„Junge Leute machen sich keinen Kopf um das Friedensprojekt Europa, sondern nehmen die Vorteile der Staatengemeinschaft lässig zur Kenntnis”, schreibt Angelika Gifford, Mitglied in verschiedenen Aufsichtsräten, in unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde. „Doch den Institutionen geben sie keine guten Noten. Ein Veränderungsprozess muss her. Sonst verliert die EU ihre wichtigste Wählerschaft.”
Flughafen Charles-de-Gaulle, die Maschine aus München landet pünktlich, an Bord unsere Patchwork-Familie. Mit der amerikanischen Tochter und dem deutschen Sohn möchten wir eine Woche in Paris verbringen. Die Tochter wühlt ganz automatisch im Rucksack nach ihrem blauen Pass: in Erwartung einer langen Schlange vor einem gestressten Zollbeamten. Was sie denn damit wolle, fragt ihr kleiner deutscher Bruder verdutzt: „Wir sind doch in der EU“.
Wie die meisten in seiner Generation nimmt er die Errungenschaften der Europäischen Union und der Euro-Zone als Selbstverständlichkeit wahr. Grenzkontrollen zwischen Frankreich und Deutschland hat er nie erlebt, niemals mit Francs, Peseten, Lira oder Mark bezahlt. Und dass es bis vor kurzem hohe Roaming-Gebühren gab, wenn man im Ausland mobil telefonieren wollte, hat er auch schon wieder vergessen. Den Grundgedanken des „Friedensprojekts Europa“ aber kennt er nur aus dem Geschichtsunterricht. Auch der kalte Krieg ist eine dunkle, weit entfernte Epoche.
Die Vertrauensfrage
Die grenzenlose Reisefreiheit innerhalb Europas ist für die junge Generation heute ebenso selbstverständlich wie ein Erasmus-Jahr in Schweden oder die Jobsuche quer über den Kontinent. Eine politische Idee hat das Leben von Menschen in ein paar Jahrzehnten verändert. Doch ist das tragfähig, um diese Idee für die Zukunft zu erhalten? Wenn doch gleichzeitig das Vertrauen in die politischen Institutionen schwindet, gerade in die europäischen? Wenn vor allem junge Leute sich von der Politik nicht gehört und nicht ernst genommen fühlen?
Von Wirtschaftsunternehmen, wie ich sie als Mitglied in Führungsgremien und Aufsichtsräten erlebe, wird stets „disruptive change“ erwartet, eine sprunghafte Veränderung und sofortige Anpassung an neue Bedingungen, neue Märkte und Technologien. Natürlich: Politische Institutionen müssen vor allem stabil und wehrhaft sein. Und die Europäischen Verträge anzufassen, ist mühsam und langwierig. Außerdem sind die (bald nur noch) 27 EU-Staaten sehr verschieden und unterschiedlich groß, was eine Einigung auf eine Reform der Institutionen regelmäßig erschwert.
Aber auch hier ist nun die Zeit für einen Veränderungsprozess gekommen. Dabei geht es nicht unbedingt um „mehr Europa“, sondern um „mehr Vertrauen“. Betroffene zu Beteiligten machen, meine persönliche Grundregel für jeden klugen Transformationsprozess, sollte auch in Europa funktionieren.
Ausbleibende Konsequenzen
Bei der Abstimmung über den EU-Austritt in Großbritannien ging es ja gerade um die Vertrauensfrage. Ihren eigenen, fast tausend Jahre alten Institutionen vertrauen die Briten, auch wenn jeder, der derzeit Parlamentsfernsehen aus London schaut, darüber den Kopf schütteln möchte. Der EU vertrauen sie überwiegend nicht – vielleicht zu unrecht und befeuert von einer teils tendenziösen Darstellung europäischer Politik durch ihre eigene Politiker oder Presseorgane.
Trotzdem: Hätten die EU-Politiker und Regierungschefs daraus nicht schnellsten Konsequenzen ziehen müssen, zum Wohle künftiger Generationen? Ein Weißbuch mit Szenarien für etwas mehr oder etwas weniger Europa, wie der scheidende Kommissionspräsident es vorgelegt hat, reicht da nicht. Und auch die sehr vage „Erklärung von Rom“, die nun schon wieder zwei Jahre zurückliegt, dürfte die jungen Leute kaum überzeugt haben – trotz des Pomps drumherum.
Natürlich kann man es sich leicht machen und auf das Desinteresse der jungen Generation verweisen – auch beim Brexit-Referendum 2016: Die jungen Briten zeigten sich zwar überwiegend europafreundlich, sie blieben der Wahl jedoch zu einem großen Teil fern. Nur etwas über die Hälfte der 18 bis 24jährigen beteiligte sich an der Abstimmung über ihre Zukunft.
Mir zeigt das: Es ist nicht gelungen, sie anzusprechen. Eine stete Erinnerung an die Errungenschaften der Vergangenheit kann ein hochkomplexes Konstrukt wie die EU auf Dauer nicht am Leben halten. Ohne neue Ideen für die Zukunft wird der europäische Gedanke veröden. Das fehlende Engagement der jungen Generation wird für die EU im nächsten Jahrzehnt wahrscheinlich die größte Herausforderung und die gravierendste Gefahr sein.
Gefühlte Europäer
Es gibt auch gute Nachrichten. Die letzte Studie „Junges Europa“ der TUI Stiftung scheint anzudeuten, dass wir im Zeitraum von 2017/18 ein kleines Comeback Europas verzeichnen konnten. Die Stiftung befragte junge Europäer zwischen 16 und 26 Jahren in allen EU-Mitgliedsländern. 71 (Vorjahr: 61) Prozent der Befragten sagten, sie würden bei einem gedachten Referendum für den Verbleib ihres Landes in der EU stimmen. 66 (58) Prozent der jungen Menschen sehen sich heute nicht mehr ausschließlich als Bürger ihres Heimatlandes, sondern auch als Europäer. Aber, wie befürchtet: Nur 33 Prozent vertrauen den EU-Institutionen wie der Europäischen Kommission und dem Europa-Parlament. Und nicht einmal jeder Fünfte ist der Meinung, dass das politische System im seinem jeweiligen Land so funktioniert, wie es sollte.
Die Verunglimpfung der EU als Beamtenburg wird nicht aufhören – schon wegen der wachsenden populistischen Strömungen überall in Europa. Zu praktisch ist es für eine bestimmte Sorte Politiker, mit dem Fingerzeig nach Brüssel und Straßburg von eigenen Versäumnissen abzulenken. Menschen mit Behörden, Richtlinien, Verträgen und Ausschüssen zu begeistern, ist ohnehin schwierig. Eher funktionieren dürfte es mit: Klimapolitik, ökologischer Landwirtschaft, Daten- und Verbraucherschutz, Steuergerechtigkeit, gesundem Wettbewerb, strenger Bankenaufsicht.
Es gibt ja viele Positiv-Beispiele über die EU zu erzählen, zum Beispiel aus dem Bereich Tourismus. Wenn sich heute viele über günstige Flugtickets freuen: Die EU hat das billige Fliegen durch die Liberalisierung des Luftverkehrs ab 1987 möglich gemacht. Gleichzeitig stärkte sie Sicherheitsstandards und die gesetzliche Krankenversicherung schützt Reisende EU-weit. Touristische Reiseziele und Kulturdenkmäler werden oft mit EU-Mitteln erhalten. Gemeinsam kämpfen die EU-Mitgliedsländer gegen den Terrorismus, der gerade Reisenden manchmal Angst macht.
Zusammenhalt durch Tourismus
Die Unternehmen der Tourismusbranche sind prädestiniert dafür, die europäische Idee weiter populär zu machen; und sie nehmen das ernst. Denn letztlich sind es die persönlichen Bande zwischen Menschen aus verschiedenen europäischen Nationen, die Verständigung und Toleranz ermöglichen. Ohne die rege Reisetätigkeit zwischen dem Norden und Süden Europas in den sechziger und siebziger Jahren ist die europäische Einigungsgeschichte schwer vorstellbar.
Ab 2008, nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, war der Tourismus in Südeuropa die zentrale Säule der Konjunktur: die Investitionen der Tourismusunternehmen in Hotels und Infrastruktur, die Jobs und Ausbildungsplätze gerade für die vielen arbeitslosen Jugendlichen. Im Tourismus sind die formalen Einstiegshürden gering und die Entwicklungsperspektiven sehr gut. Der Transfer von Bildung, Wohlstand, Umwelt- und Sozialstandards durch den Tourismus sorgt dafür, dass sich die Lebensverhältnisse in den Ländern Nordeuropas und Südeuropas immer mehr annähern. Und eben auch die Menschen: Es waren die persönlichen Kontakte zwischen deutschen Urlaubern und griechischen Gastgebern, die dazu beitrugen, dass die deutsch-griechische Freundschaft nie ernsthaft gefährdet war.
Keiner wird erstaunt sein, wenn ein Tourismuskonzern und seine Führung glühende Europäer sind. Denn auch mit Blick auf die Entwicklungen in der Welt gilt es, Europa stark zu machen. Alte Gewissheiten verschwinden. Das transatlantische Bündnis gerät aus dem Fokus – nicht erst seit Trump. Das Kraftzentrum der Weltwirtschaft verschiebt sich nach Asien. Keines der 28 Länder der Europäischen Union wird zur Mitte des Jahrhunderts für sich alleine mit den großen Volkswirtschaften der Welt mithalten können.
Die Unternehmensberatung PWC beschrieb den Bedeutungsverlust in ihrer Studie „The World in 2050“. Danach wird Deutschland in gut dreißig Jahren als einziges EU-Land noch in der Liga der zehn größten Volkswirtschaften weltweit mitspielen, und zwar auf Platz neun hinter Newcomern wie Indonesien oder Mexiko. Es ist eine völlige Verirrung, in solch einem Umfeld das Heil in der Wiederkehr zum überschaubaren Nationalstaat zu suchen. Und doch ist dies in Großbritannien geschehen.
Aus der Komfortzone
Die EU-Mitglieder müssen jetzt handeln, den Veränderungsprozess beginnen. Nicht allein mit Argumentationsleitfäden zu den Errungenschaften der EU, nicht mit weiteren Kommissionen, wo kluge Leute darüber beraten, wie wir leben wollen. Sondern mit einer echten Neuorganisation und neuer Motivation für die Bürger und ihre gewählten Vertreter. Wenn wir die Jugend für Europa begeistern wollen, müssen wir uns ihren Fragen stellen und die Komfortzone verlassen.
Es gibt auf diesem Gebiet viele renommierte Juristen mit weitreichenden Vorschlägen. Längst könnten wir europäischen Parteiprogrammen nach einem europäischen Wahlrecht unsere Stimme geben. Mit strikter Geltung des Subsidiaritätsprinzips könnte die Akzeptanz der EU zurück gewonnen werden. Eine europäische Verfassung könnte die Gewaltenteilung endlich sauber regeln. Der Europäische Rat, der aus den Regierungschefs aller Mitgliedsländer besteht, könnte in eine zweite Kammer des Parlaments umgewandelt werden, ähnlich dem Bundesrat.
Transparenter Lobbyismus
Und finden wir nicht alle, dass 30.000 Lobbyisten in Brüssel zu viel sind? Lobbyismus ist zwar nicht per se schlecht, sondern ein legitimes Mittel im politischen Willensbildungsprozess. Aber er muss transparent ablaufen und darf kein Eigenleben entwickeln. Sonst wenden sich die Bürger ab, gerade die jungen Leute, die sich gegenüber diesem Apparat besonders hilflos fühlen. Selbst Instrumente wie die „Europäische Bürgerinitiative“, ein Vehikel der direkten Demokratie, für die Jugend wie gemacht, wird häufig für die Zwecke von Lobbyisten missbraucht. Das muss verhindert werden.
Klar ist: Die Beharrungstendenzen und Widerstände werden gewaltig sein. Doch das darf uns nicht hindern. Die EU war immer ein Ort, die unterschiedlichen Interessen der Länder in eingespielten Verfahren zu einem Kompromiss zu führen. Darin lag ihre Stärke. An diese sollte sie nun anknüpfen.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Angelika Gifford
Angelika Gifford ist Mitglied im Aufsichtsrat der TUI AG, Hannover, der ProSiebenSat.1 Media SE in Unterföhring und der Rothschild & Co., Paris. Themen wie Digitalisierung und IT sowie neue Vertriebs- und Geschäftsmodelle bilden den Schwerpunkt ihrer Arbeit. Bis Ende 2018 war Gifford Geschäftsführerin der Hewlett-Packard Deutschland GmbH (HP) in Böblingen und verantwortete den Bereich Software und Digitalisierung für den deutschsprachigen Raum. Zudem leitete sie die Integration der Software Sparte in die neue Konzernstruktur der Micro Focus Ltd. mit Sitz in London. Vor ihrem Wechsel zu HP war Gifford in diversen Führungspositionen bei Microsoft im In- und Ausland tätig. So leitete sie zum Beispiel den Bereich Informations- und Datensicherheit für Europa, den Mittleren Osten und Afrika. Außerdem betreute sie als Mitglied der Geschäftsleitung von Microsoft Deutschland die Kundengruppe „Öffentliche Hand“. Angelika Gifford wurde 2009 durch eine unabhängige Jury zur Managerin des Jahres gekürt und zählt heute zu den einflussreichsten Managern der Digital-Branche in Deutschland. Als Vorstandmitglied der Atlantik-Brücke setzt Sie sich für den transatlantischen Dialog und Zusammenarbeit ein.