
Mit ihren Augen auf Griechenland fixiert ignorieren Europas Politiker und die Medien eine weit gewichtigere wirtschaftliche und geopolitische Bedrohung – den ‘Brexit’. Grossbritannien ist die zweitgrösste Volkswirtschaft in der Europäischen Union und ein militärisches wie politisches Schwergewicht. Auch ist es die älteste parlamentarische Demokratie der Welt und ein begeisterter Verfechter von freien Märkten und Dezentralisierung. Wie würde die EU ohne Grossbritannien aussehen? Wer würde wirtschaftlich und politisch am Meisten verlieren?
Zusammenfassung
Während die wirtschaftlichen Konsequenzen für England im Falle des Verlassens der EU schwer vorherzusagen sind, ist der Einfluss auf den Rest Europas gleichermassen unkalkulierbar. Die Effekte wären sicherlich weitaus dramatischer und negativer denn die, die aus einem ‘Grexit’ erwachsen würden. Der Status der EU als ein wettbewerbsfähiger und verlässlicher globaler Akteur könnte gefährdet sein, da der Kontinent wirtschaftlicher und politischer Sklerose erliegt. Die grössten Verlierer könnten Irland, Grossbritanniens nächstgelegener Nachbar, und Deutschland, sein wichtigster Verbündeter und Handelspartner in Europa, sein.
Nach den Wahlen in Griechenland im Frühjahr 2015 hat sich die Finanzkrise in diesem Land verschärft, was die Möglichkeit, dass Griechenland die Eurozone verlässt in den Mittelpunkt der Notfallplanung in Brüssel und Frankfurt gebracht hat. Über Jahre hinweg hat die Europäische Union alles in ihrer Macht stehende getan, – inklusive Schritte, die vormals als unmöglich galten oder den rechtlichen Rahmen gesprengt haben – um das Gespenst eines ‘Grexit’ abzuwenden. Ansonsten, wie uns die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere wissen liessen, ‘wäre Europa gescheitert’.
Aber wie verhält es sich mit Grossbritannien, welches schon viel länger mit dem Gedanken eines Lebens ausserhalb der EU spielt? Nur wenige Menschen ausserhalb des Landes scheinen sich überhaupt über ein Verlassen der EU Gedanken zu machen. Aber nach dem Überraschungswahlsieg von Premierminister David Camerons Konservativen ist es klar, dass es zum ja oder nein zur EU eine Volksabstimmung noch vor 2017 geben wird. Ob die Briten dafür stimmen werden in der EU zu verbleiben ist ungewiss.
Massive Konsequenzen
Es ist nicht nur, dass die Gefahr eines ‘Brexit’ real ist. Seine Konsequenzen übertreffen die eines ‘Grexit’ gewaltig. Grossbritannien steht für 15 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU, was es mit deutlichem Abstand zu Frankreich zur zweitgrössten Volkswirtschaft des Blocks macht. Wenn der günstige demografische Trend anhält, könnte Grossbritannien innerhalb von 30 Jahren Deutschland als Europas grösste Volkswirtschaft überholen. Im Gegensatz dazu liegt Griechenlands Anteil am BIP der EU bei gerade mal 1,3 Prozent.
Die rein wirtschaftlichen Folgen eines ‘Brexit’ sind schwer zu kalkulieren, sowohl für England als auch für seine Handelspartner aus der EU. Sie hängen massgeblich davon ab, welche Nach-‘Brexit’ Vereinbarungen eine neue Regierung in Grossbritannien, die dann höchstwahrscheinlich nicht mehr von David Cameron geführt wird, mit Brüssel zu verhandeln in der Lage sein wird. In unserem früheren Report „Ohne Veränderung der EU keine Mitgliedschaft Grossbritanniens“, vom 17. Juni 2015 bezogen wir uns auf eine umfassende Studie des Think Tanks Open Europe, in welchem versucht wurde, den Nettoeffekt für Grossbritannien im Fall eines Verlassens der EU abzuschätzen. Unter der Annahme eines ‘politisch realistischen’ Szenarios, in dem bilaterale Handelsvereinbarungen zwischen Grossbritannien und der EU getroffen werden, und in Abhängigkeit von der Bereitschaft der britischen Regierung ihre neue Souveränität für pro-Markt-Reformen zu nutzen, könnte Grossbritannien bis 2030 einen ‘dauerhaften Verlust’ in einer Grössenordnung von 0,8 Prozent des BIP erleiden oder einen Zuwachs in einer Grössenordnung von 0,6 Prozent des BIP verbuchen. Im schlimmsten Fall, unter der Annahme, dass keine neuen Handelsabkommen getroffen werden und einer daraus sich ergebenden wirtschaftlichen Isolation, würde der komplette Output in Grossbritannien um 2,2 Prozent sinken.
Wachstumsverzicht
Was würde dies für Grossbritanniens europäische Handelspartner bedeuten? Natürlich ist der internationale Handel kein Null-Summen-Spiel in dem andere europäische Volkswirtschaften das hinzugewinnen, was Grossbritannien verliert. Im Gegenteil, Handel ist ein Positivsummenspiel und neue künstliche Handelsbarrieren würden beide Seiten treffen.
Die deutsche Bertelsmann Stiftung schätzt, dass die EU (ohne Grossbritannien) zwischen 0,1 und 0,36 Prozent an realem BIP pro Kopf, aufgrund des Verzichts auf Wachstum im Aussenhandel, verlieren würde. Abhängig von dem Ausmass der Isolation Grossbritanniens, würde Deutschlands reales BIP pro Kopf um zwischen 0,1 und 0,3 Prozent, allein durch Handelseffekte, bis 2030 schrumpfen.
Die einzelnen Industrien würden in unterschiedlicher Höhe unter dem Verlust an Exportgeschäft mit Grossbritannien leiden. Am meisten wäre die deutsche Automobilindustrie betroffen, deren Gesamtverkauf um bis zu zwei Prozent zurückgehen würde. Die Elektronik-, Metall- und Nahrungsmittelindustrie würde ebenfalls negative Auswirkungen erleben.

Weniger Innovation
Diese Zahlen stellen nur den statischen Effekt erhöhter Handelsbarrieren und Transaktionskosten dar. Unter einem dynamischen Blickwinkel betrachtet könnten die Kosten eines ‘Brexit’ für alle Beteiligten viel höher sein. Diese könnten weniger Wettbewerb, weniger Innovation und eine weniger effiziente Verteilung von Arbeit mit einbeziehen. Ihre potentiellen Kosten hinsichtlich eines geringeren Wirtschaftswachstums sind sogar noch schwieriger im Voraus zu berechnen als im Fall der statischen Effekte.
Die Vorstände grosser deutscher Firmen, die in Grossbritannien tätig sind, waren in der Betonung ihrer Sorgen bei einem möglichen ‘Brexit’ nicht zurückhaltend. Ca. 2’500 deutsche Firmen, im wesentlichen aus den Bereichen Energie, Fertigung, Transport und Finanzen, beschäftigen 500’000 Menschen in Grossbritannien. Unter diesen Investoren sind so führende globale Marken wie BASF, BMW, DHL, ThyssenKrupp und Volkswagen zu finden.
Paul Kahn, Leiter der britischen Unternehmenseinheit des europäischen Luft- und Raumfahrtkonzerns Airbus, warnte kürzlich vor dem ‘gewaltigen’ Risiko einer wirtschaftlichen Disruption, ausgelöst durch einen möglichen Rückzug aus der EU. Alles was Airbus in Grossbritannien herstellt, zusammen mit Investitionen, Research und Arbeitsplätzen für 16’000 örtliche Arbeitnehmer und viele mehr bei den Lieferanten des Unternehmens, hängt von einer industriellen Organisation und Integration auf Grundlage einer europaweiten Zusammenarbeit ab, sagte Kahn.
Die Steuerzahler der EU Mitgliedsstaaten sollten ebenfalls besorgt sein. Grossbritannien ist der zweitgrösste Nettoeinzahler, nach Deutschland, für das Budget der EU. In 2013 haben die Steuerzahler Grossbritanniens, gemäss einem Bericht der britischen Zeitung The Telegraph, 10,8 Milliarden Euro mehr in die EU einbezahlt, als sie dem EU-Topf entnommen haben. Gemäss einer Studie der Bertelsmann Stiftung müssten, um die fehlenden Einnahmen im Budget der EU im Fall eines britischen Exits auszugleichen, die deutschen Steuerzahler jedes Jahr 2,5 Milliarden Euro mehr für das EU Budget aufbringen. Jährlich wären für die französischen Steuerzahler 1,9 Milliarden Euro fällig, Spanien müsste nahezu 1 Milliarde Euro mehr einzahlen.
Irlands Probleme
Keine Frage,- das Land, das bei einem ‘Brexit’ am schwersten getroffen würde, ist Irland. Wie ein kürzlich verfasster Report von Open Europe zeigt, würde sich das Wachstum Irlands, sollte Grossbritannien die EU verlassen, um zwischen 1,1 und 3,1 Prozent im Zeitraum bis 2030 verlangsamen.
Grossbritannien ist Irlands grösster einzelner Handelspartner. Eine Milliarde Euro an Waren und Dienstleistungen werden zwischen den beiden Ländern, deren Lieferketten eng miteinander verflochten sind, jede Woche gehandelt. Irland importiert eine grössere Menge an Öl und Gas aus Grossbritannien als die Ukraine aus Russland.
Irland ist auch ein bedeutender Agrarexporteur und ein noch bedeutenderer Importeur britischer Gebrauchsgüter. Obwohl viele in Grossbritannien damit argumentieren, dass ein Verlassen der EU dem Land erlauben würde, sich mehr auf Exporte in die BRICS Länder zu konzentrieren, bleibt die Wahrheit, dass Grossbritannien im letzten Jahr mehr
nach Irland denn nach China exportiert hat. Diese Verkäufe beliefen sich auf 30 Milliarden US$ im Jahr 2014 und machten somit das doppelte aller Exporte Grossbritanniens nach Russland, Indien, Brasilien und Südafrika zusammen aus.
Einige behaupten, es könnte einen signifikanten Anstieg an ausländischen Direktinvestitionen (FDI) in Irland geben, da multinationale Unternehmen und Finanzdienstleister mit Sitz in Grossbritannien nach Dublin auswandern, um innerhalb des EU Binnenmarktes zu bleiben. Diese Auswirkung ist ziemlich unwahrscheinlich. Alle daraus resultierenden ausländischen Direktinvestitionen könnten in der Tat Spannungen innerhalb der Republik verstärken, da sie Dublins Wirtschaft aufrecht erhalten, während die auf Britannien fokussierten Exporteure in den ärmeren nördlichen und nordwestlichen Regionen bestraft würden.
Wiederauflebende Konflikte
Ohne Grossbritannien würden Deutschland und sein schwindender Kreis an Verbündeten, die offene Märkte, Freihandel und Deregulierung bevorzugen, ihre Veto-Macht bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit verlieren.
Ein ‘Brexit’ wäre besonders schmerzhaft für Nordirland. Mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Zöllen, die den von Grossbritannien und der Irischen Republik kontrollierten Bezirk Ulster trennen würde, würde sich die Region mit einem überproportionalen Rückgang in Handel und Beschäftigung konfrontiert sehen, was möglicherweise den Weg für ein Aufleben alter politischer Konflikte ebnen würde.
In der Tat, es sind mehr die politischen, denn die wirtschaftlichen Kosten eines ‘Brexit’, welche viele EU Mitglieder für David Camerons Reformagenda empfänglich machen könnten.
Wie würde sich das interne Machtgleichgewicht in der EU ohne Grossbritannien verschieben? Die wichtigste Einrichtung ist der Rat der Europäischen Union, oder der Ministerrat, wo die Regierungen Europas sich treffen, um die Politik der EU zu diskutieren und festzulegen.
Bis jetzt gab es im Rat ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den Vertretern von Ländern, die für freie Märkte eintreten und Vertretern protektionistischer und interventionistischer Nationen. Jedes Lager verfügte über etwas mehr als 35 Prozent der Stimmen, die für ein qualifiziertes Veto benötigt wurden. Die anderen Mitgliedsländer agierten in der Wirtschaftspolitik als Wechselwähler.

Merkel weiss
Ohne Grossbritannien würden Deutschland und sein schwindender Kreis an Verbündeten (inklusive Irland, den Niederlanden und den Baltischen Staaten), die offene Märkte, Freihandel und Deregulierung bevorzugen, ihre Veto-Macht bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit verlieren.
Der ewige Richtungsstreit in der EU zwischen der deutschen ‘Ordnungspolitik’ und der französischen ‘Planungspolitik’ wäre erledigt. Deutschland würde auf ganzer Linie schlecht wegkommen.
Man kann sich sicher sein, dass Angela Merkel dies weiss.
Wenn Camerons Vorschläge an die EU komplett zurückgewiesen werden und ein ‘Brexit’ folgt, hat die EU gezeigt, dass sie nicht fähig zu Reformen ist. Die unvermeidliche Folge wird eine weitergehende Verkümmerung des Handelsblocks hin zu einer zentralisierten Transfer- und Regulierungsmaschine sein, deren harmonisierte Steuer- und Sozialsysteme weiterhin Europas Wettbewerbsfähigkeit und seine demokratische Verantwortung aushöhlen.
Dieser Bericht wurde von Professor Dr. Michael Wohlgemuth verfaßt und wird unseren Mitgliedern mit freundlicher Genehmigung von © Geopolitical Information Service AG, Vaduz zur Verfügung gestellt:
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