“Aufgrund des fortschreitenden demografischen Wandels und jahrelanger Zögerlichkeit gegenüber einem modernen Einwanderungsgesetz fehlt es uns in Europa zunehmend an qualifizierten Fachkräften, die die Chancen dieser Entwicklung nutzen könnten. Eine beginnende Vertrauenskrise fällt daher mit einer sich verschärfenden Qualifikationskrise zusammen“, schreibt Matthias Hartmann, CEO von IBM Deutschland, in seinem Essay zu unserer Artikelserie „Europa kann besser werden. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde. „Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen, um sicherzustellen, dass die Vertrauenskrise nicht zu einer institutionellen Krise und die Qualifikationskrise nicht zu einer Arbeitsmarktkrise wird.“
Als im Juni 2004 Bundesregierung und die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft den Nationalen Pakt für Ausbildung von Fachkräftenachwuchs beschlossen, war die Welt noch eine andere. Es gab keine Smartphones, von einer kompletten digitalen Vernetzung der Wertschöpfungsketten konnte noch keine Rede sein, Daten gab es ungleich weniger und es gab kaum unbesetzte Ausbildungsstellen.
Die Herausforderungen des Jahres 2019 sind nicht geringer geworden. Ging es vor rund 15 Jahren darum, möglichst viele Jugendliche in eine Ausbildung zu bringen, ihnen somit eine berufliche Perspektive zu geben und gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen, so stehen wir 2019 vor einer ebenso großen Aufgabe: Die mit der Digitalisierung einhergehende Automatisierungsmöglichkeit von Tätigkeitsfeldern empfinden viele Bürger als mögliche Bedrohung ihrer beruflichen Perspektiven. Gleichzeitig fehlen uns in Europa wegen des fortschreitenden demographischen Wandels und des jahrelangen Zauderns um ein modernes Zuwanderungsgesetz zunehmend qualifizierte Fachkräfte, die die Chancen dieser Entwicklung für sich nutzen könnten. Somit fällt eine aufkommende Vertrauenskrise mit einer sich verschärfenden Qualifizierungskrise zusammen, wie IBMs CEO Ginni Rometty in Davos treffend festhielt.
Vertrauens- und Qualifizierungskrise
Und wie im Jahr 2004 dürfen wir nicht mit dem Finger aufeinander zeigen. Wir, das sind die politischen Entscheidungsträger und die Verantwortlichen in den Unternehmen und Verbänden. Es bedarf einer gemeinsamen Kraftanstrengung, damit aus der Vertrauens- keine Institutionenkrise und aus der Qualifizierungs- keine Arbeitsmarktkrise wird. Unter diesem gemeinsamen Ziel müssen Politik und Wirtschaft ihre gemeinsame Verantwortung ernster nehmen und den jeweils anderen als Partner auf Augenhöhe anerkennen.
Denn diese Partnerschaft hat nicht erst seit den Ergebnissen des Ausbildungspaktes 2004 gelitten. Auf Seiten der Wirtschaft mangelt es häufig an einem Verständnis für politische Prozesse und der Erkenntnis, dass politische Entscheidungen – glücklicherweise – selten den Marktgesetzen folgen. Umgekehrt kann man zunehmend feststellen, dass einige politische Entscheidungen einen eklatanten Mangel an Verständnis für die Wurzeln unseres wirtschaftlichen und sozialen Wohlstandes zeigen: Wohlstand entsteht durch Wachstum und Wachstum durch Profit von Unternehmen. Dafür gilt es die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, sei es bei Investitionen, Steuern oder aber in der Aus- und Weiterbildung.
Aus- und Weiterbildung als Herzstück einer neuen Partnerschaft
Als Unternehmer investieren wir nicht aus Altruismus in Aus- und Weiterbildung. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte z.B. im Bereich Cybersicherheit, künstlicher Intelligenz und weiterer neuer Technologien ist so gut wie leergefegt. So bilden wir seit Jahrzehnten eigenen Nachwuchs aus. Um aber langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben, liegt eine ebenso große Herausforderung in der Re-Qualifikation (neudeutsch Re-Skilling) unserer heutigen Belegschaft. Dies tun wir auf der Basis modernster Lern-Plattformen, die eine kontinuierliche, an sich schnell wandelnden Marktbedingungen orientierte Weiterbildung ermöglichen.
Doch wenn aktuell nur rund ein Drittel befragter CEOs glaubt, dass ihre Belegschaft die richtigen Fertigkeiten für den technologischen Wandel besitzt, dann ist dies der letzte Warnschuss, um zusammen mit den Sozialpartnern neue Konzepte zur Requalifizierung breiter Mitarbeiterschichten zu erarbeiten. Dabei rücken wir nicht nur Qualifikationen im engeren Sinne – wie Coding – in den Mittelpunkt, sondern verändern das gesamte Arbeitsleben, indem wir mit Methoden des kontinuierlichen Lernens Neugier und Lust auf Veränderung wecken und stärken. Dies gelingt uns schon heute am besten dort, wo multidisziplinäre Teams gemeinsam an Aufgaben arbeiten, wo jedes Teammitglied bestimmte Fertigkeiten mit- und einbringt, darüber hinaus aber bereit ist, am Projekt zu wachsen und sich weiter zu bilden. Lernen findet zunehmend im Prozess statt und damit im Betrieb. Leider geht das Qualifizierungschancengesetz der großen Koalition einen ganz anderen Weg, indem finanzielle Anreize für eine möglichst lange Weiterbildung durch externe Dienstleister geschaffen wurden.
Die Weiterbildung im Betrieb hat in unserem Fall noch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Sie kann Mitarbeiterinnen die Furcht vor einem Arbeitsplatzverlust durch Künstliche Intelligenz (KI) nehmen, weil IBM sowohl bei internen Prozessen als auch bei Services und Produkten für Kunden auf KI setzt. Künstliche Intelligenz verstehen wir als ein Werkzeug des Arbeitnehmers zur Erweiterung seiner Fähigkeiten, sei es bei der Suche nach internen Ausbildungsangeboten, offenen Stellen oder beim Skill-Matching. Um diesen Prozess umfassend zu begleiten, arbeiten wir gemeinsam mit der Gewerkschaft ver.di an einer wissenschaftlichen Untersuchung, um die Auswirkungen von KI auf unser künftiges Arbeiten zu erheben. Die Anwendungsstudie macht es sich zum Ziel, den Effekt von KI am Arbeitsplatz unter anderem durch den Einsatz von Feldexperimenten zu untersuchen und hierbei Unterschiede in der Nutzung und in den Folgen des Einsatzes der KI zwischen Berufen, Tätigkeiten und Qualifikationsniveaus aufzudecken.
Kulturwandel erfordert Ausdauer
Dies ist ein echter Kulturwandel: Arbeiten in kleinen, agilen Teams, Qualifizierung on the Job, neue Methoden und Techniken wie Design Thinking erlernen und einsetzen. Also kontinuierliches Lernen über das gesamte Erwerbsleben? Manch einem mag dabei schwindelig werden. Veränderung verlangt das Ausbrechen aus der Komfortzone und das Überwinden des inneren Schweinehunds. Aber auch dabei müssen die Sozialpartner und die Politik in die Pflicht genommen werden. Im Rahmen von tariflichen Bündnissen stärken wir flexible Arbeitszeitmodelle und Zeitsouveränität, ermöglichen mobiles Arbeiten und eine Stärkung der Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf. IBM ermöglicht nicht nur jungen Nachwuchstalenten ein berufsbegleitendes duales Masterstudium, sondern auch ausgewählten Professionals, wenn sie sich verändern wollen. Wir investieren in ‚Mid-Career Development‘ und ermöglichen Müttern über interne Programme eine individuelle Rückkehr in den Beruf. Im Mittelpunkt steht aber die individuelle Weiterbildung eines jeden einzelnen IBMers. Deshalb haben wir bei IBM Deutschland im Durchschnitt pro Mitarbeiter 6,5 Schulungstage in die persönliche Weiterbildung im vergangenen Jahr investiert. Weit über dem Durchschnitt der Unternehmen der laut aktueller BITKOM-Studie bei 2,3 Weiterbildungstagen liegt. Darunter sind neue Srcum-Master die vorher im Marketing gearbeitet haben, oder Agile-Experten, die vorher im Vertrieb tätig waren. Dies hat uns gezeigt, dass es immer mehr auf die Förderung der Motivation und Neugier des Einzelnen als auf die individuelle formelle Vorbildung ankommt. Dies muss auch von der Politik anerkannt werden.
Sieben Vorschläge, um Barrieren zu beseitigen und Chancen zu ergreifen
Die Europäische Union hat mit der „New Skills Agenda for Europe“ 2016 einen wichtigen Impuls geliefert. IBM unterstützt das 10 Punkte Programm nicht nur, sondern nimmt selbst auch an Initiativen wie dem „Pact for Youth“, der „EU Vocational Skills week“ oder der „Bratislava Declaration on e-skills“ teil.
Klar ist aber auch: Bildung ist Sache der Mitgliedsstaaten. In Irland haben wir deshalb gemeinsam mit starken Partnern und der Regierung Ausbildungsgänge nach Vorbild der deutschen Berufsschule aufgebaut: P-TECH fungiert an der Schnittstelle zwischen Ausbildung und Studium und ermöglicht Studenten praktische Erfahrungen in Unternehmen. Der Fokus liegt auf digitalen Fertigkeiten und neuen Wegen der Zusammenarbeit.
Auch in Deutschland müssen wir deshalb gemeinsam Barrieren beseitigen und die Chancen ergreifen, die die Digitalisierung uns bietet:
Erstens, die betriebliche Fortbildung muss gestärkt und gleichberechtigt der außerbetrieblichen gegenübergestellt werden. In diesem Sinne muss das Qualifizierungschancengesetz angepasst werden, damit es seinem Wortlaut gerecht wird.
Zweitens müssen wir im Rahmen der Nationalen Weiterbildungsstrategie ein zeitgemäßes Weiterbildungsregime entwickeln, das digitale Angebote fördert, um digitale und KI-Kompetenz der Erwerbstätigen zu stärken.
Hierbei muss auf eine moderne Weiterbildung gesetzt werden. Konzepte wie „Blended Learning“ kombinieren Online- und Präsenzformaten, den Erwerb von Erfahrungswissen, klassische Lerneinheiten und selbstständiges Lernen über digitale Bildungsangebote.
Die Idee des Aufbaus entsprechender digitaler Weiterbildungsplattformen stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar. Darüber hinaus müssen universitäre (berufliche) Weiterbildungsangebote gestärkt und modularer und förderfähig ausgestaltet werden.
Drittens muss die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa und darüber hinaus deutlich gestärkt werden. Unternehmen leben vom Austausch und der Kreativität ihrer Mitarbeiterinnen, unabhängig davon, ob diese nun in Berlin, Warschau oder Bangalore sitzen.
Viertens sollten wir gemeinsam bestehende duale und universitäre Ausbildungsgänge an die Erfordernisse des digitalen Wandels anpassen. Die IBM beteiligt sich in diesem Zusammenhang an der Konzeption von Studiengängen an verschiedenen Universitäten.
Fünftens, provokant gesagt: der Girlsday muss überflüssig werden. Stattdessen müssen wir unsere Lernkultur für alle ändern. Schülerinnen und Schüler müssen nicht alle coden oder programmieren können. Viel wichtiger ist es, sie neugierig zu machen, ihren Entdeckergeist zu wecken, sie zu ermutigen, Dinge zu erforschen und Gegebenes zu hinterfragen.
Sechstens: Ja, wir brauchen mehr digitale Medien in den Schulen, aber das ist nicht genug: Guter Deutschunterricht kann vom Medieneinsatz profitieren, eine schlechte Mathestunde wird nicht dadurch besser, dass ich ein Tablet einsetze. Digitale Medien vermitteln, sie sollten nicht Dreh- und Angelpunkt des Unterrichts werden. Vielmehr muss auch über die Art des Lernens nachgedacht werden, so dass Schüler selbstbestimmter lernen und so auf die Arbeitswelt von morgen vorbereitet werden. Gleiches gilt auch für die universitäre Ausbildung.
Siebtens: Lebenslanges Lernen muss als Chance begriffen werden. So wie jeder von uns einem neuen Buch, einer spannenden Serie oder einem unterhaltsamen Film entgegenfiebert, sollten wir uns auch auf neue Berufsabschnitte freuen. Diesen Appetit zu wecken, ist eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe der Unternehmen, der Sozialpartner und der Politik.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Matthias Hartmann:
Matthias Hartmann ist seit Januar 2018 Vorsitzender der Geschäftsführung IBM Deutschland GmbH sowie General Manager Deutschland, Österreich, Schweiz bei IBM. Zuvor war er als Mitglied im Digitalen Beirat der Postbank, Senior Advisor im Bereich digitaler Transformation und geschäftsführender Gesellschafter der mkh assets GmbH, die in verschiedene Startups investiert, tätig.
Vor dieser Tätigkeit war er Vorstandsvorsitzender der GfK SE, einem weltweit führenden Unternehmen der Marktforschung. In seine Amtszeit fällt die Transformation des Unternehmens hin zu einem weltweiten Produkt- und Lösungsanbieter und die digitale Ausrichtung des Unternehmens.
Bis 2011 war Matthias Hartmann als Global Management Board Member bei IBM, New York, weltweit verantwortlich für die Branchenberatung des Consultingbereichs, sowie die Strategie von IBM Global Business Services. In seinen 25 Jahren bei IBM war er in verschiedenen Management-Positionen im Dienstleistungsbereich für Business Development, Strategie und Change-Management verantwortlich. Von 2005 bis 2009 war er Geschäftsführer der IBM Deutschland, zuständig für den Consulting-Bereich IBM Global Business Services.
Matthias Hartmann ist verheiratet und hat drei Kinder. Seine Hobbies sind Sport, Reisen und Musik, er ist Schlagzeuger in mehreren Bands.