„Europa befindet sich in einer Identitätskrise“, schreibt Dr. Wolfgang Eder, Vorstandsvorsitzender der voestalpine AG und fragt: „Wie kann die Wirtschaft dazu beitragen, dass Europa als Ganzes langfristig nachhaltig wird?“ Sein Text ist Teil der Artikelserie „Europa kann es besser machen. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde.
Alter Kontinent – was nun?
Als vor gut zehn Jahren die Wirtschafts- und Finanzkrise von den USA ausgehend über Europa hereinbrach, war das nicht nur ein Schock, den in dieser Form niemand erwartet hatte, sondern der Beginn einer Identitätskrise, die seitdem weiter schwelt. Vorbei war es mit der nach der EU-Osterweiterung 2005 dort und da zumindest in Ansätzen spürbaren Zukunftseuphorie. Dabei sorgten die Niedrigzinspolitik der EZB und legendäre Aussagen wie „whatever it takes…“ ihres Präsidenten Draghi zwar für die nötige Ruhe an den Finanzmärkten und ließen die Wirtschaft insbesondere der starken EU-Länder wieder florieren.
Auf der anderen Seite unterdrückte das billige Geld aber weitgehend Impulse zu strukturellen Reformen der Staatengemeinschaft insgesamt, vor allem aber auch in wirtschaftlich angeschlagenen Regionen, insbesondere im südlichen Europa. Auch wirtschafts- und industriepolitisch offenbarte sich immer öfter das Fehlen einer gemeinsamen Strategie, immer häufiger wurde sie ersetzt durch nationale Alleingänge, etwa die recht salopp initiierte Energiewende in Deutschland. Zu einer weiteren Zerreißprobe kam es im Zuge der 2015 aufflammenden Flüchtlingskrise, die über die massiven Divergenzen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik hinaus auch in der Migrations- und Sozialpolitik tiefgreifende Gesinnungsunterschiede deutlich machte und in zahlreichen Mitgliedsstaaten nationalistischen und populistischen Strömungen zu ungeahnten Höhenflügen verhalf. Das zweifelhafte Schauspiel um den Brexit – der Ausdruck Drama wäre in diesem Zusammenhang wohl zu vornehm – sowie die mangelnde Entschlossenheit der EU angesichts der „America First“-Politik von US-Präsident Trump sowie Chinas politischer und wirtschaftlicher Machtanspruch runden die Gemengelage ab. Kurz: Kaum jemals seit Bestehen der EU stand Europa nicht nur als Wirtschaftsstandort vor so großen Fragezeichen wie heute, wogegen die Konkurrenz in Asien und Nordamerika aus ihren politischen und wirtschaftlichen Zielen kein Hehl macht.
Die Zukunft wird nur gemeinsam funktionieren
Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen sollten sich die europäischen Reihen gerade im Hinblick auf die notwendige Klärung der zukünftigen geopolitischen und wirtschaftlichen Rolle des Kontinents schließen – könnte man zumindest meinen. Tatsächlich scheint derzeit das Gegenteil zu passieren. Und das nicht erst seit gestern: Plumpe gegenseitige Schuldzuweisungen nicht nur in der Migrationsfrage auf höchster politischer Ebene in immer mehr Ländern und nationale Interessen bestimmen in den letzten Jahren immer stärker die politische Rhetorik und verhindern mehr und mehr die konstruktive Auseinandersetzung mit drängenden Fragen der Gegenwart und möglichen Lösungsansätzen für die Zukunft. Letztlich dreht sich alles um eine einzige Frage: Wie können die politischen Institutionen, aber auch wir als Entscheidungsträger der Wirtschaft, Europa als Ganzes dauerhaft zukunftsfähig machen, dabei auch noch – wo berechtigt – nationale Unterschiede und Besonderheiten im Blick behalten und in diesem Spannungsfeld eine stabile europäische Identität entwickeln? Gehen wird dies nur mit Offenheit, Mut zur Veränderung und – wahrscheinlich am schwersten zu erreichen – dem Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Ziel kann es nur sein, uns nicht mehr als Deutsche, Franzosen, Schweden, Polen, Italiener oder Österreicher zu fühlen, sondern mehr denn alles andere als Europäer. Wir brauchen dazu – auch in der Zukunft – nicht auf unsere jeweilige Geschichte zu verzichten, auch nicht auf nationale Eigenheiten, wir müssen nur darüber den großen gemeinsamen Schutzschirm Europa in den langfristig existenziellen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen endlich akzeptieren.
Das gilt vor allem für die Politik, die heute mehr denn je gefordert ist, nicht dem populistischen nationalen Mainstream nachzugeben und damit die europäische Idee dem historischen Reißwolf zu opfern, sondern gut begründet Flagge in Richtung gemeinsamer Zukunft zu zeigen. Dies selbst auf die Gefahr hin, auf diesem Weg – so schmerzlich dies im Einzelfall auch sein mag – das eine oder andere Land zu verlieren, der Raum für Kompromisse ist beschränkt und muss beschränkt bleiben, in unser aller Zukunftsinteresse. Europa darf nicht zur Beliebigkeit verkommen, vielmehr sollte allen bewusst sein, dass Europa für jedes einzelne Land nicht nur nehmen heißen kann, sondern genauso geben heißen muss – und das nicht nur in finanzieller, sondern auch politischer und emotionaler Hinsicht.
Angesichts des Vertrauensverlusts in der Bevölkerung – in dessen Fokus neben der Politik zunehmend auch „die Konzerne“, „die Medien“ oder einmal mehr auch „die Banken“ stehen – können es sich auch deren Lenker nicht mehr länger leisten, sich nur für Strategie, Umsatz, Ergebnis und Kennzahlen zuständig zu erklären. Unternehmer und Unternehmen haben heute mehr denn je auch einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag. Sie haben ihr Wirken, ihren Nutzen, ihren Wert- und Wertebeitrag aus Glaubwürdigkeits- und damit Akzeptanzgründen im Sinne eines großen gemeinsamen Ganzen verständlich zu machen. Tun sie das nicht, droht politische und gesellschaftliche Ächtung. Der Katalysator und Indikator für Erfolg oder Misserfolg dafür heißt „social media“ und ist gnadenlos, hin und wieder wohl auch in die falsche Richtung.
Europa muss sich auf seine Stärken besinnen
Europa macht sich durch seinen häufig unkoordiniert, ja unbeholfen wirkenden Auftritt international kleiner und schwächer als es ist. Die EU liegt in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung gleichauf mit China und den USA und müsste in der globalen Wahrnehmung eine Rolle auf Augenhöhe mit ihnen spielen, tut sie aber nicht. Dies nicht zuletzt, weil sich vor allem die großen Mitgliedsstaaten – und nicht nur sie – immer noch lieber jeder für sich verkaufen, als das gemeinsame Europa. Kaum jemand registriert daher die wirtschaftliche Power, die von 500 Millionen Menschen in einer hoch entwickelten Region und dem von ihnen gemeinsam generierten Bruttonationalprodukt ausgeht.
Abgesehen von den damit verbundenen politischen Implikationen dürfen wird uns daher auch nicht wundern, dass die EU im Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit weder als Wirtschaftsmacht noch als technologischer Trendsetter angekommen oder gar verankert ist. Dies obwohl sie in einer Reihe von Wirtschaftsbereichen über High-Tech-Industrie und Spitzenforschung verfügt. Gerade wenn es um die großen Fragestellungen unserer Zeit wie Klimawandel, Energieeffizienz und neue Verkehrsmodelle geht, ist Europa eindeutig eher Teil der Lösung als Teil des Problems. Von zukunftsträchtigen Bahn- oder Luftfahrtkonzepten (die andere dann kopieren) bis zur energiesparenden Gebäudetechnik, die Basis dafür kommt aus Europa und es könnte noch viel mehr sein, würde sich die europäische Politik nur ansatzweise zu einem mit Augenmaß gelebten „Europa zuerst“ durchringen.
Aber Entscheidungen wie jüngst im Bahnbereich oder das geradezu blindwütige Verdammen der Dieseltechnologie ohne darauf aufbauende mögliche Zukunftskonzepte auf Hybridbasis auch nur zu prüfen, werden Europas industrielles Standing in der Welt – zur Freude anderer – nicht gerade fördern. Anstatt an eigene Stärken zu glauben und konsequent daran zu arbeiten, haben wir in Europa heute eine Tendenz, andere und ihre Errungenschaften vielfach weitgehend kritiklos zu bewundern – vom Silicon Valley bis Singapur – und uns selbst in Frage zu stellen, anstatt an uns und unsere Stärken zu glauben und sie konsequent zu leben.
Und noch etwas: Europa verfügt im internationalen Vergleich über außergewöhnlich viele hochqualifizierte Menschen – auf diese Stärke können und müssen wir bauen, sie müssen wir in einem multilateralen Ansatz fördern, vor allem die Jungen, mit Instrumenten wie dualer Lehrausbildung oder dem Erasmus-Programm, dem wohl bemerkenswertesten und erfolgreichsten Bildungs- und Integrationsmodell der jüngeren Vergangenheit, das abgesehen von der Bildungsvermittlung immer mehr junge Menschen an Europa glauben lässt. Darüber sollten wir sprechen und über die Chancen einer gemeinsamen Zukunft, nicht Zukunftsängste durch den angeblich millionenfachen Wegfall von Arbeitsplätzen durch künstliche Intelligenz und Digitalisierung schüren. Denn entgegen allen Unkenrufen wird auch die 4. industrielle Revolution – so wie schon ihre 3 Vorgänger – neue Perspektiven schaffen und die Menschen alles andere als überflüssig machen. Wir müssen uns nur rechtzeitig darauf einstellen, möglichst bevor es andere außerhalb Europas tun. Bloß zu lamentieren hat noch nie geholfen.
Integration schafft Identität und Zukunft
Im Zuge von fast 75 Jahren Frieden ist Europa trotz aller Probleme und Rückschläge in einem Ausmaß zusammengewachsen wie sich das die Gründungsväter dessen, was heute Europäische Union heißt, wahrscheinlich erhofft haben, realistischerweise aber kaum erwarten durften. Nie ging es den Menschen hier trotz eines nach wie vor erheblichen Wohlstandsgefälles wirtschaftlich besser als heute und noch nie in der Geschichte gab es in Europa eine so lange andauernde Friedensperiode. All das ist keine Selbstverständlichkeit, aber nicht ganz leicht vermittelbar. Denn Menschen bewerten ihre aktuelle persönliche Situation und Gemütslage verständlicherweise deutlich höher als geschichtliche Errungenschaften.
Europa weitgehend ohne Grenzen und mit einheitlicher Währung ist heute schon so selbstverständlich geworden, dass sich manche offensichtlich ermutigt fühlen, neuen Nationalismus und Protektionismus politisch einzufordern anstatt Vertrauen und Zuversicht in die europäische Idee weiter zu stärken. Es braucht darauf die richtige Antwort und die kann nur heißen, die gemeinsamen Stärken und Chancen Europas noch viel mehr als bisher im Bewusstsein der Bürger zu verankern. Zielsetzung muss es dabei sein, eine gemeinsame Identität nicht nur als freie, selbstbestimmte und zukunftsorientierte Gesellschaft zu schaffen, sondern zu deren Absicherung auch einen global wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort. Was die Europäische Union gerade in Zeiten separatistischer und nationaler Tendenzen dafür mehr braucht als je zuvor ist eine positive, greifbare und vor allem für die Menschen nachvollziehbare Zukunftsstrategie. Hierzu müssen wir alle unseren Beitrag leisten.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Dr. Wolfgang Eder:
Wolfgang Eder, geboren 1952, ist Vorstandsvorsitzender der voestalpine AG. Nach dem Rechtsstudium begann er 1978 seine Laufbahn im damaligen VOEST-ALPINE-Konzern. Nach erfolgreicher Koordination des Börsenganges wurde er 1995 in den Vorstand berufen, seit dem 1. April 2004 leitet er den Konzern. Eder verantwortet die Bereiche Konzernentwicklung, F&E, Strategisches Personalmanagement, Konzernkommunikation, Investor Relations, Konzernrevision, Compliance sowie Recht und Beteiligungen (M&A). Von 1999 bis 2014 führte er die Division Stahl sowie von 2001 bis 2004 auch die damals neue Automotive-Division. Sein aktueller Vertrag läuft bis 3. Juli 2019. Danach wird der Aufsichtsrat der Hauptversammlung 2019 empfehlen, Eder als neuen Vertreter der Anteilseigner in den Aufsichtsrat der voestalpine AG zu wählen. Bei erfolgreicher Zuwahl könnte er zwei Jahre später den Aufsichtsratsvorsitz übernehmen.
Unter Eders Führung hat der voestalpine-Konzern seinen Umsatz von ursprünglich rund vier Milliarden Euro auf annähernd 13 Milliarden Euro mehr als verdreifacht und sich von einem österreichischen Stahlunternehmen zu einem global tätigen Technologie- und Industriegüterkonzern entwickelt. voestalpine ist heute in einer Reihe von Industriesegmenten und Regionen Marktführer. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs seit dem Börsengang 1995 von 15.000 auf über 50.000, zum Großteil außerhalb Österreichs, zunehmend auch außerhalb Europas. Mit dem Börsengang begann auch die Privatisierung des ehemaligen „Flaggschiffs der Verstaatlichten Industrie Österreichs“. Seit 2005 ist die voestalpine AG ein zu 100 % an der Wiener Börse notiertes Unternehmen.
Von 2009 bis Mai 2014 war Eder fast fünf Jahre Präsident des europäischen Stahlverbands „Eurofer“. Von Oktober 2014 bis Oktober 2016 stand er als erster Präsident für zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden dem Weltstahlverband „worldsteel“ vor. Er ist auch Mitglied in den Aufsichtsräten der Oberbank AG, Linz sowie der Infineon Technologies AG, München.