„Die Generation des Zweiten Weltkriegs ist nicht mehr da. Die heutigen Bürger der EU müssen sich vor nationalistischen Tendenzen in Acht nehmen“, schreibt Reinhold Würth, Vorsitzender des Stiftungsaufsichtsrats der Würth-Gruppe, in unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde.
Diese Artikelserie „WECKRUF FÜR EUROPA“ erscheint fast beliebig: Das Thema hätte man schon über den Wiener Kongress von 1814/1815 setzen können. Dort wurde mit vielfältigem politischem Geschachere, mit Intrigen und Einzelverträgen versucht, das finale Ziel der Veranstaltung durchzusetzen, nämlich in Europa endlosen Frieden zu schaffen. Das damalige Koalieren und Panaschieren zwischen den Großmächten verhinderte gleichwohl letztlich nicht zwei Weltkriege mit Schwerpunkten in Europa mit über 60 Millionen Kriegstoten.
Mit Ende des Kalten Kriegs 1989 war schnell die Hoffnung geboren, dass nun weitere Kriege in Europa undenkbar wären. Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1952 und mit der Weiterentwicklung zur Europäischen Union 1992 als Staatenverbund mit (noch) 28 Mitgliedern erschien eine absolute Friedenssicherheit für kommende Generationen in Europa gewährleistet.
Heute, 2019, beobachten wir in vielen Ländern Europas und darüber hinaus das Wiederaufleben nationalistischer Tendenzen, wirtschaftlicher Protektionismus wird ausprobiert – siehe Handelsstreit China-USA. Selbst die Mitglieder der Europäischen Union, die während des Kalten Kriegs durch die Bedrohung aus dem Osten zusammengeführt und zusammengehalten wurden, verspüren, getrieben durch zwei ähnliche Entwicklungen, genau das Gegenteil eines Weckrufs für Europa: Die Generation der Erfahrenen aus dem 2. Weltkrieg ist inzwischen gestorben, den heutigen Bürgern der Europäischen Union geht es so gut wie nie zuvor und die Erfahrung, was Krieg und Notstand eigentlich bedeuten, ist weitgehend verloren.
Dies führt nun zum Aufkeimen des alten nationalistischen Wildwuchses nach dem Motto „Wir wollen unser Land zurück“, die Personenfreizügigkeit nimmt uns die Identität, vielleicht sogar die Religion, und zuletzt noch die Sprache. Lasst uns zurückkehren und die EU verlassen oder mindestens die Europäische Union zu einem eher unverbindlichen Freihandels-Club degradieren. So die unsinnige Forderung der EU-Gegner auch in Deutschland: Begreifen diese Kantonisten nicht, dass wir Europäer geostrategisch eingezwängt sind zwischen den Machtblöcken USA, China und Russland und dass wir, wenn wir nicht eng zusammenhalten, in 20 Jahren von heute nur noch tributpflichtige Vasallen dieser drei Machtblöcke sein werden??
Das größte Problem der Weiterentwicklung der Europäischen Union lässt sich in einem Kernthema artikulieren.
Das Hauptproblem der Europäischen Union sind die in dieser Zeit so stark zunehmenden Partikularismen: Nationalisten, Separatisten, vor allem von rechts, wie Marie Le Pen, Geert Wilders, die Lega Nord und die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien (Movimento 5 Stelle), genauso wie die AfD in Deutschland versuchen die Grundideale der Europäischen Union auszuhebeln, mindestens zu einem eher beliebigen Freihandels-Club zurückzuschrauben oder am besten ganz zu zerstören. Dabei ist die Europäische Union hocherfolgreich: Die Arbeitslosigkeit geht genauso wie auch die Jugendarbeitslosigkeit zurück, das Bruttosozialprodukt steigt, das Europarecht macht gute Fortschritte – woher kommt die Diskrepanz?
Hier haben wir das Hauptproblem: Die Europäische Union mit all ihren Institutionen, vom Parlament bis hin zum Kommissionspräsident, hat mit guter Geschwindigkeit europäische Fakten geschaffen, OHNE DIE BEVÖLKERUNG DER 27 MITGLIEDSSTAATEN IN AUSREICHENDEM MASS MITZUNEHMEN, ZU INFORMIEREN UND ZU BEGEISTERN.
Die Verunsicherung der Bevölkerung entsteht durch mangelnde Information zur Europäischen Einigung und vornehme Zurückhaltung der Pro-Europa-Bewegungen gegenüber den plakativ-banalen, eingänglichen Anti-Europa-Parolen der Separatisten.
Hier liegt der Hauptschlüssel zum WECKRUF FÜR EUROPA: Die Europäische Union müsste auch viel Geld in die Hand nehmen, um mit soliden, professionellen Werbekampagnen die Bürger über die so positiven Seiten der Europäischen Union aufzuklären. In den Lehrplänen aller Schulen in der Europäischen Union müsste im Geschichts- und Gemeinschaftskunde-Unterricht der Vorgeschichte, der Basis der Entwicklung und vor allem der Zukunft der Europäischen Gemeinschaft viel mehr Raum eingeräumt werden.
Zudem müsste durch die Europa-Abgeordneten, durch Präsenz vor Ort in den Schulen, in Informationsveranstaltungen, Bürgerfragestunden, in Kleinanzeigen usw. permanent der Gedanke „Europa“ positiv belegt werden. Wichtig wäre, dass die Bürger auf dem Weg zum Vereinigten Europa mitgenommen werden.
Als dritte Komponente eines WECKRUFS FÜR EUROPA wäre notwendig, mehr Personen als Leitfiguren europaweit bekannt zu machen.
Ein positives Beispiel ist der Präsident der Französischen Republik, Emmanuel Macron, der trotz seiner innenpolitischen Schwierigkeiten als glühender Verfechter der Europäischen Union vor allem als Leitbild für die Jugend taugt.
Emmanuel Macron könnte als Nachfolger von Jean-Claude Juncker der Europäischen Union DAS Gesicht geben, ganz im Gegensatz zu dem farblosen Kandidaten Manfred Weber (CSU), der die abgehobene Beamtenmentalität der Europäischen Administration nur verstärken würde.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Reinhold Würth:
Reinhold Würth wurde am 20. April 1935 in Öhringen geboren. Sein Vater Adolf Würth gründete 1945 eine Großhandelsfirma für Schrauben und Muttern, die heutige Adolf Würth GmbH & Co. KG. Im Alter von nur 14 Jahren trat Reinhold Würth als erster Mitarbeiter und Lehrling in das väterliche Unternehmen ein und schloss dort 1952 seine Ausbildung zum Groß- und Einzelhandelskaufmann mit der Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer erfolgreich ab.
Nach dem frühen Tod seines Vaters 1954 nahm Reinhold Würth im Alter von 19 Jahren die Herausforderung an, den Familienbetrieb weiterzuführen. Das erste Geschäftsjahr unter seiner Leitung wurde 1955 bereits mit einem Jahresumsatz von 80.000 Euro abgeschlossen. Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg begünstigte das rasante Wachstum des Unternehmens: Verbindungselemente wie Schrauben und Muttern wurden überall benötigt. Reinhold Würth erkannte früh, dass der Schlüssel zum Erfolg im Wachstum liegt. So wagte er bereits 1962 den Sprung ins Ausland und gründete die erste Auslandsge-sellschaft in den Niederlanden. Schon 1987 war Würth auf allen fünf Kontinenten der Welt tätig.
Heute ist der Konzern mit über 400 Gesellschaften in mehr als 80 Ländern der Welt marktak-tiv. Die Würth-Gruppe beschäftigt mehr als 71.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und erzielte 2016 mit 11,8 Milliarden Euro einen neuen Rekordumsatz. 2006 übergab Reinhold Würth den Beiratsvorsitz der Würth-Gruppe an seine Tochter Bettina Würth. Er selbst ist Vorsitzender des Stiftungsaufsichtsrats der Würth-Gruppe und Ehrenvorsitzender des Beirats der Würth-Gruppe.