„Das Bild des Sternenkreises von Europa ist das Bild einer Einheit in der Vielfalt – allerdings fehlt ihm die verbindende Mitte“, schreibt Simone Menne, Managerin und Aufsichtsrätin in verschiedenen großen Unternehmen, in unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde. „Dies darf keine Zentraleinheit sein, die versucht Homogenität zu erzeugen. Dieses verbindende Element gilt es zu schaffen und zu vermitteln.“
Vielseitigkeit Europas
Europa ist vielseitig. Es ist eine Geschichte, es ist eine Utopie. Es ist eine großartige Ansammlung von Kulturen, und es ist eine Gemeinschaft, die zusammen mächtig ist und viel erreicht hat und noch erreichen kann.
Dazu sind aber immer wieder nachhaltige Anstrengungen nötig, denn der Zusammenhalt von vielfältigen diversen Völkergruppen ist anspruchsvoller als das Zusammenhalten einer homogenen Masse. Doch es lohnt die Anstrengung. Denn wie auch in Unternehmen bedeutet auch in Kulturen Diversität die Chance, verschiedene Perspektiven zu hören, verschiedene Argumente auszutauschen und daraus dann eine gute Lösung zu entwickeln.
Nationen sind nicht naturgegeben, sie entstehen immer wieder neu und bestätigen sich durch Weiterentwicklung in Übereinstimmung mit allen Mitbürgern. Und dabei ist es nicht nur die politische Verfassung oder die Organisation der Wirtschaft oder Verwaltungsstruktur, die den Zusammenhalt ergibt, sondern auch die Emotionen und Geschichten, die ihre Bewohner teilen. So schildet es die Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels Aleida Assmann in „Der europäische Traum“. Das Bild des Sternenkreises von Europa ist das Bild einer Einheit in der Vielfalt – allerdings fehlt ihm die verbindende Mitte. Und dies darf keine Zentraleinheit sein, die versucht Homogenität zu erzeugen. Dieses verbindende Element gilt es zu schaffen und zu vermitteln.
Europas Angst
Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz prägen das heutige gesellschaftliche Umfeld. Viele Bürger Europas sind aus unterschiedlichen Gründen von der Angst getrieben. Das beruht auf sich überlagernden globalen Trends, die komplex und schwer beherrschbar erscheinen. Als da wären der Klimawandel, die rasant voranschreitende Entwicklung von Technologie und künstlicher Intelligenz, globale Migrationsbewegungen, demographische Veränderungen, Angst vor wirtschaftlichen Abschwung und eine mindestens als ungerecht wahrgenommene Verteilung des Vermögens. Angst auch vor dem Verlust der Autonomie, die mühsam nach Jahren der Abhängigkeit von totalitären Systemen erkämpft worden war.
Grundsätzlich lähmt Angst Menschen, da sie den Eindruck haben, nicht mehr das eigene Schicksal kontrollieren zu können. Menschen treibt die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität, die Angst vor materiellen Verlusten und die Angst um die eigene Sicherheit. Gleichzeitig gibt es das Phänomen der bedrohten Mehrheiten: jene, die alles haben und deshalb alles fürchten (Ivan Krastev).
Medien und Politik berichten vordringlich von Katastrophen, Unglücken und Bedrohungen, die diese Ängste anfachen oder verstärken. So gibt es nun auch die Angst vor dem sogenannten De-Skilling – ein Schlagwort auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos – nachdem aufgrund der zunehmenden Ausstattung mit technologischen Hilfsmitteln die Sorge besteht, dass Menschen die Fähigkeit verlieren, selbst Entscheidungen zu treffen oder ohne diese Hilfsmittel ihr Handeln zu steuern.
Und schließlich wird auch das Erfolgsmodell Demokratie und Kapitalismus in Frage gestellt. Clemens Fuest (Fuest, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Juli 2018) weist in diesem Zusammenhang auf die Verlagerung der Kräfteverhältnisse nach Asien hin und stellt die Frage, ob ein Modell wie der chinesische Staatskapitalismus besser geeignet sein könnte als die westlichen Marktwirtschaften.
Obwohl rational klar scheint, dass die globalen Probleme auch nur global zu lösen sein, ist die instinktive Reaktion auf Angst und das Gefühl, die eigene Identität zu verlieren, der Wunsch nach einer Festung, die Schutz bietet und sich gegenüber der Außenwelt abschottet. Die Ablehnung gegenüber Fremden und Andersdenkenden hat dabei noch eine zusätzliche Funktion: Sie trägt dazu bei, eine Gruppenidentität aufzubauen. Und ein weiterer Instinkt sucht die Homogenität, denn Stammesgesellschaften konnten in permanenten Bedrohungslagen keine Abweichler dulden. Daraus resultiert bis heute eine instinktive Abneigung gegen Andersdenkende. In Unternehmen wird in Zeiten von Disruption und technologischen Herausforderungen versucht, diese Instinkte zu überwinden; man fördert Diversität, indem Teams aus verschiedenen Geschlechtern, Alters- und Erfahrungsgruppen sowie verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammengesetzt werden. Auch die Abschottung innerhalb eines Unternehmens, das Silodenken, stellt eine Gefahr für die Weiterentwicklung des Unternehmens dar, da mehr und mehr ganzheitliches Denken gefragt ist, um den Anforderungen des Wettbewerbs standzuhalten. Dazu kommt, dass auch im Wirtschaftsleben ein rein nationales Wirtschaften im internationalen Wettbewerb nicht mehr vorstellbar ist.
Der Globalisierung im Wirtschaftsleben stehen im sozialen und gesellschaftlichen Leben aber mehr und mehr Spaltung und Inseldenken gegenüber. Auch wenn die Globalisierung im Durchschnitt der Weltbevölkerung zu mehr Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit geführt hat, ist die Ungleichheit in der Realität oder zumindest in der Wahrnehmung vieler Menschen gestiegen. Viele Menschen haben das Gefühl des Verlustes von Würde und Identität.
Europas Geschichte
In dieser Gemengelage wird das Erfolgsmodell Europa zusehends in Frage gestellt. Und zwar nicht nur von Teilen der Bevölkerung, die den Verlust von Heimat und damit einen weiteren Verlust von Identität fürchten, sondern auch von Politikern, die in einem Europa der Vielfalt den Verlust ihrer Autonomie und der Macht sehen.
Dabei bieten Gruppen von Andersdenkenden grundsätzlich die Chance, Bestehendes zu hinterfragen und aufgrund neuer Entwicklungen weiterzuentwickeln und Bewährtes aus verschiedenen Kulturen zu prüfen, um daraus neue Ideen zu entwickeln. Kulturen, die keine Impulse von außen erfahren, stagnieren. Dazu müssen allerdings die Voraussetzungen in Form gemeinsamer Werte, eines gemeinsamen Narrativs und einer Identität sowie die Vorstellung des Gemeinwohls geschaffen sein.
Das Narrativ kann und muss aus der gemeinsamen Geschichte Europas entwickelt werden. Dabei müssen die Erfolge wie der jahrzehntelange Frieden in der Region und das allgemeine Wachstum sowie die Offenheit im Umgang miteinander unter anderem in Form des grenzenlosen Reisens und miteinander Lernens und Arbeitens als gemeinsame Erinnerung in die großartige gemeinsame Geschichte eingehen. Es geht darum, dass wir uns gegenseitig die Geschichte erzählen von Zeiten, als wir endlich ohne Grenzen von einem Land in das andere reisen konnten. Von Zeiten, als wir endlich ohne Geld zu wechseln im Nachbarland bezahlen konnten. Von Zeiten, als wir ehemalige Feinde als Freunde begrüßen konnten.
Auch die Erfolge von gelungener Integration von neuen EU-Partnern, aber auch von der gelungenen Integration von Migranten werden nur wenig gewürdigt.
Statt des Stolzes auf diese Erfolge gibt es nun den Stolz auf lokale und nationale Erfolge der Vergangenheit, gepaart mit dem Verdrängen von Fehlleistungen. Solch ein Stolz führt nicht zu einem Gemeinschaftsgefühl, sondern zu fehlendem Nachgeben und zu Unterdrückung Andersdenkender. Europas Geschichte wird zu häufig reduziert auf Regulierung, Bürokratie und auf die Bevormundung aller EU-Länder durch Brüssel. Die Vorteile einer Regulierung, nämlich die Vergrößerung des Marktes für die Marktteilnehmer, die Vermeidung von Missbrauch, die Vereinheitlichung von Regeln, so dass alle Beteiligten wie im Verkehr oder im Sport nach denselben Regeln spielen und sich damit verstehen können, werden kaum erwähnt.
Natürlich ist es wichtig, auch die Versäumnisse europäischer Politik klar zu benennen, um aus den gemachten Fehlern zu lernen.
Da ist zum einen das von Ivan Krastev benannte Nachahmungsgebot. Neue Teilnehmer der Union wurden nicht unbedingt wegen ihrer Vielfalt geschätzt und als weiteres wertvolles Element im Kaleidoskop der Kulturen hinzugefügt. Stattdessen galt es häufig die Werte der bestehenden Mitglieder zu übernehmen. Die Vorgaben in der Finanzkrise, gerade auch von Ländern, die ebenfalls einmal Grenzen nicht eingehalten hatten, wurden in den betroffenen ändern als Bevormundung und Knebel empfunden. In den Ländern die Darlehen gaben, von denen dann teilweise auch Importe aus diesen Ländern bezahlt wurden, wurde suggeriert, man subventioniere. Hier wurde keine Geschichte der Solidarität erzählt, sondern Macht und Herrschaft ausgeübt.
Die Geschichte muss als gemeinsame diverse Geschichte gehört und verstanden werden. Natalie Nougayrède spricht von Erinnerungskomplexes und -blockaden und sagt „solange die Europäer ihre Miteuropäer ausschließlich durch die Linse ihrer eigenen Nationalgeschichte betrachten, wird sich der psychologische Graben zwischen Ost und West sowie zwischen Nord und Süd weiter vertiefen.“
Die gemeinsame Geschichte als solche herzustellen, schafft die Möglichkeit sich auch wieder der gemeinsamen Werte und der Identität als Europäer bewusst zu werden.
Europas Zukunft
Für die Zukunft lernen, heißt aus der Vergangenheit zu lernen. Der Zyklus aus Revolution, Euphorie, Alterung, Verhärtung und wachsender Unzufriedenheit über bestehende Systeme sieht aus wie eine unendliche Geschichte. Eine tiefere Erklärung für diese zyklischen Wiederholungen liefert der Zweispalt zwischen dem Freiheitsgrad der Intelligenz und den Automatismen des Herdentriebs. Eine totalitäre Gesellschaft ist die natürliche Gesellschaftsform der archaischen Triebe. Solange diese Ebene der menschlichen Psyche dominiert, kann jede Gesellschaft immer wieder in eine totalitäre Form abrutschen. Aber viele Menschen sehnen sich nach einer anderen, freien Gesellschaft, die ihrer kritischen Intelligenz und ihrem freien Willen gerecht wird. Die Demokratie ist eine Gesellschaftsform, die zu dieser höheren Ebene der menschlichen Psyche passt. Eine wirkliche Demokratie verfügt allerdings über keine stabilisierenden Machtstrukturen und ist daher grundsätzlich instabil. In ihrer Sachlichkeit ist sie prinzipiell schwach. So schreibt Gerd Ganteför in „Das Gesetz de Herde“.
Das kritische Denken ist der Feind jeder fundamentalistischen Religion und jeder fundamentalistischen politischen Bewegung, denn es kann unrealistische Utopien und falsche Fakten entlarven sowie Manipulation und Willkür erkennen und bekämpfen. Damit kann das kritische Denken die Demokratie stabilisieren.
Eine Demokratie muss, wenn sie langfristig stabil sein soll, Rücksicht auf menschliche Grundbedürfnisse und Werte nehmen. Dazu gehört auch das Gefühl von Heimat. Ein häufig missbrauchtes Argument ist, dass ein gemeinsames Europa dazu führt, dass Heimat aufgegeben werden muss. Heimat bedeutet Sicherheit, Vertrauen, Verstehen und Vertrautheit. Diese Heimat bleibt aber auch innerhalb Europa erhalten, ich liebe meine Stadt, mein Bundesland und Europa – auch Liebe ist vielfältig.
Eine Demokratie muss die Menschen mit einem Narrativ für die Zukunft ausstatten, welches alle Menschen teilen können. Hier reicht der wirtschaftliche Erfolg, den Europa insgesamt vorzeigen kann, allein nicht aus. Es muss immer auch ein emotionales Element geschaffen werden. Dabei spielt Diversität eine große Rolle und bietet eine Chance insbesondere in der globalen Welt, die vielfältig ist. Die Fähigkeit, sich auf andere Kulturen einzustellen, die nichtsdestotrotz eine gemeinsame Wertegrundlage und Geschichte teilen, hilft, auch die größere Vielfalt in der Welt zu verstehen und damit umzugehen.
Freie Kunst, Kultur, Bildung uns Wissenschaft sind die Grundlagen, die auch für die Zukunft Europas in seiner Vielfalt die wesentlichen Stützen einer kritischen Zivilgesellschaft bilden. Hier kann die Grundlage der gemeinsamen Identität liegen, die analog wie der frühere amerikanische Traum eine Gesellschaft bei aller Diversität verbindet. Francis Fukuyama schreibt in seinem Buch „Identität“ eine Europäische Identität könne es nicht geben. Diese Einschätzung teile ich nicht, denn europäische Geschichte, aber auch die Geschichte anderer Kulturen hat gezeigt, dass neue Entwicklungen auch neue Opportunitäten und Identitäten hervorbringen.
Fazit
• Europa bedeutet nicht eine Bedrohung oder gar den Verlust der Nationalstatten, sondern die Chance ihres Schutzes und die Möglichkeit ihrer Weiterentwicklung (Aleida Assmann)
• Kulturen können sich nur weiter entwickeln, wenn sie von anderen Kulturen lernen, bei Abschottung verkümmern sie.
• Europa heißt Zusammenarbeit, wenn es um die allgemein gültigen Probleme geht, bei gleichzeitiger Autonomie zu lokalen Themen.
• Es gilt eine gemeinsame europäische Identität zu entwickeln, deren gemeinsame Geschichte das Fundament bildet, auf der die bestehenden Werten gemeinsamen Werte aufsetzen und die als Dach eine gemeinsame Utopie bildet, die es erlaubt, Europa in aller Diversität innovativ und demokratisch weiterzuentwickeln, um globale Herausforderungen zu bewältigen.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Simone Menne
Simone Menne ist in Kiel geboren, wo sie auch Schule und Universität absolvierte. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre begann sie ihre Karriere beim amerikanischen Unternehmen ITT und wechselte 1989 zur Deutschen Lufthansa. Nach verschiedenen Positionen im In- und Ausland, darunter als CFO bei British Midland, wurde sie 2012 als CFO der LH Group ernannt. Von 2016 bis 2017 war sie als CFO bei Boehringer Ingelheim tätig. Frau Menne ist Aufsichtsrätin bei BMW, DPDHL, Johnson Controls International und Springer Nature. Sie ist Mitglied der Börsensachverständigenkommission und des DRSC.