Am 4. November 2024 veranstaltete United Europe einen Roundtable in Paris mit Enrico Letta (Präsident des Jacques-Delors-Instituts, ehemaliger Dekan der School of International Affairs an der Sciences Po Paris (PSIA) und ehemaliger italienischer Premierminister). Letta präsentierte Auszüge aus seinem Report „Much more than a market“ vom April 2024 zur Förderung des Binnenmarktes der EU. Das Treffen fand in einem exklusiven Rahmen mit 20 Teilnehmern statt und beinhaltete eine Frage-und-Antwort-Runde, in der Enrico Letta die Herausforderungen und zukünftigen Chancen der europäischen Wirtschaftsintegration beleuchtete und den europäischen Motor der deutsch-französischen Zusammenarbeit diskutierte.
Seit Jacques Delors das Konzept des Binnenmarktes 1985 einführte, hat sich die EU weiterentwickelt und besteht nun aus 27 Mitgliedstaaten mit zunehmend komplexer Gesetzgebung und potenziellen Vorteilen durch Skaleneffekte. Lettas Bericht, der vom Europäischen Rat in Auftrag gegeben wurde, bietet einen strategischen Plan zur Vertiefung des Binnenmarktes in der kommenden Amtszeit der Europäischen Kommission und fordert sofortiges Handeln.
Finanzierung strategischer Ziele: Die Ambitionen der EU – wie der grüne und digitale Wandel, Verteidigungsfähigkeiten und eine mögliche Erweiterung – stehen vor erheblichen finanziellen Herausforderungen. Letta argumentiert für eine Nutzung des Binnenmarktes zur Mobilisierung sowohl privater als auch öffentlicher Mittel, beginnend mit einer Spar- und Investitionsunion, die auf der unvollständig gebliebenen Kapitalmarktunion aufbaut.
Unvollständige Kapital- und Bankenunion: Ein großes Defizit im Binnenmarkt besteht in der fehlenden einheitlichen Kapital- und Bankenunion. Hier ist die Schaffung eines einheitlichen Kapitalmarktes im Rahmen einer Spar- und Investitionsunion als Weiterentwicklung der unvollständig gebliebenen Kapitalmarktunion von großer Wichtigkeit. Ursprünglich konzipiert, um London als Finanzzentrum Europas zu sichern, führte der Brexit zu einer Neuorientierung, wobei jetzt Paris die Europäische Bankenaufsichtsbehörde beherbergt. Eine Veränderung, die von einigen Mitgliedstaaten, wie Luxemburg, abgelehnt wird. Grenzüberschreitende Fusionen, wie der Übernahmeversuch der Commerzbank durch Unicredit, verdeutlichen das Fehlen von Kohärenz in den Finanzregulierungen und den Widerstand gegen eine vollständige Integration des Bankensektors.
Förderung privater Beteiligung: Um den Binnenmarkt weiter voranzutreiben, betont Letta die Notwendigkeit robuster Finanzmärkte, die private Investitionen in öffentliche Projekte fördern und so den kostenintensiven Weg zur vollständigen Integration machbar machen.
Europäischer Kodex des Wirtschaftsrechts: Enrico Letta setzt sich für einen europäischen Kodex des Wirtschaftsrechts ein, um den Binnenmarkt der EU zu vereinheitlichen und ein standardisiertes „28. Regime“ für Unternehmensaktivitäten in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Dieser Kodex soll das komplexe Geflecht nationaler Vorschriften vereinfachen und den grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr innerhalb der EU erleichtern. Durch die Kodifizierung des Wirtschaftsrechts auf europäischer Ebene glaubt Letta, dass die EU besser mit größeren Märkten wie den USA konkurrieren und die Expansion innerhalb Europas attraktiver machen kann, insbesondere für Start-ups.
Infrastruktur: Lettas Bericht thematisiert auch die fragmentierte Situation in den kritischen Infrastruktursektoren wie Transport, Energie und Telekommunikation, die noch weitgehend auf nationaler Ebene verwaltet werden. Beispielsweise fehlt Europa ein einheitliches Hochgeschwindigkeitsbahnnetz, das die großen Städte verbindet. Die Energie- und Telekommunikationssektoren haben ähnliche Probleme, nationale Grenzen und bestehende Interessen behindern eine reibungslose Zusammenarbeit. Letta schlägt einfache, aber symbolträchtige Reformen wie die Einführung einer einheitlichen europäischen Vorwahl vor, um eine stärker integrierte europäische Identität und Funktionsweise zu fördern.
Verteidigungsausgaben: Enrico Letta betont die Bedeutung einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben in Europa, um den wachsenden Sicherheitsherausforderungen, insbesondere aufgrund des Krieges in der Ukraine, zu begegnen. Er ist der Ansicht, dass eine starke europäische Verteidigungspolitik die Abhängigkeit von den USA verringern und eine größere strategische Autonomie für den Kontinent ermöglichen würde. Letta fordert eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb der EU, um kollektive Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten aufzubauen. Derzeit fließen von den 140 Milliarden Euro, die Europa zur Unterstützung der Ukraine bereitgestellt hat, 80 % in Projekte außerhalb der EU (vor allem in die USA, die Türkei und Südkorea), sodass nur 20 % Europa zugutekommen. Letta argumentiert, dieses Verhältnis sollte umgekehrt werden – 80 % zugunsten Europas –, um die Schaffung lokaler Arbeitsplätze zu fördern und die öffentliche Unterstützung der EU-Steuerzahler zu gewinnen.
Letta weist darauf hin, dass die Verteidigung nicht Teil des EU-Binnenmarkts ist und die Mitgliedstaaten größtenteils nationalen Strategien folgen. Das erhöht die Kosten, schafft Komplexität und schränkt die Interoperabilität ein, was letztlich die gesamte Verteidigungsfähigkeit Europas schwächt. Größere europäische Investitionen in die Verteidigung könnten auch eine Gelegenheit sein, die Zusammenarbeit mit Großbritannien zu erneuern, da beide Seiten Interesse an der Entwicklung eines gemeinsamen Verteidigungsmarkts zeigen.
Die Zeit zum Handeln ist jetzt: Der Letta-Bericht liefert überzeugende Argumente für dringendes Handeln. Letta unterstreicht, dass jetzt der Moment für entschlossene Schritte gekommen ist; die Verwirklichung eines vollständig integrierten Binnenmarkts erfordert jetzt politischen Willen und konkrete Maßnahmen der EU-Führung.
Ursula von der Leyen hat den Letta-Bericht ernst genommen und mehrere Vorschläge in die Mandatsschreiben an ihre neuen Kommissare aufgenommen. Auch die europäischen Bürger sehen Reformen des Binnenmarkts positiv. Man bedenke, wie viel Widerstand es gegen den Euro gab – und doch zeigen Umfragen, dass mittlerweile 75 % der Bürger in den Ländern der Eurozone mit der gemeinsamen Währung zufrieden sind. Die Einführung des Euro wurde erfolgreich umgesetzt, doch Europa hat nach wie vor keinen integrierten Finanzdienstleistungssektor.
Die Umsetzung dieser Vorschläge wird vom politischen Engagement vieler unterschiedlicher Akteure abhängen. Die größte Bedrohung für die Umsetzung des Berichts wäre die Verbannung in ein düsteres Archiv – wo er ungelesen und ungenutzt bleiben würde.
Wir danken Enrico Letta sehr für seine Teilnahme und engagierte Diskussion und unseren Vorstandsmitgliedern Paulius Kuncinas und Marcus Lippold für die Unterstützung bei der Realisierung des Roundtables und unserem Präsidenten Günther H. Oettinger für seine Eröffnungsrede.