EU bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai nächsten Jahres.“ Galán’s Artikel ist Teil der Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde.
Seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957, also vor über 60 Jahren, war die Europäische Union noch nie derart großen Herausforderungen ausgesetzt wie heute. Einige Probleme sind global, wie der Klimawandel, die internationalen Handelskonflikte, die Auswirkung der Automatisierung und der digitalen Revolution oder die Rückschritte beim Multilateralismus.
Andere betreffen Europa im Besonderen, etwa der Brexit, die Migrationsströme oder der mühsame Reformprozess der EU. Das Zusammenspiel dieser Herausforderungen erfordert einen neuen Impuls zur Integration, damit die EU aus einer stärkeren Position heraus gemeinsam Lösungen finden kann.
Auch wenn sich Kritiker der Europäischen Union lautstark zu Wort melden, so zeigen die Ergebnisse der letzten Eurobarometer-Erhebung doch, dass mehr als zwei Drittel der Befragten (68 Prozent) davon überzeugt sind, dass ihr Land von der Mitgliedschaft in der EU profitiert hat. Das ist der höchste Wert seit 1983 und verdeutlicht die Wirksamkeit des politischen und wirtschaftlichen Einigungsprozesses. Diese Daten stimmen optimistisch. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass die Hälfte der Befragten die Auffassung vertritt, die EU befinde sich auf dem falschen Weg.
Vor dem Hintergrund dieser Zwiespältigkeit gegenüber dem Einigungsprojekt kommt den Wahlen zum Europäischen Parlament eine besondere Bedeutung für die Zukunft der EU zu. Das Vertrauen der Bürger in das europäische Projekt muss erneuert werden. Dazu sind stärkere Bemühungen erforderlich, der Bevölkerung die Errungenschaften der EU zu vermitteln. Ein geeintes Europa ist der einzige Weg, der eine Aussicht auf Wohlstand, Sicherheit und Wohlergehen unter gemeinsamen demokratischen Werten bieten kann.
Diese Aufgabe darf nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der EU-Institutionen fallen. Die nationalen Verwaltungen, politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Unternehmen müssen erklären, dass man den Herausforderungen einer globalisierten Welt im ständigen Wandel besser widerstehen kann, wenn man vereint auf gemeinsame Werte setzt. Das gilt unabhängig von Differenzen bezüglich konkreter politischer Vorhaben.
Als Vorstandsvorsitzender von Iberdrola, das bei erneuerbaren Energien führend und der Entwicklung eines nachhaltigen Energiemodells verpflichtet ist, möchte ich die Führungsrolle der Europäischen Union bei der Bekämpfung des Klimawandels betonen. Der Klimawandel ist die größte Bedrohung, der die internationale Gemeinschaft ausgesetzt ist. Wir müssen unsere Anstrengungen
verstärken, um die Entwicklung und Nutzung erneuerbarer Energiequellen voranzutreiben. Das Ziel der Zukunft ist die kohlenstofffreie Wirtschaft.
Dank des vom EU-Kommissar für Klimaschutz und Energie, Miguel Arias Cañete, vorgeschlagenen Pakets »Saubere Energie für alle Europäer« bleibt Europa in diesem Bereich Vorreiter. Das Europäische Parlament, die Kommission und der Europäische Rat haben einen gemeinsamen Rahmen vereinbart, der bei erneuerbaren Energien, Verringerung von Emissionen und Verbesserung der Energieeffizienz bis 2030 neue Ziele setzt. Als einzige der großen Volkswirtschaften hat sich die Europäische Union auch einen Fahrplan bis 2050 gesetzt. Derzeit wird eine Strategie erarbeitet, um Europas Wirtschaft bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu machen. Wichtig ist es dabei, bei der Definition von Zielen alle relevanten Akteure einzubeziehen: die europäischen Institutionen, die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten, Kommunen, Nichtregierungsorganisationen und Bürger. Die Debatte über den Klimaschutz betrifft jeden.
Eine grüne Wirtschaft in Europa ist auch entscheidend für das zukünftige Wachstum und die Schaffung sicherer und hochwertiger Arbeitsplätze. Ob Energie, Bauwesen, Transport, Industrie oder Landwirtschaft – in all diesen Bereichen stehen große Veränderungen an. Alleine in der Energiebranche sind nach Schätzungen der Europäischen Kommission zusätzliche Investitionen in Höhe von 175 bis 290 Milliarden Euro jährlich nötig, um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen. Beim Engagement Europas für eine nachhaltige Energieversorgung geht es also nicht nur darum, die Vorgaben des Pariser Klimaabkommens zu erfüllen. Es geht auch um Chancen für Unternehmer und Arbeitnehmer. Und nicht zuletzt wird die EU durch eine grünere Politik ihre Abhängigkeit von Energieimporten verringern können.
Die Wirtschaft hat verstanden, dass die Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft Europa heißt. Im European Round Table of Industrialists (ERT) haben sich Führungskräfte großer europäischer Unternehmen versammelt, auch ich gehöre diesem Kreis an.
Auf Grundlage der Erfolge des bisherigen Einigungsprozesses setzt sich der ERT dafür ein, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu verbessern. Wir brauchen Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung. Wir brauchen die Schaffung neuer Arbeitsplätze, um gerade auch der Jugend eine Perspektive zu geben. Die europäische Zusammenarbeit ist der Schlüssel zum Erfolg.
Die Europäische Union vereint wirtschaftliche Stärke mit dem Schutz von Demokratie, Freiheit und Toleranz. Ein geeintes Europa liefert einen unschätzbaren Mehrwert – für die Bürger, die Mitgliedstaaten und die Welt.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Ignacio S. Galán ist Vorsitzender und Geschäftsführer von Iberdrola sowie Vorsitzender der Tochtergesellschaften der Iberdrola-Gruppe.
Seit er 2001 zu Iberdrola kam, hat Galán den Energieversorger zu einem der fünf größten der Branche weltweit gemacht. Galán studierte an der Ingenieurfakultät (ICAI) der Päpstlichen Universität Comillas in Madrid und schloss als Wirtschaftsingenieur ab. Derzeit ist er Gastprofessor an der Universität Strathclyde, Vorsitzender der Universitätsstiftung der Ingenieurfakultät der Päpstlichen Universität Comillas. Galán ist ferner Aufsichtsratsmitglied des Massachusetts
Institute of Technology (MIT). Ignacio Galán ist zudem Mitglied der Arbeitsgruppe Elektrizität des Weltwirtschaftsforums in Davos, deren Vorsitz er in der Vergangenheit innehatte, sowie Mitglied des Lenkungsausschusses des European Round Table of Industrialists (ERT).