„Die Digitalisierung ist ein wichtiger Teil unseres täglichen Lebens und unserer industriellen Wettbewerbsfähigkeit.“ Günther H. Oettinger, Präsident von United Europe, betonte in der Einleitung der Lecture von Prof. Dr. Pousttchi, dass der europäische digitale Binnenmarkt und die europäische Souveränität entscheidend sind. „Die Digitalisierung von Gesellschaften und Industrien muss eine europäische Dynamik entwickeln.“
Dr. Pousttchi vergleicht die Digitalisierung mit einem Dreieck, dessen drei Seiten für Technologie, die Wirtschaft und für menschliches Verhalten und Gesellschaft stehen. Er betonte hier, dass diese drei Seiten dabei nicht voneinander getrennt seien, vielmehr sind sie voneinander abhängig. Der entscheidende Unterschied zwischen der realen und einer falsch verstandenen Form der Digitalisierung liege darin, ihre Wechselwirkungen zu verstehen. Das erfordert ein profundes Wissen aus allen drei Bereichen. Andernfalls ist es nicht einmal möglich, die richtigen Fragen zu stellen, geschweige denn, die richtigen Antworten zu erhalten. Große Firmen wie Google, Apple, Amazon oder Facebook sind nicht daran interessiert, die Wahrheit über die Auswirkungen ihres Handelns zu verbreiten.
Forschungen zeigen, welchen Einfluss die Tech-Riesen auf die Old Economy haben und wie neueste Technologie, Big Data und künstliche Intelligenz es ihnen ermöglichen, die Kontrolle zu übernehmen und zwischen der Old Economy und ihren Kunden zu interagieren. Dies erlaubt eine Monopolisierung der Schnittstelle zwischen dem End-Benutzer und Kunden und übernimmt den kompletten Spielraum der Old Economy – das zukünftige Geschäftsmodell der Tech-Riesen. User, Unternehmen oder sogar Regierungen wollen von dieser Wahrheit nichts wissen. Es ist beängstigend, wozu Apple oder Google mit Mobiltelefonen in der Lage sind. Das Ergebnis: Milliarden von Euro werden aus Steuergeldern investiert, um die Lücken in den Mobilfunknetzen zu schließen, anstatt die Verteilung von Frequenzen neu zu organisieren.
In Unternehmen werden digitale Projekte so gesteuert und entwickelt, dass sie die Kernfunktionalität des Unternehmens nicht stören. Von außen sieht es digital aus, aber im Inneren werden die traditionellen Arbeitsprozesse bewahrt: Die Fassade wird digitalisiert, es entstehen digitale Potemkinsche Dörfer. Bereits die Studie „Management in the 1990s“ des Massachusetts Institute of Technology ergab, dass für optimalen IT-Einsatz Technikkenntnisse notwendig sind, aber nicht hinreichend – sondern dass der entscheidende Schritt ist, die Geschäftsprozesse neu zu denken. Dies gilt für moderne digitale Technologien uneingeschränkt weiter.
Was muss in Europa getan werden? Der Bildungsbereich muss reformiert werden: Junge Menschen sind nicht nur „Digital Natives“, sondern auch „Digital Naives“. Das Bildungssystem hat sie im Stich gelassen, da Informatik nach 30 Jahren immer noch kein Pflichtfach an den Schulen ist. Milliarden von Euro werden in die Schulen investiert, um Wi-Fi und Internetzugang aufzubauen und Endgeräte anzuschaffen, anstelle den gesamten Weg des Lernens neu zu überdenken und neu zu definieren. Bildung ist die erste Aufgabe, die unmittelbar angegangen werden muss.
Kleine und mittlere Unternehmen müssen in der Lage sein, die digitale Welt für sich zu erobern und die Bereiche Wertschöpfung, Wertversprechung und Kundeninteraktion neu zu definieren. Unternehmen müssen ihre Arbeitsprozesse mit der neuen Technologie neu überdenken. Europa braucht innovative Produkte und neue Geschäftsmodelle. Vor allem: Europa kann nicht alle Probleme durch Regulierung lösen. Europa braucht Innovationen, um wieder wettbewerbsfähig zu werden.
Betrachtet man den Erfolg der großen Unternehmen aus dem Silicon Valley, liegt der in ihrem technischen Know-how, nicht aber in ihrer Agilität auf der strategischen Ebene begründet. Ist der technische Aspekt erst einmal komplett verstanden worden, ist die Hauptaufgabe keine technische mehr: Es wird darum gehen, Geschäftsprozesse, Ertragsmodelle und Kundeninteraktion neu zu gestalten und am Ende eine neue Version des traditionellen Wirtschaftsmodells zu erarbeiten. Denn die Old Economy schafft Arbeitsplätze, während die New Economy nur Aktienwerte schafft.
Mit anderen Worten: Um die Zukunft der europäischen Unternehmen zu sichern, muss Europa sie einerseits digital umgestalten und andererseits die Regeln zielgerichtet ändern, damit die Unternehmen im Wettbewerb bestehen und zum Nutzen der Gesellschaft erfolgreich sein können. Und: Europa braucht Führungskräfte, die ausgebildet und bereit sind, diese Arbeit zu leisten.
Professor Key Pousttchi ist Experte für Digitalisierung und digitale Transformation, Autor von elf Büchern und professioneller Redner. Von 2015 bis 2020 hatte er den SAP-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Digitalisierung an der Universität Potsdam inne. Während der Corona-Krise schrieb er zwei neue Bücher, die im Herbst 2020 erscheinen werden: „Digitalisierung für Manager – Den digitalen Wandel systematisch verstehen, um das Unternehmen voranzubringen“ und „Die verblendete Gesellschaft – Warum uns keiner die Wahrheit über die Digitalisierung sagt“.
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