„Europa braucht Innovationen, um im globalen Wettlauf attraktiv zu bleiben“, schreibt Hans Van Bylen, CEO der Henkel AG & Co. KGaA. „Denn wirtschaftlicher Erfolg schafft Arbeitsplätze und Wohlstand.“ Sein Text ist Teil der Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde.
Wenn das Brexit-Votum in Großbritannien im Juni 2016 etwas gebracht hat, dann ist es diese Erkenntnis: Inzwischen haben mehr EU-Bürger ein besseres Verständnis dafür, wie hochgradig vernetzt und voneinander abhängig die Menschen und Unternehmen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union sind.
Erst die konkrete Herausforderung, ein wichtiges Land in relativ kurzer Zeit aus einem über viele Jahrzehnte gewachsenen Geflecht von gemeinsamen Regeln und Standards herauszulösen, veranschaulicht, welche Vorteile und höhere Effizienz durch einen gemeinsamen Binnenmarkt entstanden sind.
Hinzu kommen die kontroversen Diskussionen über Ungleichgewichte im Handel, die Androhung von Zöllen oder anderen Maßnahmen im globalen Wirtschaftsdreieck zwischen den Vereinigten Staaten, China und der EU. Sie haben das Bewusstsein für die Bedeutung eines geeinten und handlungsfähigen Europas in breiteren Teilen der Öffentlichkeit geschärft.
Es ist sicherlich verkürzt, die Bedeutung eines geeinten Europas allein auf die wirtschaftspolitischen Dimensionen zu reduzieren. Daneben stehen mindestens gleichbedeutend sicherheitspolitische Fragen, die Völkerverständigung, kulturelle Aspekte und vieles mehr.
Aber letztlich schaffen erst der wirtschaftliche Erfolg sowie die damit verbundenen Arbeitsplätze und Einkommen die finanziellen Voraussetzungen und die breite gesellschaftliche Akzeptanz für die Zusammenarbeit in den anderen Handlungsfeldern.
Der wirtschaftliche Erfolg hilft auch, durch gezielte Maßnahmen Ungleichheiten zu verringern – zwischen einzelnen Volkswirtschaften wie auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder Schichten eines Landes. Dieser Gedanke stand auch Pate, als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den 1950er Jahren gegründet wurde.
Die enge wirtschaftliche Verflechtung sollte helfen, den Wohlstand zu fördern und Konflikte zu verhindern. Der größere, gemeinsame Markt sollte das Wirtschaftswachstum beschleunigen und damit den Wohlstand der Bürger in Europa steigern.
Dass dies ein Erfolg war, ist unbestritten – wenngleich das in der öffentlichen Wahrnehmung häufig in den Hintergrund rückt. Heute umfasst die EU mehr als eine halbe Milliarde Einwohner. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist die EU der größte Wirtschaftsraum weltweit, noch vor China und den Vereinigten Staaten.
Dabei ist die Industrie mit über 50 Millionen Arbeitsplätzen ein wichtiger Faktor für Wohlstand und Beschäftigung in Europa. Damit das langfristig so bleibt, haben Unternehmen und ihre Mitarbeiter ein gemeinsames Interesse am Erhalt und an der Stärkung des Binnenmarkts und der Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich.
Denn trotz aller Erfolge muss sich die EU institutionell und vor allem industriepolitisch weiterentwickeln. Die EU braucht Reformen, um den Wirtschaftsraum im zunehmenden globalen Wettbewerb noch stärker und attraktiver zu machen.
Der technologische Wandel, die Anforderungen an nachhaltiges Wirtschaften und die angespannten internationalen Handelsbeziehungen stellen die Unternehmen und die Politik vor große Herausforderungen. Die kommende EU-Kommission sollte ihre Industriepolitik daher strategisch neu ausrichten. Kern der Strategie muss es sein, Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen, insbesondere der Industrie, zu fördern. Dabei kommt es entscheidend auf den richtigen Mix der Instrumente an. Es geht darum, noch bessere Anreize für Innovationen zu setzen, eine sichere und bezahlbare Energieversorgung sicherzustellen und eine wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung sowie eine gute Infrastruktur zu gewährleisten. Zudem müssen für die aktuellen geo- und handelspolitischen Auseinandersetzungen Antworten gefunden werden.
Globaler Wettlauf um Innovationen
Dabei sollte die europäische Politik die Industrie als Partner betrachten, um die Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft zu entwickeln. Sei es beim Klimaschutz, bei der Entwicklung moderner und nachhaltiger Verkehrssysteme, bei der Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung oder auch in der Gesundheitsversorgung. Industrieunternehmen tragen mit ihren innovativen Produkten und Werkstoffen, Technologien und Anwendungen zur Lösung dieser großen globalen Aufgaben bei. Geschwindigkeit ist dabei im globalen Wettbewerb ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Weltweit findet heute ein Wettlauf der Nationen und Regionen um die beste Position für die Zukunft statt.
Innovative Werkstoffe, leistungsfähige Energiespeicher, klimaverträgliche Mobilitätslösungen, Biotechnologie, Digitalisierung und zirkuläre Wirtschaft sind wichtige Elemente für eine nachhaltige Entwicklung unserer globalen Gesellschaft – und wachstumsstarke Märkte mit hoher Wertschöpfung und zukunftssicheren Arbeitsplätzen.
Die EU sollte bei ihrer künftigen Mittelvergabe einen klaren Schwerpunkt auf diese Themen legen und die Forschungsausgaben dafür ausweiten. Das Tempo des globalen Wettstreits um Innovationen wird mehr und mehr aus China und den Wachstumsländern in Südostasien bestimmt.
In diesen Staaten unterstützen die Regierungen gezielt Wissenschaft und Forschung mit beträchtlichen finanziellen Mitteln und schaffen regulatorische Spielräume, um Innovationsprozesse zu beschleunigen. Damit aus Forschung auch marktfähige Produkte werden können, sind eine innovationsfreundliche Gesetzgebung sowie die Qualität von Rechtsvorschriften und deren Umsetzung von entscheidender Bedeutung. Hier hat die EU in den letzten Jahren bereits gute Ansätze gezeigt. Wichtig ist dabei: Neue Gesetze sollten umfassend auf ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit überprüft werden. Gerade für viele kleine und mittlere Unternehmen entsteht hier sonst viel Zusatzaufwand, der ihre Entwicklung behindert.
Vorreiter bei Klimaschutz und zirkulärer Wirtschaft
Für die Industrie in Europa ist insbesondere eine zukunftsgerichtete Energie- und Klimapolitik entscheidend. Die EU-Kommission will ihre ambitionierten Klimaschutzziele mit einer Strategie begleiten.
Dabei hilft auch „mehr Europa“. Der EU-Binnenmarkt für Strom und Gas sollte realisiert werden, um die Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähige Energiepreise zu fördern. Darüber hinaus sollten Investitionen in den Klimaschutz unterstützt und alle Sektoren in die Pflicht genommen werden. Industrie und Energiewirtschaft erfüllen ihre Ziele zur CO2-Reduktion bereits über den Emissionshandel.
Da die energieintensive Chemie im globalen Wettbewerb steht, wäre ein weltweites System zur CO2-Bepreisung – zumindest auf Ebene der G20 – eine mögliche Perspektive. Damit ließen sich Nachteile für den Standort Europa vermeiden. Auch beim Thema zirkuläre Wirtschaft hat die Europäische Kommission ambitionierte Pläne. Sie will die EU für eine globale Vorreiterrolle positionieren.
Zirkuläres Wirtschaften bedeutet das Wirtschaftswachstum vom Verbrauch endlicher Ressourcen zu entkoppeln. Es ist notwendig, den gesamten Produktlebenszyklus zu betrachten und die zum jeweiligen Zeitpunkt technisch, wirtschaftlich und ökologisch optimale Lösung zu nutzen. Die hierfür erforderlichen Innovationen eröffnen ebenfalls neue Wachstumschancen.
Für offenen Welthandel einsetzen – selbstbewusst und wertebasiert
Aber nicht allein Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit tragen dazu bei, dass sich international tätige Unternehmen auf den globalen Märkten behaupten können. Eine offene und regelbasierte Welthandelsordnung ist hierfür eine entscheidende Voraussetzung.
Die wachsenden Spannungen in den internationalen Handelsbeziehungen unterstreichen die Bedeutung der EU. Insbesondere ihrer gemeinsamen Handelspolitik ist es zu verdanken, dass Europa seine Position gegenüber den großen Volkswirtschaften China und USA vertreten kann.
Die EU muss sich auch in Zukunft dafür einsetzen, dass das offene Welthandelssystem erhalten bleibt. Mit Selbstbewusstsein und auf der Basis gemeinsamer Werte. Die Europäische Kommission braucht eine neue Handelsstrategie, die Antworten auf das Vorgehen der USA und Chinas findet.
Zugleich muss sie darauf hinwirken, die Rolle der Welthandelsorganisation (WTO) zu stärken, und ergänzend weitere bilaterale Handelsabkommen schließen. Dafür ist es unerlässlich, dass die EU in Handelsfragen geschlossen nach außen auftritt.
Ein starkes Europa für eine erfolgreiche Zukunft
Zu europäischen Lösungen in den politischen Zukunftsfragen wie Klima- und Umweltschutz, Digitalisierung und Migration gibt es schlicht keine Alternative. Nur eine politisch handlungsfähige und wirtschaftlich starke EU kann die globalen Herausforderungen im Sinne aller Bürger in Europa mitgestalten. Dafür ist es aber auch erforderlich, den Nutzen und die Vorteile aus einem geeinten Europa in der öffentlichen Debatte immer wieder klar zu benennen.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Hans Van Bylen:
Hans Van Bylen ist seit über 30 Jahren bei Henkel und verfügt über umfangreiche internationale Erfahrung im Konsumgüterund Industriekundengeschäft. Er begann seine Laufbahn 1984 bei Henkel in Belgien und übernahm in der Folge stetig wachsende Geschäfts- und Regionalverantwortung etwa für Benelux, Frankreich, Westeuropa, Afrika/Naher Osten, Latein- und Nordamerika sowie Asien-Pazifik. 2005 wurde er in den Vorstand von Henkel berufen und war dort über 10 Jahre für den Unternehmensbereich Beauty Care zuständig. Seit Mai 2016 ist Hans Van Bylen Vorstandsvorsitzender der Henkel AG & Co KGaA, seit September 2018 Präsident des Verbands der Chemischen Industrie e.V. (VCI) und Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. (BDI). Er gehört zudem dem Board of Directors des Consumer Goods Forum (CGF) an und ist Mitglied des European Round Table of Industrialists (ERT).