Indem sie ihnen die Schuld für ihre nationalen Probleme zuschieben, benutzen Politiker die EU und den Euro, um ihr Profil zu schärfen und um ihre Popularität zu steigern. Diese beiden Sündenböcke lenken die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen ab. Doch Europas Politikern fehlt es an Mut und an der Vision, kurzfristig den großen Schritt zu wagen – und die EU oder den Euro zu verlassen.
Zusammenfassung:
Während das Wirtschaftswachstum in Europa praktisch gen Null tendiert und die Angst vor einer möglichen zukünftigen Krise aufkommt, werden die Euroskeptiker immer lauter. Die öffentliche Meinung in einigen EU-Ländern, wie in Großbritannien, schiebt die Schuld auf die gesamte Regulierungs-Architektur der EU. In anderen Ländern – wie Italien, Frankreich oder Griechenland – machen die Kritiker eher den Euro verantwortlich und sie fordern ein System aus nationalen Währungen. Doch kein Land wird die EU in naher Zukunft verlassen. Die meisten Europäer mögen eine paternalistische Politik, Sicherheitsnetze und Garantien – und die EU erfüllt diese Anforderungen. Der Austritt aus dem Euro wirft andere Probleme auf, er ist nur für Länder am Rande des Bankrotts, die die EZB nicht mehr unterstützt, realistisch. Doch auch dies ist kurzfristig unwahrscheinlich, wenn es den europäischen Politikern an der Vision und dem ideologischen Engagement zum Handeln fehlt.
Report:
Drei Monate nach ihrem Erfolg bei den Europawahlen im Mai 2014 haben die Euroskeptiker im Europäischen Parlament nur wenig Einfluss. Neue Regelungen werden weiterhin unvermindert und wie am Fließband produziert und Brüssels Vorstöße für eine zentralisierte und ausgeweitete Politik intensivieren sich quasi ohne Widerstand.
Dennoch steigt die Unzufriedenheit über die europäischen Institutionen auf lokaler Ebene weiter an. Die Proteste reichen von der Bitte, die Europäische Union zu verlassen und möglicherweise die Beitritts-Bedingungen neu zu verhandeln, bis hin zu einem wahren Aufruhr gegenüber dem Euro. Die Anti-EU-Gefühle werden in den Ländern stärker, in denen die nationale Souveränität umfassend verwurzelt ist, während Anti-Euro-Gefühle in den Volkswirtschaften verbreitet sind, die von der Krise betroffen sind.
Die Unzufriedenheit mit den europäischen Behörden wird uns für Jahre erhalten bleiben
Großbritannien und Italien sind typische Beispiele für diese Situationen. Die entsprechenden Daten sind zwar schwer zu bekommen, doch Beobachter sind sich einig: Obwohl die meisten Briten gegen einen EU-Austritt stimmen würden, wären viele von ihnen froh, die Mitgliedschaftsbedingen neu zu verhandeln – die so genannte „Zero plus“-Roadmap, die die Aufnahme von Verhandlungen beim Nullpunkt ermöglichen würde. In Italien ist es ähnlich: Nur ein Drittel der Bevölkerung möchte die Lira wieder in Umlauf bringen, doch die überwiegende Mehrheit der Italiener ist zutiefst unglücklich über die europäische Gemeinschaftswährung und glaubt, dass das Euro-Projekt äußerst mangelhaft ist.
Was also soll man daraus machen? Ist die Zukunft der EU und des Euro zweifelhaft? Könnten in den kommenden drei oder vier Jahren neue Formen der Politik- und der Währungs-Union entstehen oder sind die Anti-EU/Euro-Gefühle nur Augenwischerei und ein Instrument der lokalen Politik, um die Aufmerksamkeit von ihren eigenen Fehlern abzulenken? Ist das ein Weg für Politiker, um die Ressentiments der Wählerschaft abzufangen, bevor diese Vorurteile neue politische Konkurrenten stärken können?
Es ist wahrscheinlich, dass sich kaum jemand über die EU und den Euro beschweren würde, wenn die wirtschaftliche Situation ermutigender und die Wachstumsaussichten ein wenig freundlicher wären. Der Durchschnitts-Europäer scheint sich nicht besonders um die internationalen Beziehungen, Handelsverträge oder die Geldpolitik zu kümmern – alles Bereiche, in denen die EU eher eine schlechte Figur macht. Die EU-Regulierung ist schwerwiegend und durchdringend. Dennoch sieht sie der typische Wähler als eine Garantie für seine Gesundheit und Sicherheit an, als eine Verteidigungs-Bastion gegen den Raubtier-Kapitalismus und als einen starken Anwalt der egalitären Fairness – jedenfalls wird sie kaum als eine Bedrohung für das Unternehmertum und das Wirtschaftswachstum betrachtet.
Die EU und der Euro bleiben die idealen Kandidaten, so lange Sündenböcke benötigt werden, die die Schuld auf sich nehmen. Die Unzufriedenheit mit den europäischen Behörden und/oder mit den führenden EU-Ländern wird uns noch für Jahre erhalten bleiben. Doch dies bedeutet nicht, dass die Europäer wirklich den Kern der Projekte, die sie kritisieren, in Frage stellen. Das Muster, nach dem die Europäische Union ihre Institutionen im vergangenen Jahrzehnt geformt hat, wird sich in naher Zukunft nicht verändern und unsere Prognose für diese Stabilität beruht auf zwei Argumenten.
Die EU ist von enormer Trägheit
Erstens: Die Europäer mögen generell einen gewissen Egalitarismus – sie haben nichts gegen die Umverteilung und mögen einen erweiterten Wohlfahrtsstaat. Der Großteil der keynesianischen Gesamtnachfrage-Rezepte zur Ankurbelung des Wachstums in der EU ist beliebt, weil sie die Illusion erzeugen, dass man Wachstum schaffen kann, ohne die staatlichen Eingriffe zu reduzieren. Die einzige Ausnahme von dieser allgemeinen Vision ist Schweden, das wichtige Reformen umgesetzt hatte, als klar wurde, dass der Staatshaushalt nicht nachhaltig war. Der Wohlfahrtsstaat in Schweden unterschied sich stets von dem in den meisten europäischen Ländern. Das schwedische Modell ähnelt einer beiderseitigen Vereinbarung, sich gegenseitig zu helfen. Es taugte kaum jemals als ein populistisches Instrument, um unverantwortliche Wähler zu gewinnen.
Angesichts der ihm zur Verfügung stehenden, relativ bescheidenen Mittel dürfte der EU-Sozialstaat nicht allzu großzügig ausfallen. Die Frage, welche Art von Wohlfahrtsstaat die EU hervorbringen wird – ein skandinavisches Modell oder eher eines, das sich an den Staaten des Mittelmeers orientiert –, ist strittig. Die grundsätzliche Idee ist ja, dass der Wohlfahrtsstaat eine Übertragung der Verantwortung vom Individuum auf eine zentrale Behörde beinhaltet und die EU fiele genau in solch einen kulturellen und mentalen Rahmen.
Derzeit verhindert noch der Nationalstolz die transparente Übertragung von Mitteln des Steuerzahlers nach Brüssel, doch dies wird Brüssel nicht davon abhalten, den nationalen Regierungen vorzuschreiben, was sie mit diesen Ressourcen anstellen sollen. Wir argumentieren, dass die meisten Menschen mit dieser Aussicht glücklich sein werden. Zweitens ist die EU von enormer Trägheit. Ihre politischen Führer verfügen in der Regel nicht über die ideologische Festigkeit, die erforderlich wäre, um mit den Spannungen und Schwierigkeiten, die bei einer Sezession auftreten, umzugehen. Schließlich leben wir in einer Welt, in der Demokratien oft jene Kandidaten abstrafen, die die Staatskunst beherrschen, und in der Kommunikations-Fähigkeiten belohnt werden – unabhängig davon, was tatsächlich gesagt wird.
Trägheit bedeutet, dass eine Sezession bestenfalls harte Arbeit mit unsicheren langfristigen Erfolgen beinhaltet. Nur wenige Politiker haben die entsprechende Vision, um solch einen Weg zu gehen, so dass die Vorschläge zu einer Neuverhandlung der EU-Verträge vermutlich sinnlos sind. Dies gilt vor allem, wenn sie eine „Zero plus“-Strategie verfolgen, wie Martin Howe, der britischen EU-Rechtsexperte, der diesen Begriff erfunden hat und dem der britische Premierminister David Cameron seit kurzem viel Aufmerksamkeit schenkt. Howes einfache, aber leistungsfähige „Zero plus“-Strategie schlägt vor, dass die Verhandlungen, unter denen das Vereinigte Königreich weiterhin zu Europa gehören würden, bei Null beginnen müssen – ein leeres Blatt, auf dem die britischen Vereinbarungen mit Brüssel für die Zukunft neu festgelegt werden.
Belastbare Ideen und eine gefestigte Führung
Was also ist mit dem Euro? Ist es realistisch, anzunehmen, dass einige Länder die Eurozone in den kommenden Jahren verlassen werden? Die Antwort auf diese Frage entstammt einer einfachen Beobachtung. Diejenigen, die den Austritt aus dem Euro befürworten, sind in der Regel die gleichen Leute, die das Problem der Staatsverschuldung durch eine Monetarisierung der Schulden lösen wollen – also durch das Drucken des benötigten Geldes, um neu ausgegebene Anleihen zu kaufen und/oder um die alten Anleihen zurückzuerstatten, die die Fälligkeit erreichen. Doch von dieser Perspektive aus wird die Zukunft des Euro in einer Reihe von kritischen Ländern – etwa in Griechenland, Italien, Portugal und möglicherweise Frankreich – von der Europäischen Zentralbank bestimmt werden anstatt von ihren nationalen Regierungen.
Wenn die Zentralbank die Zahlungsfähigkeit der Krisenländer garantiert und die Zinsen niedrig hält und so einen billigen Schuldendienst ermöglicht, gibt es keine Notwendigkeit, zahlungsunfähig zu werden oder den Euro zu verlassen. Doch sollte die EZB anders entscheiden und die problembehafteten Volkswirtschaften auflaufen lassen, haben die nationalen Politiker noch zwei Möglichkeiten. Sie könnten die Zahlungsunfähigkeit erklären, so dass die ausstehenden Schatzwechsel wertlos werden und die Schulden binnen Sekunden verschwunden sind. Oder sie könnten den Euro verlassen und die Schulden monetarisieren.
Wenn diese Länder unter einem Primärdefizit leiden – wo die Staats¬einnahmen niedriger als die eigent¬lichen Staats¬ausgaben sind –, wird ein Zahlungsausall nicht ausreichen und neu zu gründende Nationalbanken müssten Geld drucken, um das neue Defizit zu finanzieren. Bedenkt man die vorhandene institutionelle Trägheit und den Mangel an politischem Mut, ist es unwahrscheinlich, dass ein Land – unabhängig von der öffentlichen Meinung – den Euro spontan verlassen wird. Allerdings könnte der Druck seitens der EZB ein Land sofort zwingen, den Euro zu verlassen – dies könnte zum Beispiel passieren, wenn sich die geldpolitischen Prioritäten der Bank verändern sollten.
Das derzeitige institutionelle Umfeld, das die EU charakterisiert, und der Euro scheinen stabil. Die Staats- und Regierungschefs könnten die steigende Unzufriedenheit in ihren Heimatländern dazu benutzen, um ihre Popularität zu steigern und/oder um mögliche Konkurrenten daran zu hindern, Vorteile aus den unerfüllten populistischen Forderungen zu ziehen. Diese nationalen Führungspersönlichkeiten könnten den Groll gegen die EU oder den Euro als eine Möglichkeit ansehen, ihre Verhandlungsmacht in Brüssel oder in Straßburg zu stärken. Doch man benötigt belastbare Ideen und eine gefestigte Führung, um eine historische Entscheidung zu treffen – und in nahezu ganz Europa ist heute weder das eine noch das andere zu finden.

Dieser Bericht wurde von Professor Enrico Colombatto verfaßt und wird unseren Mitgliedern mit freundlicher Genehmigung von © Geopolitical Information Service AG, Vaduz zur Verfügung gestellt: www.geopolitical-info.com
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