„Europa ist nicht nur Ort. Es ist Stand-Ort. Es ist Wirtschafts-Standort. Und es ist Stand-Punkt. Und zwar ein politischer“, schreibt Timotheus Höttges, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom AG, in seinem Essay zu unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent neue Kraft findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, initiiert von Handelsblatt und United Europe. „Nationales Denken taugt weder für Finanz-, noch für Flüchtlingskrisen. Noch taugt es für internationalen Wettbewerb insbesondere mit Nord-Amerika und Asien.“
„Was stellen Sie sich vor, wenn Sie an Europa denken? Wo liegt Ihr Europa? Welchen Ort hat Ihr Europa?“ Diese Fragen hat vor einigen Jahren die „Süddeutsche Zeitung“ gestellt. Und angesichts der aktuellen Situation habe auch ich mir zuletzt überlegt: „Ja, welchen Ort hat Europa?“ Was steht symbolisch für dieses Konstrukt, das mehr ist als Geografie: Wertegemeinschaft. Rechtsgemeinschaft. Wirtschaftsgemeinschaft. Lebensgemeinschaft.
Eingefallen ist mir das „Parlamentarium“ in Brüssel; das Ausstellungs- und Besucherzentrum des EU-Parlaments. Dort kommen zwei Dinge zusammen. Erstens steht das „Parlamentarium“ exemplarisch dafür, wie sehr uns die Digitalisierung bereichert. Sein Ausstellungsführer ist ein modernes Smartphone, das den Besuchern über Near Field Communication Informationen zu den verschiedenen Ausstellungsstationen liefert. Es gibt Audiofiles und Videos, in denen Menschen darüber berichten, wie sie ihre Unternehmen gegründet haben und zu Weltmarktführern geworden sind. An die Parlamentarier können Sie als Besucher über ein Terminal Wünsche richten, die über das Internet verbreitet werden und in Sekunden auf einem großen Monitor sichtbar sind.
Zweitens zeigt diese Ausstellung aber nicht nur, wohin wir mit der Digitalisierung gehen. Sie zeigt auch, woher wir mit Europa kommen. Europa ist ein Friedensprojekt. Es beruht auf dem Gedanken, dass Frieden am ehesten durch Vernetzung gelingt. Nicht durch Abschottung, sondern durch ein In-Beziehung-Treten von Menschen, die wirtschaften.
Nimmt man diese beiden Punkte zusammen, Wirtschaftsgemeinschaft und Friedensgemeinschaft, zeigt sich schnell, dass das Denken in nationalstaatlichen Kategorien hoch problematisch ist. Europa ist nicht nur Ort. Es ist Stand-Ort. Es ist Wirtschafts-Standort. Und es ist Stand-Punkt. Und zwar ein politischer. Nationales Denken taugt weder für Finanz-, noch für Flüchtlingskrisen. Noch taugt es für internationalen Wettbewerb insbesondere mit Nord-Amerika und Asien. Mein Ort für Europa, das „Parlamentarium“, steht also zugleich für meine Vision von Europa. Nämlich eine digitale, wettbewerbsfähige Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft.
Auf beiden Feldern kann Europa auf große Erfolge zurückblicken. Aber beides wird herausgefordert. Unsere Wirtschaft. Und mit ihr unsere Werte. Sicher, der globale Wettbewerb ist nicht neu. Keine Volkswirtschaft der Erde ist zum Beispiel so vernetzt wie die deutsche. Noch vor Hong Kong, den USA und Singapur. Europa hat starke Wirtschaftscluster. Sie basieren vor allem auf hoher Handwerkskunst und exzellenter industrieller Fertigung, aber auch herausragender Grundlagenforschung.
Diese industrielle Basis Begehrlichkeiten. Schaut man sich zum Beispiel diverse Unternehmen des Valleys an – insbesondere Google oder Facebook -, stellen wir fest: Bislang entstehen deren Gewinne vor allem durch Werbeeinnahmen. Doch der Werbekuchen, aus dem die Internetkonzerne sich speisen, ist ziemlich endlich. Er macht gerade rund ein Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes aus. Kein Wunder also, dass die Unternehmen weltweit immer stärker mit ihren Datenmodellen in die industrielle Wertschöpfung eindringen. Sei es der Bereich Smart Home, sei es die Medizin oder sei es das selbstfahrende Auto. Hier liegt die eigentliche Bedrohung, der wir begegnen müssen.
Wie kann das gelingen? Nur einige Überlegungen:
Erstens bin ich überzeugt, dass die Wertschöpfungsketten der Zukunft immer weniger vertikal verlaufen, also innerhalb einzelner Branchen. Sondern zunehmend auch horizontal, branchenübergreifend. Wir brauchen also mehr Kooperationen oder – neudeutsch – Coopetition. Dafür ist es aber notwendig, Anreize und Erleichterungen für solche Kooperationen zu schaffen. Dazu zählt auch, dass Entstehen globaler Champions innerhalb Europas eher zu fördern als zu verhindern.
Zweitens bauchen wie eine europäische Cloud. Es ist beinahe schon ein Allgemeinplatz, dass Daten der Rohstoff der Digitalisierung sind. Wir wissen aber auch, dass die eigentliche Wertschöpfung immer dort stattfindet, wo die Rohstoffe veredelt werden. Beim Thema Daten geschieht dies heute fast ausschließlich außerhalb Europas. Europäische Unternehmen können bei der Nutzung öffentlicher Cloud-Dienste zwischen einigen wenigen amerikanischen (Amazon, Microsoft & Google) und ein bis zwei chinesischen (Alibaba, Tencent) auswählen. Für einen Großteil der Anwendungen aus der öffentlichen Cloud – etwa normale Bürokommunikation – mag das weniger problematisch sein. Wie aber sieht es im Bereich weiterer sensibler Daten aus? Hat Europa nicht einen strategischen Nachteil, wenn Unternehmens- und Kundendaten jenseits Europas liegen? Und was können wir dagegen tun? Entweder zwingen wir die außereuropäischen Anbieter dazu, dass sie ihre Dienste nur bei uns anbieten dürfen, wenn ein europäischer Anbieter komplett für die Lieferung der Software und vor allem die rechtliche sowie technische Kontrolle der Daten verantwortlich ist. China tut das.
Der nächste Schritt wäre aber eine komplette europäische Cloud-Infrastruktur mit Rechenzentren in verschiedenen europäischen Ländern und vor allem der dazu gehörenden Entwicklung europäischer Software. Hierfür braucht es eine Politik, die eine solche Infrastruktur fördert. Unter anderem, indem staatliche Behörden und Institutionen Kunden einer solchen Infrastruktur werden und damit erst den Markt dafür schaffen.
Keine Alternative ist es jedenfalls, die Nutzung von Daten generell zu verbieten oder massiv zu erschweren. Denn auf Daten basiert auch neuer Wohlstand. Rückblickend werden wir die vergangenen 50 Jahre vielleicht als die goldenen Jahre individueller Freiheit betrachten. Davor waren wir zivilisatorisch zu rückständig. Seither sind wir technologisch zu fortschrittlich. Aber: Wir haben alle Chancen diesen Fortschritt positiv zu gestalten. Und einen eigenen Weg zu finden zwischen der Massenüberwachung aus dem angelsächsischem Raum und einer IT-Diktatur wie in China mit einem Sozialpunkte-Konto, das das komplette Verhalten überwacht, bestraft und belohnt. Dieser Weg kann bedeuten, dass die Europäerinnen und Europäer die Grenzen dessen, was sie heute als „das Individuelle“ betrachten, verschieben. In Richtung höherer Transparenz. Die junge Generation tut dies schon heute. Und es muss nicht nur schlecht sein. Es könnte zum Beispiel mehr Sicherheit bedeuten und den Menschen damit auch ein Stück Freiheit zurückgeben.
Drittens braucht es weitere Initiativen, die Technologien von morgen zu bestimmen. Vorbild dafür könnte das in den USA außerordentlich erfolgreiche Programm der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency ) sein. Denn was als Militärforschung gedacht ist, findet seinen Weg in den zivilen Bereich, wo die Technologien dann – hoffentlich – auch zivilisatorisch genutzt werden. Beispiele sind das Internet, die Laser-Technologie, die Vorläufer von Google Maps sowie die Sprachassistenten Alexa und Siri. Dem hat Europa noch nicht viel entgegenzusetzen. Dabei könnte sogar die viel diskutierte Erhöhung der europäischen Militärausgaben als Vehikel für Technologieführerschaft genutzt werden.
Viertens haben natürlich auch Breitbandnetze eine strategische Bedeutung. Die Telekom kennt hier ihre Verantwortung. Wir investieren pro Jahr 12 Milliarden Euro, davon fünf Milliarden allein in Deutschland. Nicht nur in Metropolen, sondern gerade auch dort, wo andere sich nicht engagieren. Aber ein Kontinent, der Investitionen braucht, braucht auch Investitionsanreize.
Lange lag der Fokus der europäischen Regulierung aber vor allem auf Wettbewerb auf den (alten) Netzen statt auf Wettbewerb in die (neuen) Netze. Das hatte Folgen. Der Gewinn sämtlicher europäischer Telekommunikationsunternehmen hat sich seit 2006 halbiert. Dadurch wurde aber gerade die Investitionsfähigkeit der Unternehmen geschwächt, die eigene, neue Infrastruktur aufbauen und immer wieder an gestiegene Ansprüche anpassen. Und: Allein die deutsche Telekommunikationsindustrie hat seit dem Jahr 2000 rund 60 Milliarden Euro für Mobilfunkfrequenzen ausgegeben. Geld, dass auch in Antennen und Masten hätte fließen können. Während zum Beispiel in China (1,3 Mrd. Einwohner) darüber nachgedacht wird, die Zahl der Mobilfunk-Anbieter von drei auf zwei zu verringern, galt in Europa lange die Regel, dass es pro Land vier Anbieter geben soll. Von einem digitalen Binnenmarkt kann daher keine Rede sein. Und infolge dessen fehlt auch ein europäischer Champion, der international mit Anbietern wie AT&T (Marktkapitalisierung: 192 Mrd. Euro), Verizon (198 Mrd. Euro) oder China Mobile (190 Mrd. Euro) mitspielt. Entsprechend geringer ist dann aber auch der Einfluss, wenn es zum Beispiel um die Definition von Standards der Industrie geht.
Damit komme ich zu meinem fünften Punkt: Wie organisiert sich Europa neu? Hierzu gibt es längst eine Reihe von Ratschlägen, die auf dem Tisch liegen. Und mir ist bewusst: Dies ist nicht nur ein weites, sondern vor allem ein komplexes Feld. Mir ist das als Vorstandsvorsitzender eines europäischen Konzerns nicht fremd. Wir sind in Ländern wie Polen, Ungarn, Griechenland, den Niederlanden, Tschechien oder Österreich tätig. Landesgesellschaften und Unternehmen mit eigener Geschichte. Unternehmen mit eigener Kultur. Und Unternehmen mit eigenen Interessen, die nicht immer deckungsgleich sind mit den Interessen des Konzerns. Ich kann also in vielerlei Hinsicht sagen: Die Telekom ist Europa.
Wie gehen wir als Unternehmen mit dieser Vielfalt um? Wichtig ist: Auch in einem Konzern muss das Ergebnis immer mehr sein als die Summe der einzelnen Teile. Kurz gesagt: Überall dort, wo Größenvorteile besonders relevant sind, ist auch ein einheitliches Vorgehen besonders wichtig. Gleichzeitig akzeptieren wir aber verschiedene Geschwindigkeiten. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass jede Landesgesellschaft immer auch Herausforderungen hat, die sehr viel akuter sein können, als die großen Linien. Dann zu unterstützen und zentrale Vorgaben notfalls zurückzustellen, ist richtig. Das bedeutet aber nicht, dass jedes Land nur das tut, was ihm gerade gelegen kommt. Verbindlichkeit ist eine der Grundvoraussetzungen für das Gelingen von Projekten innerhalb großer Organisationen.
Vielfalt ist dennoch von Vorteil. Fast für jedes Thema gibt es irgendwo im Konzern eine so genannte „Best Practice“, die wir adaptieren und auch in anderen Ländern testen können. Gerade kleinere Märkte sind hier besonders hilfreich, da wir dort sehr viel schneller und agiler reagieren und testen können.
Insofern überzeugen mich persönlich beim Thema EU-Reformen vor allem die Vorschläge, die auf eine Ausdifferenzierung setzen. Auf ein Europa also, in dem einige Länder und Regionen vorangehen und es darum eine unterschiedliche Integrationstiefe geben kann. Ein Europa aber auch, das in Feldern, in denen es auf Größenvorteile ankommt, Einigkeit herstellt und konsequent handelt. Gerade bei der Wirtschafts- und Industriepolitik ist dies wichtig: Künstliche Intelligenz, Cloud, Elektromobilität, Energiewende sind nur einige Beispiele.
Unterm Strich: Europa ist stark. Und es lohnt sich, für Europa zu kämpfen. Was hat dieser Kontinent nicht alles gemeinsam erreicht: Arbeitnehmerfreizügigkeit. Eine Sozialcharta. Eine Datenschutzgrundverordnung die, bei allen Problemen im Detail, die Privatsphäre der Menschen achtet. Es gibt wohl keine andere Region der Erde, in der Frieden, Demokratie, soziale Sicherheit, Freiheit, Achtung der Bürgerrechte, Humanisierung der Arbeit und vieles mehr eine so starke Einheit bilden. Und auch wenn die Wohlstandsschere auch bei uns auseinandergeht: Europa ist insgesamt reich. Umso wichtiger ist es, dass wir nun auch den Wohlstand der kommenden Generation sicherstellen und vor allem die Teilhabe daran organisieren.
Damit komme ich noch einmal zu meinem Ausgangspunkt zurück: Welchen Ort hat Europa? Vielleicht zeichnet Europa gerade aus, dass es eben nicht den einen Ort hat. Nicht allein das Parlamentarium. Nicht Brüssel oder Straßburg. Nicht allein auch die Cafés, von denen Emmanuel Macron in seiner Rede an der Sorbon gesprochen hat. Sondern Europa ist dann erfolgreich, wenn es überall gut aufgehoben und zuhause ist.
Ich bin als junger Mann mehrfach per Interrail durch ganz Europa gefahren. Eine Zeit, die mich geprägt und bereichert hat. Nicht nur, weil ich neue Freunde gefunden habe. Sondern auch, weil ich mir dadurch neue, andere Kulturen erschließen konnte. Und ich habe es als positiv empfunden, mich mit einer Idee identifizieren zu können, die mein Heimatland umfasst, aber darüber hinaus reicht. Eine Idee, die größer ist als ein einzelner Staat und die darum als Klammer unsere einmalige Vielfalt zusammenhält. Eine Idee, die zeitlos ist. Eine Idee, die Heimat ist jenseits der Geografie. Dieses europäische Bewusstsein ist es, das unseren Kontinent trägt. Und darum ist es unsere Aufgabe als Unternehmen, als Politik, als Bürger, Nachbarn, Freunde, Väter und Mütter, dieses Bewusstsein wach zu halten.
Kämpfen wir also dafür, dass die Vielfalt Europas auch weiterhin durch reale und virtuelle Netzwerke in Beziehungen treten kann. Dass dadurch Verständigung möglich wird, die Verständnis schafft. Und dass so Wohlstand und Frieden wachsen.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Timotheus Höttges:
Timotheus Höttges, geboren 1962 in Solingen, ist seit Januar 2014 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom AG. Er lebt in Bonn, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Seine Begeisterung fürs Unternehmertum entdeckte er schon als Schüler bei seiner Arbeit auf dem Markt von Solingen. Seine Leidenschaft für Europa wurde als Jugendlicher geweckt, als er den Kontinent per Interrail erkundete.
Von 2009 bis zu seiner Berufung zum Vorstandsvorsitzenden leitete er im Telekom-Vorstand das Ressort Finanzen und Controlling. Von Dezember 2006 bis 2009 war er für den Bereich T-Home zuständig, zu dem das Festnetz- und Breitbandgeschäft gehörte. Von 2005 bis zu seiner Berufung in den Konzernvorstand war Höttges im Vorstand der T-Mobile International für das Europageschäft zuständig. Von 2000 bis Ende 2004 war er Geschäftsführer Finanzen und Controlling und später Vorsitzender der Geschäftsführung T-Mobile Deutschland.
Höttges arbeitete nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität zu Köln drei Jahre in einer Unternehmensberatung, zuletzt als Projektleiter. Ende 1992 wechselte er zum VIAG Konzern in München, wo er seit 1997 als Bereichsleiter, später als Generalbevollmächtigter für Controlling, Unternehmensplanung sowie Merger und Acquisitions verantwortlich war.
Höttges ist Vorsitzender des Kuratoriums der Telekom Stiftung, die sich im Bereich der natur- und ingenieurswissenschaftlichen Bildung engagiert. Zudem ist er Mitgründer der Bürgerstiftung Rheinviertel, die sich sozialen und karitativen Aufgaben im Bonner Rheinviertel widmet.