„Länder wie China oder Indien, in denen sich Technologien, Fertigkeiten und Bildungsniveau unglaublich rasant weiterentwickeln, begnügen sich heute verständlicherweise nicht mehr mit „Billigproduktion“, schreibt Peter Oswald, CEO der Mondi Group in seinem Essay zu unserer Artikelserie „Europa kann besser werden. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde. „Die Regierungen dieser Länder verstehen sich als Türöffner für die verarbeitende Industrie, und für junge Menschen ist eine berufliche Laufbahn in dieser erstrebenswert. Für uns in Europa ist es an der Zeit, an der Vision „Made in Europe“ verstärkt zu arbeiten.“
Deutschland ist ein Land der Erfinder. Ob Aspirin, Airbags, Kontaktlinsen oder Playmobil: Deutsche Erfindungen sind aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Doch was nützt eine geniale Erfindung, wenn sie keiner umsetzt? Hier kommt die Fertigung ins Spiel – die Fähigkeit, Ideen aufzugreifen und mit Sorgfalt und Präzision millionenfach zu replizieren. Auch darin sind die Deutschen Meister und haben mit ihrer verarbeitenden Industrie Erfolgsgeschichte geschrieben.
Wer etwas herstellt, löst ein Problem. Das liegt in der Natur der Sache. Produzenten nehmen sich der Komplexität der realen Welt an und schaffen praktische Lösungen. Der am Reißbrett entstandene Entwurf wird zur Inspiration für die Herstellung nachhaltiger Produkte, die unser Leben verbessern und neue Entwicklungsrichtungen aufzeigen. Die verarbeitende Industrie in der EU zeigt ein gemischtes Bild. Nach meiner Zeit im Dienstleistungssektor in einem Verlag und bei der Deutschen Bank trat ich 1990 in die Industrie ein.
Seither, also in den letzten 30 Jahren, ist der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt in den meisten entwickelten Volkswirtschaften deutlich zurückgegangen. Deutschland nimmt mit seiner Fertigungsindustrie, die gut 20 Prozent des BIP1 ausmacht, eine Ausnahmestellung ein. In vielen anderen Industrienationen wie Großbritannien und Frankreich steuert der Produktionssektor je nur rund zehn bis zwölf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei.
Länder wie China oder Indien, in denen sich Technologien, Fertigkeiten und Bildungsniveau unglaublich rasant weiterentwickeln, begnügen sich heute verständlicherweise nicht mehr mit „Billigproduktion“. Die Regierungen dieser Länder verstehen sich als Türöffner für die verarbeitende Industrie, und für junge Menschen ist eine berufliche Laufbahn in dieser erstrebenswert. Für uns in Europa ist es an der Zeit, an der Vision „Made in Europe“ verstärkt zu arbeiten.
Bei Mondi sind wir stolz auf unsere Wurzeln in der europäischen Produktionstradition. Ende der 1980er Jahre kaufte das südafrikanische Papierunternehmen Mondi die österreichische Neusiedler- und Frantschach-Gruppe und war danach noch immer nicht unter den Top 50 der globalen Verpackungs- und Papierunternehmen zu finden. Dank einer starken Expansionsstrategie, vor allem in Zentraleuropa und Russland, ist das seit 2007 in London und Johannesburg gelistete Unternehmen Mondi heute unter den Top 5 der Verpackungs- und Papierunternehmen weltweit, mit einer Börsenkapitalisierung von ca. 10 Milliarden Euro. In Deutschland ist Mondi als Anbieter von Weichverpackung, Folien, Wellpappeschachteln und Industriesäckeneines der führenden Verpackungsunternehmen mit elf Produktionsstandorten und erzielt am deutschen Markt ca. eine Milliarde Euro Umsatz. Welches Europa wünsche ich mir, und welche Bedeutung hat das für die Verpackungs- und Papierindustrie und damit auch für Mondi?
Ein Europa der Nachhaltigkeit
2018 war das Jahr der Wende für die Verpackungsindustrie: Die BBC-Bilder von im Meer schwimmenden Plastikverpackungen haben uns alle betroffen gemacht; dass Fische Mikroplastik enthalten, hat uns schockiert.
Was ist zu tun?
Zunächst: Wir werden weiter Verpackung brauchen, weil sie wesentlich dazu beiträgt, das Verderben von Lebensmitteln zu verhindern. Weltweit verdirbt circa ein Viertel aller Lebensmittel. In einer urbanen Gesellschaft kann man eben nicht in den Garten vor dem Haus gehen und seinen Salat fürs Mittagessen ernten. Insofern erzielt Verpackung einen wesentlichen ökologischen Wert zur Verringerung von Lebensmittelabfall.
Wir werden auch nicht von heute auf morgen auf Kunststoffverpackungen verzichten können, weil Kunststoff Barriereeigenschaften hat, die die Haltbarkeit von Lebensmitteln in den Regalen der Supermarktketten und bei uns im Kühlschrank verlängern – und damit Verderben verringern.
Aber es gibt viele Bereiche, wo Plastik durch Papier ersetzt werden kann. Papier ist nicht nur wiederverwertbar, sondern auch nachwachsend. Für Mondi als größtem weltweiten Hersteller von Kraftpapier und Industriesäcken ist dies eine gewaltige Chance. Unser Ziel ist es, Milliarden von Kunststofftragetaschen durch Papiertragetaschen zu ersetzen. Gartenmulch muss nicht im Plastiksack verpackt sein – unser Papiersack ist ebenso gut dafür geeignet und umweltverträglicher. Mondi produziert aber auch Kunststoffverpackungen, und ich werde immer wieder gefragt, ob wir das nicht aufgeben sollten.
Wir stehen zur Kunststoffverpackung unter zwei Prämissen:
Es sollte materialsparende Weichverpackung sein: Diese reduziert den Kunststoff gegenüber formstabilen Verpackungen um ca. 70 Prozent. Wer sein Shampoo oder das Geschirrspülmittel in einem Standbodenbeutel statt einer Kunststoffflasche verwendet, spart also 70 Prozent Plastik und damit viel Müll. Die zweite Prämisse ist die Recyclingfähigkeit: Wir haben 2018 den preisgekrönten, vollständig recycelbaren Kunststoffbeutel BarrierPack Recyclable auf den Markt gebracht und bereiten derzeit die Einführung einer Reihe von nachhaltigen Produkten, unsere EcoSolutions, vor.
Mondi lebt Nachhaltigkeit seit vielen Jahren: Wir haben unsere CO2-Emissionen pro Tonne Papier seit 2004 um 38 Prozent gesenkt. Zwei Drittel unseres Energieverbrauchs stammen aus erneuerbaren Energien. Was sich 2018 aber geändert hat und es zum „Jahr der Wende“ macht, ist, dass unsere Papierverpackungslösungen eine Reihe von Kunststoffverpackungen ersetzen werden und auch unsere Kunststoffverpackungen durch ihre Materialeinsparungen und Recyclingfähigkeit einen Beitrag leisten.
Ein digitales Europa
Die Digitalisierung wird einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Wirtschafts- und Sozialleben haben. Wir wissen, dass Europa hier weit hinter den USA und China hinterherhinkt, egal, ob es um Sprach- oder Gesichtserkennung, Clouds, Big Data oder Algorithmen geht: Hier sind gewaltige Anstrengungen notwendig.
War die Verpackungs- und Papierindustrie noch vor einigen Jahren als Lowtech angesehen, hat sich dies gewandelt: Wer zum Beispiel unser Werk in Steinfeld in Niedersachsen besucht, das größte Werk der Welt für Beutel für Trockentierfutter, wird eine Vielzahl modernster Roboter finden. Wir beschäftigen uns heute mit selbstlernenden Algorithmen für unsere Papier- und Verpackungsmaschinen und entwickeln App-Lösungen für unsere Produktionsmitarbeiter, um Stillstände und Ausschuss zu minimieren.
Unsere digitale Plattform MyMondi macht die Interaktion unserer Kunden mit uns einfach und serviceorientiert. Mondi sieht Digitalisierung ganz klar als einen der wichtigsten Wettbewerbsvorteile für die nächsten zehn Jahre und investiert entsprechend. Wir bauen gerade unser Digitalisierungsteam kräftig aus, und viele Bewerberinnen und Bewerber sind erstaunt, dass das in einer Branche erfolgt, wo sie es nicht erwartet hätten.
Weil ich Digitalisierung für so wichtig halte, war ich bereit, die Funktion des Präsidenten von fit4internet zu übernehmen, einer Initiative der österreichischen Regierung und Wirtschaft zur Förderung digitaler Kompetenzen in der Bevölkerung. Dabei wird der digitale Kompetenzrahmen der EU konkret mit Testmöglichkeiten und Schulungsangeboten umgesetzt, um die österreichische Bevölkerung digitalaffin zu machen. Wir brauchen Spitzenforscher, die die mathematischen Modelle und Algorithmen entwickeln, Unternehmer, die daraus kommerzielle Produkte erzeugen, und digital ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um all das anzuwenden und weiterzuentwickeln.
Digitalisierung ist für Europa und Deutschland eine Riesenchance: Zum einen werden Offshoring-Entscheidungen, also Produktionsverlagerungen von Europa/Deutschland in Niedrigkostenländer durch hohe Automatisierung und Digitalisierung zum Teil rückgängig gemacht werden oder nicht erfolgen. Ein Beispiel sind unsere Roboter in Steinfeld – ohne sie hätten wir einen Teil der Produktion verlagert. Zum anderen lässt die Digitalisierung vollkommen neue Geschäftsfelder entstehen, die viele Menschen beschäftigen werden.
Ein Europa, wo arbeiten Spaß macht
Fachkräfte sind Mangelware. Wir pflegen Partnerschaften mit Universitäten, um ambitionierte Studentinnen und Studenten Jobchancen in der modernen digitalen Fertigung aufzuzeigen. Das Entscheidende aber ist, eine Unternehmenskultur aufzubauen, die Menschen motiviert. Wir wollen eine inspirierende Mondi sein, die die Generationen X, Y und Z anspricht. Eine der drei Säulen unserer Vision heißt, »Arbeitgeber der Wahl« zu sein. Wir erreichen das, indem Menschen ihre Vorstellungen und Ideen verwirklichen können und Fehler erlaubt sind. Wir sind agil (wenn auch nicht immer).
Je mehr sich Digitalisierung verbreitet, umso wichtiger sind die Menschen. Digitalisierung wird „Roboter“ erschaffen, die spezifische Aufgaben exzellent lösen, viel besser als Menschen. Aber solange es keinen Allgemeinlogarithmus gibt – und ich glaube fest daran, dass es ihn nie geben wird –, so lange bleibt der Mensch im Zentrum. Bei Mondi haben wir ein Motto: „Dank Technologie arbeiten wir effizient, dank unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter intelligent.“ Dieses Leitmotiv ist ein zentraler Bestandteil unseres Selbstverständnisses.
Ein kooperatives und weltoffenes Europa
Die EU-Länder sind durch Kooperation und ihre Orientierung über Landesgrenzen hinweg gewachsen. Wir machen Geschäfte miteinander, transferieren Know-how und transportieren Güter ohne Einschränkungen auf dem gesamten Kontinent, arbeiten in einem rechtlichen und politischen Rahmen, der die Mobilitätsfreiheit von Menschen und Ideen möglich macht. Mit einheitlichen Vorschriften und Gesetzen konnten Handelshemmnisse zwischen den EU-Staaten abgebaut werden. Diese Offenheit erfordert aber auch eine durchdachte Zuwanderungspolitik, die das Wertesystem und die gesellschaftlichen Errungenschaften Europas schützt.
Wenn ich in unserem Büro in Wien mit dem Aufzug fahre, höre ich Sprachen aus aller Welt. Meine 600 Kolleginnen und Kollegen an diesem Standort kommen aus 40 verschiedenen Ländern – aber 400 sind Österreicherinnen und Österreicher. Wir bieten also hochwertige Arbeitsplätze für den Standort Wien, aber gleichzeitig haben wir die Vielfalt, die uns stark, widerstandsfähig und kreativ macht. Mondi lebt Diversität und Inklusion. Darauf bin ich wirklich stolz.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Peter Oswald:
Peter Oswald, geboren 1962 in Oberösterreich, studierte Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaften an der Uni Wien. Nach Stationen beim Motorradhersteller KTM und der Deutschen Bank trat er 1992 in die Mondi Gruppe ein. Im Jahr 2002 wurde er zum CEO Mondi Packaging ernannt. Nach dem Börsengang der Mondi Gruppe berief man ihn 2008 in die Mondi Group Boards (UK, Südafrika) als CEO Mondi Europe & International Division, die alle Bereiche der ehemaligen Mondi Packaging und Mondi Business Papier außerhalb Afrikas umfasste. Seit Mai 2017 ist Oswald Chief Executive Officer der Mondi Gruppe. 2013 wurde er in der Papierindustrie zum European und Global CEO of the Year gewählt. 2015/16 war er Aufsichtsratsvorsitzender des österreichischen Ölunternehmens OMV. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.