Das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) hat kürzlich den Plan einer “europäischen Seidenstrasse” vorgestellt. Wolfgang Schüssel, Präsident von United Europe, schlägt in einem Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung vor, das Projekt mit der chinesischen Belt-and-Road-Initiative zu verzahnen. Am 24.10 und 15.11. veranstaltet die THINK Initiative in Kooperation mit United Europe zum Thema zwei Roundtable Discussions in Wien und Berlin (Details s. Veranstaltungskalender)
Das Projekt “One Belt, One Road” oder “yi dai, yi lu”, das der Präsident der Volksrepublik China, Xi Jinping, 2013 entwarf, ist nun in aller Munde. Der britische «Economist» widmete ihm unlängst eine Titelgeschichte, die internationalen Medien berichten regelmässig darüber. Think-Tanks analysieren Vor- und Nachteile, die strategischen Optionen und sicherheitspolitische Konsequenzen.
Dieses Projekt hat in der Tat geopolitische Dimensionen. Die Belt-and-Road-Initiative (BRI) zielt auf einen eurasischen Wirtschaftsraum, der von der Ostküste Chinas bis zum Atlantik reicht. 92 Länder, 4,5 Milliarden Menschen und 60 Prozent der globalen Wirtschaftskraft würden darin umfasst – nicht zu vergessen Afrika, das in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielt, wie kürzlich beim China-Afrika-Gipfel bekräftigt wurde. Wer diesen Raum beherrscht, könnte künftig auch die Weltwirtschaft dominieren.
Grosses Potenzial
Der eurasische Raum ist bereits heute wirtschaftlich sehr bedeutsam und wird es in Zukunft noch mehr sein. Die OECD schätzt, dass Chinas Wirtschaft 2050 etwa 25 Prozent zum Welt-BIP beitragen wird, die EU und die USA werden jeweils zwischen 15 und 18 Prozent beisteuern. Zwischen Westeuropa und der Ostküste Chinas liegt allerdings ein grosser Gürtel sehr armer Länder, nicht mehr als ein wirtschaftlich weit zurückhängender Zwischenraum. Das kann die Stabilität Chinas ebenso beeinflussen wie – in geringerem Mass – die Sicherheit Europas.
Gerade darin liegt aber auch ein grosses Potenzial. Schon heute ist der Handel der EU mit China, Hongkong, Korea und der Mongolei mit 770 Milliarden Euro fast so umfangreich wie jener mit Nordamerika (USA, Kanada, Mexiko). Dieser bilaterale Aussenhandel Chinas mit der EU wird sich in den nächsten zehn Jahren mit plus 80 Prozent weit dynamischer entwickeln als der Handel mit Amerika (plus 30 Prozent). Dies hat Prof. Gabriel Felbermayr, der designierte Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, in einer beachtenswerten Analyse in der «FAZ» nachgewiesen. Dabei könnte man den transeurasischen Handel nachhaltig transformieren, der derzeit fast zur Gänze über See- oder Luftfracht abgewickelt wird. Nur 3 Prozent der Güter laufen über die Schiene, allerdings mit starkem Zuwachs in den letzten Jahren. Zwischen 2014 und 2017 hat sich der auf der Schiene abgewickelte Güterhandel verfünffacht, während der Gesamthandel nur um etwa 20 Prozent zugelegt hat. Der Schienentransport dauert halb so lang wie die Beförderung auf dem Seeweg und ist viel billiger als der Lufttransport. Wenn also die Infrastruktur von Schiene und Strasse deutlich verbessert und beschleunigt und damit viel Zeit und Geld gespart wird, könnte langfristig der Güterhandel um 25 bis 30 Prozent zunehmen, jedes Jahr um etwa 200 Milliarden Euro.
Daher kann es wenig Zweifel an der Sinnhaftigkeit der geplanten Infrastrukturoffensive geben. Wohl aber daran, dass die vorgesehenen Finanzmittel Chinas ausreichen, um solche transkontinentalen Projekte alleine zu stemmen. «Wo bleibt Europa?», fragen sich viele in dieser Situation. In der Tat wird sich die EU viel stärker mit konstruktiven Ideen und wohl auch bedeutenden Geldmitteln einbringen müssen, um die Entwicklung und die Umsetzung dieser Ideen positiv beeinflussen und mitgestalten zu können.
Europäische Seidenstrasse
Ein solches Konzept liegt nun vor und könnte mit Chinas BRI verzahnt werden. Die Experten des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) haben kürzlich den Plan einer «europäischen Seidenstrasse» entwickelt, der die industriellen Zentren Westeuropas mit den bevölkerungsreichen, aber wenig entwickelten Gebieten im Osten verbinden soll. Im Vollausbau wird diese «europäische Seidenstrasse» auf dem Landweg (Schiene und Strasse) rund 11 000 km lang sein. Die Nordroute (6700 km) verläuft von Lissabon bis Uralsk an der Grenze Kasachstans. Ihr Kernstück verbindet Lyon mit Paris und führt über Brüssel und die Niederlande in die Rhein-Ruhr-Region. Über Berlin, Warschau und Minsk wird Moskau angebunden mit einer Erweiterung über Nischni Nowgorod und Samara bis zum russisch-kasachischen Grenzort Uralsk.
Die Südroute (mit etwa 4300 km etwas kürzer) hätte ihren Ausgangspunkt in der Metropolregion von Mailand, dem wirtschaftlichen Zentrum Italiens, und führte über Zürich und den hochentwickelten Südraum Deutschlands nach Wien, Budapest und Bukarest bis zum Hafen Konstanza am Schwarzen Meer. Von hier aus wäre der Seeweg über den russischen Hafen Nowosibirsk bis Wolgograd und über den georgischen Hafen Poti und Tbilissi bis Baku am Kaspischen Meer möglich. Moderne Hochgeschwindigkeitszüge und Autobahnen, verbunden mit Logistikzentren, See-, Fluss- und Flughäfen, sollen neue europäische Standards auch in der E-Mobilität setzen. Über einen Zeitraum von zehn Jahren würden die Investitionen von rund 1000 Milliarden Euro oder 8 Prozent des BIP der auf den beiden Routen liegenden Länder zu einem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3 bis 3,5 Prozent und einem Beschäftigungszuwachs von mehreren Millionen Stellen im grösseren Europa führen.
Diese Initiative kann problemlos mit der chinesischen BRI vernetzt werden. Sie wäre komplementär, statt nur mit ihr in Konkurrenz zu treten. Unabhängig davon liegt es durchaus im Interesse der EU, ihre Märkte mit der östlichen Nachbarschaft mithilfe moderner Transportinfrastruktur zu erweitern. In dieser Region leben fast so viele Menschen wie in der EU selbst, allerdings nur mit einem halb so hohen Einkommen – 30 Millionen auf dem Balkan, 200 Millionen in den ehemaligen Sowjetrepubliken, fast 90 Millionen in Zentralasien und im Kaukasus sowie jeweils 80 Millionen in der Türkei und in Iran.
Die Zeit ist reif
Die Zeit ist also reif für eine solch weitreichende europäische visionäre Antwort: Da ist einmal die offen ausgetragene Auseinandersetzung um die Globalisierung mit Protektionismus und Abschottung, Zollerhöhungen und der Drohung mit Handelskriegen auf der einen Seite und den Verteidigern offener Handelsbeziehungen sowie den Befürwortern des Abbaus nichttarifarischer Barrieren auf der anderen Seite. Europa ist da wohl ein glaubwürdiger Anwalt einer offenen, globalen, aber auch sozial besser ausbalancierten Ordnung.
Bei solch visionären Grossprojekten geht es aber auch um Nachhaltigkeit (“debt sustainability”), die Transparenz der Ausschreibungen und Bieter, die Einbindung der lokalen Bevölkerung, die Berücksichtigung zivilgesellschaftlicher Einwände und die Einbeziehung ökologischer Aspekte. Sonst kann leicht die Tragfähigkeit der Finanzkraft kleinerer Staaten überdehnt, das Verständnis der Bürger überfordert oder auch die Verlockung zu Korruption und Freunderlwirtschaft zu gross werden. Die EU hat hier über Jahrzehnte einen grossen Erfahrungsschatz aufgebaut und könnte in intensivem Austausch und Kooperation mit der BRI vieles einbringen und vielleicht manche Kritik an chinesischen Projekten mildern helfen.
Es ist also Zeit, aufeinander zuzugehen und das Seidenstrassen-Projekt von beiden Seiten, von China und von Europa aus, in Angriff zu nehmen. Präsident Emmanuel Macron sagte richtigerweise im Januar 2018: “The ancient silk roads were never purely Chinese; these roads are to be shared and they cannot be one-way. Let’s start it!“
Wolfgang Schüssel ist Präsident der proeuropäischen Organisation United Europe; von 2000 bis 2007 war er Bundeskanzler Österreichs.