Mit der Machtverschiebung von der globalen Führung der USA zu einer bipolaren Welt mit einem aufstrebenden China scheint es, als kehre der Dschungel in die internationalen Beziehungen zurück, wie es Robert Kagan suggeriert. In diesem Zusammenhang stellt sich für Europa die Frage, ob es sich für seinen langjährigen Partner, die Vereinigten Staaten, und die transatlantischen Beziehungen entscheiden wird, oder für China, seinen langjährigen Konkurrenten und zweitgrößten Handelspartner. Und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die Wahrnehmung, dass sich die Vereinigten Staaten aus Europa zurückziehen, die Sicht der Europäer auf das Land ernsthaft beschädigt hat.
So nimmt zum Beispiel, trotz 70 Jahren Sicherheit und Wohlstand, die die transatlantischen Beziehungen gebracht haben, die öffentliche Unterstützung für die transatlantische Partnerschaft in Deutschland ab. Nach Angaben der Körber-Stiftung sagen nur 32 Prozent der Deutschen, dass das Verhältnis zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten einigermaßen gut sei. Knapp 52 Prozent befürworten das Streben nach mehr Unabhängigkeit in Verteidigungsfragen. Darüber hinaus sagen 50 Prozent, dass eine engere Bindung an die Vereinigten Staaten notwendig ist, während 24 Prozent für eine engere Bindung an China eintreten und 18 Prozent unsicher sind oder Äquidistanz als Alternative sehen.
Gleichzeitig sind die Tage vorbei, in denen sich die europäischen Staaten auf die Sicherheit der NATO verlassen und gleichzeitig den wirtschaftlichen Wohlstand fördern konnten. Sie müssen eine Entscheidung treffen: In einem Klima wachsender wirtschaftlicher, politischer und sicherheitspolitischer Herausforderungen muss Europa entscheiden, ob es seine Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten fortsetzen will. Die Neubewertung der Bündnisse und Verpflichtungen der USA stellt Europa vor die Herausforderung, die Fackel zur Verteidigung der Demokratie in der transatlantischen Partnerschaft in die Hand zu nehmen.
Europa kann nicht Anspruch auf eine globale Führungsrolle erheben, während es sich auf die Sicherheit der Vereinigten Staaten verlässt. Können die europäischen Länder den politischen Willen aufbringen, die transatlantischen Beziehungen neu zu gestalten und die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit zu übernehmen? Sie haben damit begonnen, ihr Defizit an militärischen Fähigkeiten zu beheben, indem sie ihr Engagement für eine gemeinsame Verteidigungspolitik verstärken und neue Instrumente der multilateralen Zusammenarbeit schaffen – darunter die Permanent Structured Cooperation (PESCO), den Europäischen Verteidigungsfonds und die Europäische Interventionsinitiative. Frankreich fordert strategische Autonomie für Europa, auch durch die Schaffung einer europäischen Armee.
Es gibt noch weitere Vorschläge. So schlägt Mark Leonard vom ECFR mehr „strategische Souveränität“ vor, bei der die EU-Mitgliedstaaten die nationale Souveränität im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik ausüben. In diesem Rahmen könnten einzelne Länder entscheiden, ihre Verpflichtungen gegenüber einer stärkeren EU neben der transatlantischen Partnerschaft, oder vielmehr autonom, zu erfüllen.
Solche Initiativen könnten es Europa ermöglichen, eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik erfolgreich umzusetzen – und unabhängiger von den Vereinigten Staaten zu werden. Das EU-Recht hindert die Mitgliedsstaaten nicht daran, unterschiedliche Sicherheitspolitiken zu verfolgen. Aber obwohl die Initiative ergriffen wurde, gibt es in den meisten EU-Mitgliedstaaten keine wirkliche Strategiedebatte, auch nicht in den großen.
Für eine strategischere Debatte in Deutschland
Die Europäische Union und insbesondere Deutschland – ihr wirtschaftlich und politisch einflussreichstes Mitglied – muss den politischen Willen finden, sich den Herausforderungen einer sich auflösenden Weltordnung zu stellen. Die Mitgliedstaaten müssen die Notwendigkeit einer langfristigen strategischen Debatte anerkennen, um die transatlantischen Beziehungen sowie die liberalen Werte und die Stabilität der Europäischen Union in einer Welt zu retten, die den Werten eines „Surviving of the fittest” gegenüber der Zusammenarbeit erliegt.
Es ist unwahrscheinlich, dass eine sinnvolle Debatte über europäische Sicherheitsfragen ohne die Unterstützung und den politischen Willen Deutschlands geführt werden kann. Aber es hat in dieser Hinsicht mit mehreren Hindernissen zu kämpfen: einem historischen Mangel an strategischem Denken, einer unruhigen Geschichte, der verfassungsmäßigen Unabhängigkeit der Ministerien innerhalb von Koalitionsregierungen und dem öffentlichen Widerwillen, eine internationale Führungsrolle zu übernehmen.
Die zwiespältige Reaktion Deutschlands, als die USA ihre Truppen aus Nordsyrien abzogen, war bezeichnend. Ohne Abstimmung mit dem Außenministerium schlug die konservative Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer eine Sicherheitszone unter Beteiligung der Bundeswehr vor. Der sozialdemokratische Außenminister Heiko Maas reagierte schnell mit einer Eigeninitiative, die die Autorität des Verteidigungsministeriums untergrub. Seine Partei erklärte, dass der Vorschlag der Verteidigungsministerin nicht in die richtige Richtung gehe. Dies zeigt, wie in einer Koalition die Parteipolitik eine strategische Debatte leicht behindern kann und macht die Notwendigkeit strategischer Weitsicht besonders deutlich.
Die Bildung eines Rates für strategische Zukunftsforschung als Instrument des Parlaments könnte die Grundlage für eine strategische Debatte in Deutschland fördern. Durch die Erörterung von Zukunftsszenarien und deren Auswirkungen sowie von Handlungsalternativen im Vorfeld von Ereignissen könnte die Tendenz zur reinen Krisenbewältigung verringern und neue Möglichkeiten eröffnen. Dies würde eine Atmosphäre des Handelns statt des Reagierens schaffen. Gleichzeitig würden diese Debatten die Öffentlichkeit informieren und die Politik beeinflussen, ohne in den politischen Entscheidungsprozess einzugreifen. Eine neue deutsche Strategiekultur, die Trends und ihre Auswirkungen auf die internationale Politik in den Mittelpunkt stellt, wird konkrete Risiken und Chancen besser antizipieren und alternative Optionen für die Politik bewerten können.
Durch die Berichte eines solchen Rates über globale Trends, Szenarien und Aktionspläne könnte das Parlament zu einer laufenden, informierten öffentlichen Debatte über Strategie, Außen- und Sicherheitspolitik beitragen. Regelmäßige Anhörungen in den Ausschüssen zur strategischen Vorausschau würden auch eine transparente und sachkundige Diskussion über die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, und die am besten geeignete Politik zur Bewältigung dieser Herausforderungen gewährleisten. Die Einladung von Vertretern verbündeter Länder zu diesen Anhörungen würde die Schaffung von europäischen Querschnittsideen und die Vertrauensbildung zwischen Deutschland und den europäischen Partnern fördern.
Kurzfristig würde die Schaffung eines Rates für strategische Zukunftsforschung die Politik über kritische Fragen informieren und in Deutschland zu einem sachkundigeren Politikgestaltungsprozess führen, der den Wählern garantiert, dass wichtige Themen im Parlament diskutiert werden. Langfristig könnte er die strategische Kultur des Landes in eine Kultur verwandeln, die Eliten und Politiker bei der Durchführung der notwendigen Strategie für das Land und Europa unterstützt – entweder durch die Stärkung ihrer wertebasierten systemischen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten oder durch den vollständigen Wiederaufbau.
James D. Bindenagel ist Senior Non-Resident Fellow des German Marshall Fund of the United States in Berlin und Mitglied von United Europe. Er war Gründungs-Henry-Kissinger-Professor und Direktor des Zentrums für Internationale Sicherheit und Regierungsführung (CISG) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Professor Bindenagel lehrt als Senior Professor und schreibt über internationale Sicherheit im 21. Jahrhundert. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind deutsche Sicherheitsfragen, deutsch-amerikanische Beziehungen, Konfliktprävention, Post-Konflikt-Gerechtigkeit und die transatlantischen Beziehungen.
Bindenagel ist ehemaliger US-Botschafter und diente als amerikanischer Diplomat in Ost, West und im vereinigten Deutschland zu Zeit des Berliner Mauerfalls, des Endes des Kalten Krieges, der Vereinigung Deutschlands, der Balkankriege, der Debatten über die Sicherheitspolitik der Nordatlantikvertragsorganisation und die Erweiterung der NATO-Mitgliedschaft sowie der nationalen Sicherheit Deutschlands von 1972 bis 2002. Er diente als stellvertretender US-Botschafter (DCM) in Ostdeutschland (1989 – 1990) und als DCM und Amtierender Botschafter im wiedervereinigten Deutschland (1994 – 1997). Er wurde 1999 von Präsident Bill Clinton zum US-Botschafter und Sondergesandten für Holocaust-Fragen ernannt und war US-Sondervermittler für „Konfliktdiamanten“.
Der Artikel wurde erstmals am 14. Februar 2020 auf der Website des German Marshall Fund veröffentlicht.
Weitere aktuelle Texte von Prof. James D. Bindenagel:
. „Raus aus der Komfortzone: Frühzeitige Kooperation und Reflexion können außenpolitische Entscheidungen optimieren“. Ein Gastbeitrag, Tagesspiegel, 18. Februar 2020.
. „Deutschland darf nicht Zaungast bleiben”, Fremde Federn: James D. Bindenagel und Roderich Kiesewetter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 182, 8. August 2019, Seite 8.